Schwerpunkt – Hoffnung 04. Aug 2025

Hoffnung als Seinswerdung

Der Zukunkftsforscher Robert Jungk mit seiner Ehefrau Ruth Suschitzky und seinem Sohn Peter Stephan Jungk.

Der Sohn eines Zukunftsforschers ringt mit der Zuversicht seines Vaters und findet sie selbst nicht – eine Annäherung an das Innenleben einer ganzen Generation.

Meine Zuversichtsmetapher ist die eines Wohnhauses mit mehreren Stockwerken. Jede Etage entspricht einer Zukunftsperspektive und ihren «Angehörigen». Ganz oben leben die privaten Hoffnungen, sind Gesundheit, Liebe, Freundschaften, Berufsleben angesiedelt. Im mittleren Geschoss residieren die Wissenschaften, die medizinischen Fortschritte, die technischen Errungenschaften. Das Parterre ist für die Hoffnungen auf einen Frieden auf Erden, der Keller für die Aussichten auf eine Beruhigung der Klimakrise vorgesehen. Während die beiden Obergeschosse kaum noch einige Kubikzentimeter Platz bieten – sie sind absolut überbelegt, sie platzen aus den Nähten –, stehen Erdgeschoss und Keller gespenstisch leer. Vakuumleer. Ebenfalls hoffnungslos und bodenlos vakant ist ein zweites Kellergeschoss, für die globale Antisemitismusbekämpfung sowie die weltweite Demokratiebewahrung gedacht.

Lichtlicke?
Ich erkenne keinen Funken Lichtblick, wenn mich Freunde und Fremde nach meiner persönlichen Hoffnung auf Frieden befragen, man mich bittet, meine Einschätzung der Weltlage kundzutun. Ich zwinge mich zuweilen, mir Lichtsplitter herbeizuzaubern. Dann blitzen sie Nanosekunden lang auf, bevor sie wieder schwinden. Verschwunden bleiben, oft wochen-, monatelang.

Aufgewachsen als behütetes Einzelkind, wurde mir von meinen Eltern das Blaue vom Himmel versprochen – und ich vertraute ihnen. Ich erlebte eine geradezu paradiesische Kindheit. Glaubte ihnen ungefähr bis zum siebzehnten Lebensjahr: Da kam es zu ersten Panikattacken, ersten Depressionen. Und zu Angstzuständen, die so intensiv waren, dass ich es für möglich hielt, in eine Nervenklinik eingeliefert werden zu müssen. Mein Vater, der Sachbuchautor, Journalist, Zukunftsforscher Robert Jungk, mit meinen Zuständen konfrontiert, konnte mir nicht helfen: «Ich habe so etwas nie im Leben gekannt. Ich weiss ja nicht einmal, was Depressionen sind.»

Blochs Hoffnung
Der einzige Mensch, der mir damals in meiner grossen privaten Not Hoffnung gab, war der deutsch-jüdische Philosoph Ernst Bloch, dessen Hauptwerk, «Das Prinzip Hoffnung» die Grundrisse einer besseren Welt zu entwerfen suchte. Ich kannte ihn, er war ein Freund meines Vaters. Als Neunzehnjähriger hatte ich das Glück, ihm erstmals unter vier Augen gegenüber zu sitzen, im Tiroler Bergdorf Alpbach. Erzählte ihm von meiner unerträglichen seelischen Verfassung, die er zu meiner grossen Erleichterung aus eigener Erfahrung gut kannte. Das tat mir unendlich wohl. Er sagte: «Deine Anfälle sind definitiv ernst zu nehmen. Aber ich versichere dir: Sie sind temporärer Natur. Sie führen nicht in den Wahnsinn. Du wirst nicht in der Nervenheilanstalt enden, glaube mir. Schenke mir deinen Glauben.»

Robert Jungk verkörperte gleichsam das Prinzip Hoffnung. Er versuchte, sein Leben lang, mir sein Credo weiterzugeben. Er sah im jüdischen Messianismus, den Martin Buber ihm in seinen Jugendjahren nahegebracht hatte, einen hoffnungsvollen Impuls – nicht bloss als utopische Verheissung für irgendwann, sondern als Aufforderung, im Hier und Heute Veränderung herbeizuführen. Aber je hoffnungsvoller Vater auftrat, desto düsterer sah ich die Welt, auf die wir zusteuerten. Es tat ihm sichtlich weh, dass ausgerechnet sein einziger Sohn so besorgt, so pessimistisch in die Zukunft blickte. Er, der in Interviews, Vorträgen, auf Konferenzen, in seinen Büchern immer und immer wieder eine hellere Zeit vorhersah, bis ganz zum Schluss, bis zu seinem Schlaganfall mit achtzig Jahren und bis zu seinem Tod 1994, musste erleben, dass der ihm wohl nächste Mensch, von meiner Mutter abgesehen, seinem unerschütterlichen Glauben nicht folgen konnte, seine Hoffnungsbotschaften gar mit Unkenrufen konterte.

