Fokus 04. Aug 2025

Höllentore und Versöhnung

Kampfbereit: Das Standbild von Oberst William Prescott am Schlachtfeld von Bunker Hill in Charlestown, Massachusetts.

Ein Besuch in Boston führt zum Ausbruch des amerikanischen Freiheitskrieges gegen die britische Monarchie vor 250 Jahren. Denn selten schien die Frage dringender: Kann der Geist der Gründerväter die amerikanische Demokratie retten?

«Wird er kämpfen?» «Zu seiner Truppe kann ich nichts sagen. Aber Oberst Prescott wird Sie bis zu den Toren der Hölle bekämpfen.» Der Wortwechsel zwischen Sir Thomas Gage und dem Loyalisten Abijah Willard am 17. Juni 1775 gehört zum Gründungsmythos der Vereinigten Staaten von Amerika. Der britische General hatte im Konflikt 1754–63 gegen die damals noch in Kanada herrschenden Franzosen gedient. Anschliessend ernannte ihn König George III zum Oberkommandeur seiner Streitkräfte in den dreizehn Kolonien und im Mai 1774 obendrein zum Gouverneur von Massachusetts. Gage sollte in Boston die eskalierenden Spannungen mit den Kolonisten beilegen. Erfolg war ihm dabei nicht beschieden. Im April 1775 hatten Milizen aus der Region nach ersten Gefechten mit britischen Einheiten westlich der Stadt bei Lexington und Concord einen Belagerungsgürtel um Boston gezogen.

Schauplatz der Schlacht
Nun stand der Adlige in der Mittagshitze auf dem Copp's Hill am Nordende von Boston neben Willard. Der königstreue Kaufmann war der Schwager von William Prescott (1726–1795). Auf dem Hügel lag ein Friedhof, dort stellten die Briten Geschütze auf. Denn durch einen schmalen Meeresarm getrennt, hatten etwa 1200 Kolonisten unter Prescotts Kommando neben dem Städtchen Charlestown am Abend des 16. Juni direkt gegenüber die Anhöhe Breed's Hill besetzt. Milizionäre aus Massachusetts, aber auch den Nachbarkolonien Connecticut, New Hampshire und Rhode Island hoben hastig eine Schanze aus Erde und Feldsteinen aus und schleppten Kanonen heran: eine direkte Bedrohung für die Briten in Boston. Gage hatte keine andere Wahl, als die Bastion angreifen zu lassen. So wurde die Halbinsel von Charlestown am Nachmittag des 17. Juni 1775 Schauplatz der «Schlacht von Bunker Hill».

250 Jahre später stellt Thomas Paine an einem heissen Junitag bei einem Besuch an den historischen Stätten zunächst ein altes Missverständnis klar: Prescott sollte ursprünglich den 1500 Meter hinter Breed's Hill liegenden Bunker's Hill besetzen. Er führte seinen Auftrag indessen, möglicherweise aufgrund der Dunkelheit versehentlich, nicht aus. Womöglich hielt Prescott eine Stellung in Ufernähe aber auch für militärisch klüger. Jedenfalls ging die folgende Konfrontation nicht als «Battle of Breed's Hill» in die Geschichte ein.

Mitte 70, schlank und hochgewachsen, ist Paine ein idealer Führer nicht allein für Boston und Umgebung. Der Landschaftsarchitekt entpuppt sich als Glücksfall für die Suche nach Antworten auf ebenso simple wie schwierige Fragen: Wie wurde aus der Unzufriedenheit von Kolonisten ein blutiger, langwieriger Befreiungskampf gegen die Briten? Unruhen hatten nach dem Ende des in Europa als «Siebenjähriger Krieg» bekannten Konflikts 1763 in Boston und Neuengland begonnen. Welche Motive und Ideale trieben die Aufständischen? Und was davon bleibt fruchtbar in der zweiten Trump-Ära, der in Windeseile die vor 250 Jahren erkämpften Freiheiten, Rechte und Institutionen niederreisst?