Er zitierte nicht selten den Physiker Leo Szilard, den er gut kannte, und der Einstein seinerzeit dazu überredet hatte, den Brief an Franklin D. Roosevelt zu schreiben, man müsse eine Atombombe bauen, um den Deutschen zuvorzukommen. Szilard sagte meinem Vater, nicht lange vor seinem Tod 1964: «85 Prozent Wahrscheinlichkeit sprechen dafür, dass wir die nächsten hundert Jahre nicht überleben. Aber ich lebe und ich kämpfe für die restlichen 15 Prozent.»

Robert Jungks Leitspruch im Zeitalter der menschenmöglichen Apokalypse lautete, in Abwandlung von René Descartes «cogito ergo sum»: «Ich hoffe, denn nur dann werde ich sein.» Beweisbar oder gar gesichert sei diese Erwartung nicht, räumte er ein, denn vieles, sogar fast alles spreche gegen ihre Erfüllung. «Soll ich also von ihr lassen, weil sie mich schon so oft betrogen hat?», fragte er in einem seiner tausend Essays. «Muss ich auf sie verzichten, sie als Illusion, als Ablenkung, als Irreführung wegwerfen?»

Gegen das Unerträgliche
Naiv war mein Vater nämlich keineswegs, er beschrieb in seinem 1983 erschienenen Werk «Menschenbeben. Der Aufstand gegen das Unerträgliche» sogar sein kritisch gestimmtes anderes Ich, das ihm stets zuraune und dem er den Namen «Mister S.» verlieh: «S für Skepsis, S für Skrupel, S für Schwarzseher. Sobald ich mich begeistere, flüstert er mir zu: Nüchtern bleiben! Will ich mich an einer Hoffnung hochziehen, hängt er sich mit seinem verfluchten Gewicht an meine Füsse, beginne ich zu träumen, sticht er in die Seifenblasen, und schon hängen da nur noch ein paar armselige Tröpfchen.» Er antwortete seinem „Mister S.» stets mit einem Ausspruch des amerikanischen Dichters Theodore Roethke: «In a dark time, the eye begins to see» («In dunklen Zeiten beginnt das Auge zu sehen»). Er empfand das nicht bloss als einen schönen Spruch, diese Grundhaltung entsprach vielmehr seiner persönlichen Erfahrung. Trotz Emigration. Trotz der Ermordung so zahlreicher seiner Verwandter während der Schoah. Trotz Korea-, Vietnam- und Kaltem Krieg. Trotz der Niederschlagung des Prager Frühlings im Sommer 1968 und der wachsenden Repression jenseits des Eisernen Vorhangs.

Mein Vater war für seine Bücher «Der Jahrtausendmensch» und «Menschenbeben» auf weltweite Suche nach jenen Kräften gegangen, die auf eine Umkehr der Verhältnisse hinarbeiteten – und wurde überraschend fündig: Er traf Individuen an, die sich von den Machtsystemen nicht länger einschüchtern liessen, entdeckte Anzeichen für eine mögliche «Rettung» aus der grossen Not. Er schrieb in der Einführung zu «Menschenbeben»: «Jetzt, da ich diesen Erfahrungsbericht niederschreibe, bin ich trotz mancher Enttäuschungen zuversichtlicher als zu Beginn meiner ‹Expedition›. Die sich so stark geben, sind in Wahrheit schwächer als sie auftreten, und diejenigen, die meinen, sie seien zur Ohnmacht verurteilt, sind stärker als sie vermuten. Die Mächtigen von heute sind geplagt von inneren Widersprüchen, verwirrt durch Irrtümer, tief verunsichert von nagenden Zweifeln.» Die an zahlreichen Orten unternommenen Versuche, mit neuen Vorstellungen und Werten zu leben, wären demnach nicht zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Jeder von ihnen, obwohl klein und schwach, könne Entwicklungen in Gang setzen, hoffte er, die sich innerhalb unseres instabilen Weltgefüges so sehr verstärkten, dass dem leisen Anstoss eine gewaltige Erschütterung folge, die zu grundlegenden Veränderungen führe.

Doch ich glaubte ihm nicht. Erinnere mich an ein Fernsehporträt, das ein deutsches Filmteam in den späten 1980er Jahren über Robert Jungk drehte. Die Regisseure baten mich, mit meinem Vater vor der Kamera ein Gespräch zu führen. Wir sassen im prachtvollen Garten der Salzburger Wohnung meiner Eltern, aufgeblühte rote Rosenbüsche rund um uns herum, und sprachen über den Zustand der Welt. Zu jener Zeit geprägt von Bürgerkriegen in Mittelamerika, von Kriegen in Afghanistan und zwischen dem Iran und dem Irak; ich wies auf alle Katastrophen hin, die mir in den Sinn kamen, auch auf die wachsende Aids-Gefahr, während mein Vater die beginnende Perestroika unter Michail Gorbatschow hervorhob, die erstaunliche Offenheit des Systems, vom Begriff Glasnost gekennzeichnet. Er wies auf die riesigen Friedensdemonstrationen in Westeuropa und den USA hin, die sich gegen die NATO-Nachrüstung und das wachsende Atomwaffenarsenal wandten und vielen Menschen das Gefühl gaben, dass der Druck «von unten» tatsächlich etwas verändern konnte. Ich konterte: Das alles werde die Welt nicht verbessern, uns vor dem sicheren Untergang nicht retten. Mein Vater war an diesem Abend, nach Ende der Dreharbeit, besonders traurig: «Wie kannst du so denken? Wo kommt dieser schreckliche Pessimismus her?» Zu seiner Erleichterung blieb nur ein Bruchteil unseres Zwiegesprächs im fertiggestellten Film erhalten.

Von Generation zu Generation
Erst nach Robert Jungks Tod begann ich, der Zuversicht grösseren Raum zuzugestehen, mit Sicherheit dem Umstand geschuldet, dass unsere Tochter zur Welt gekommen war. Vater konnte Adahs Erscheinen – trotz seines erschütternd reduzierten Zustandes – noch im letzten Lebensmoment bewusst erfahren. Wer ein Kind in die Welt setzt, wird der Zukunft viel eher mit einem gewissen Vertrauen entgegensehen. Muss man denn seinen Nachkommen nicht das Gefühl vermitteln, ihr Leben werde sich in einem friedlichen, von Katastrophen aller Art beschützten Umfeld entfalten, allen Widerständen zum Trotz? Und so versuchten wir, meine Frau und ich, Adah zu einer hoffnungsvollen Persönlichkeit zu erziehen. Ist es uns geglückt? Nur bedingt, denn auch in ihrem «Wohnhaus mit mehreren Stockwerken» stehen sowohl das Erdgeschoss als auch die beiden Kellerräume gähnend leer. Mich erstaunt jedoch ihr grosses Interesse für die Schriften und Überzeugungen ihres Grossvaters. Eine Art «Zusammenarbeit» über Generationen hinweg ist da im Entstehen, denn als Musikerin setzt sie sich nicht selten mit den Ideen ihres Vorfahren auseinander. Ihr Song «Future Shock» legt neben anderen ihrer Kompositionen davon Zeugnis ab. Darüber hinaus plant sie einen Dokumentarfilm, der mit den Ideen Robert Jungks einen Dialog aufnimmt – und auf drei Kontinenten der Frage nachgehen wird, wo heute Ansätze zu ermutigenden Signalen existieren. Wobei Adah den Schwerpunkt auf die Künste legen will, insbesondere auf die Musik: In welcher Form können schöpferische Kräfte unsere Zukunft positiv beeinflussen?

Mitleidiges Kopfschütteln
Ich begann in letzter Zeit, mich in meinem Bekannten- und Freundeskreis umzuhören: «Haben Sie, hast Du Hoffnung?» Das Ergebnis war bestürzend: Ich erntete nur mitleidiges Kopfschütteln über ein so hoffnungsloses Ansinnen. Im besten Falle wies man mich auf die hervorragenden Fortschritte in der Medizin, in der Wissenschaft hin, mithin auf den von mir als «mittleres Geschoss» empfundenen Bereich. Ich stellte die Frage last not least der Künstlichen Intelligenz, die manche von uns als durchaus positive, andere als katastrophal gefährliche technische Errungenschaft einschätzen. Ihre Antwort lautete: «Auch in sozialen Bewegungen, Nachbarschaften, in stillen, oft unsichtbaren Netzwerken zwischen Menschen blitzen immer wieder Hoffnungslichter auf. Dort, wo Menschen füreinander sorgen — nicht für Schlagzeilen, sondern für einander. Das kann eine Schule sein, eine kleine Kulturinitiative, ein Literaturkreis, ein Projekt für Geflüchtete. Es sind fragile Orte — und doch tragen sie mehr zur Zukunft bei als man vermutet.» Das klingt so, als habe die KI von Robert Jungks ‹Menschenbeben› abgeschrieben.

Vor ein paar Tagen besuchte ich meinen Freund, den Dokumentarfilmer und Schriftsteller Georg Stefan Troller, der dieses Jahr seinen 104. Geburtstag feiern wird. Seine Antwort war kurz und bündig: «Ich hoffe auf einen sanften Tod.» Alles andere interessiere ihn nicht mehr wirklich. Er überblättere in den Zeitungen und Zeitschriften alles, was ihn früher bewegt, gar auf die Barrikaden gebracht hätte. Aber er gab mir einen Satz mit auf den Weg, wusste nicht mehr, wo er ihn im Lauf seines langen Lebens aufgeschnappt hatte: «Wer nicht hofft, sieht nur das Endliche; wer hofft, ahnt das Ewige.»

Der Schriftsteller Peter Stephan Jungk lebt in Paris.

Peter Stephan Jungk