Neue Welt
Paine spürt diese Fragen nicht zuletzt deshalb nach, weil die Geschichte hier auch seine eigene ist, also die seiner Vorfahren und Verwandtschaft. Seine Wurzeln gehen zurück auf die Landung der «Pilgerväter» am heutigen Cape Cod mit der «Mayflower» im November 1620. Mit Stephen Hopkins war sein Ahn an Bord sogar der einzige, der zuvor in der Neuen Welt gewesen war und nach einem Schiffbruch auf Bermuda 1609 in der Kolonie Jamestown, Virginia, gelebt hatte. Zu den Vorfahren zählt nicht zuletzt Robert Treat Paine (1731–1814) und damit einer der 56 Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776: «Aber insgesamt haben 19 Angehörige auf beiden Elternseiten am Befreiungskrieg teilgenommen, davon 13 in Uniform. Ein Milizionär namens RichardFowler war bei Bunker Hill dabei».

Paine hält die Werte und Ideale der Vorfahren hoch: eine Gesellschaft, die auf den in der Verfassung festgeschriebenen Freiheiten und Rechten, der Gewaltenteilung wie auch Bildung und Gemeinschaftsinn sowie Schutz und Hilfe für Benachteiligte und Minderheiten basiert. Dass er die aktuelle Präsidentschaft für eine Kata-strophe und existentielle Bedrohung der vor 250 Jahren erkämpften Ordnung hält, wird rasch deutlich. Dazu zählt Paine auch die Attacken auf die Harvard University; er selbst hat wie viele Vorfahren dort studiert. Mit dem Pastor Samuel Willard war der Urgrossvater von Robert Treat Paine 1701–07 amtierender Präsident der 1639 gegründeten Universität. Paines Vorfahren und Verwandte haben auf mannigfache Weise an der Gestaltung der Kolonien und dann der USA mitgewirkt, in neueren Generationen auch als Philanthropen. Er selbst hat die nachgelassenen Schriften des Gründervaters Paine mit herausgegeben; auch ist er für die Massachusetts Historical Society und in der Pflege des 1883–86 von dem Architekten H.H. Richardson und dem Landschaftsarchitekten Frederick Law Olmsted für den Philanthropen Robert Treat Paine 2nd erbauten einstigen Familienlandsitzes Stonehurst ausserhalb von Boston engagiert.

Notwendige Vorstellungskraft
Nicht zuletzt aber schreibt er an einem Buch über zehn Vorfahren: «Das soll vor allem einem an unserer Geschichte interessierten und um unsere Zukunft besorgten Publikum verstehen helfen, was Amerika tatsächlich gross gemacht hat. Dazu gehört der persönliche Mut und die notwendige Vorstellungskraft, um Herausforderungen in verschiedenen Epochen gewachsen zu sein. Ganz wichtig ist mir als Tugend jedoch persönlicher Anstand. Ich sehe diese Ahnen als intellektuelle Vorfahren von uns allen.»

Der Landschaftsarchitekt ist indes nicht verwandt mit dem historischen Thomas Paine (1737–1809). Der Quäker und Freigeist war erst 1774 aus England in die Kolonien ausgewandert und blieb kinderlos. Sein Pamphlet «Common Sense» vom Januar 1776 – und damit ein halbes Jahr nach Bunker Hill – gilt als auflagenstärkster Text der amerikanischen Geschichte und hatte als Argumentationshilfe gegen die Monarchie und Vorlage für eine republikanische Staatsordnung enormen Einfluss auf den Verlauf der Revolution und die Gründung der USA. Paine ist die Verwechslung gewohnt: «Meine Eltern haben den Pamphletisten bewundert und mich nach ihm benannt». Es erschien daher nur folgerichtig, an diesem heissen Junitag auch auf «Common Sense» zurückzukommen. Denn der lebende und der historische Thomas Paine sollen nicht über den gesamten Freiheitskrieg inklusive der Debatten um die Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 und dann der Verfassung Auskunft geben, sondern allein über dessen Beginn vom Frühjahr 1775 bis zum Abzug der Briten aus dem belagerten Boston im folgenden März. Hier liegen Wurzeln für spätere Krisen der USA – vor denen bereits «Common Sense» gewarnt hat.

Bruch mit dem Mutterland
Bereits im Juli 1775 war George Washington als Oberbefehlshaber der Aufständischen vor der Stadt eingetroffen. Diese bezeichneten sich nun immer häufiger als «Amerikaner» – und nicht mehr als britische Untertanen. Dabei lag ein Bruch mit dem Mutterland zumindest bei Neuengland in der Wiege. Über die Hälfte der 102 Passagiere der «Mayflower» waren radikale Kritiker der anglikanischen Staatskirche und bezeichneten sich als «Separatisten». Ihr Modell war der biblische Exodus des Volkes Israel aus Ägypten. Bei ihrer Landung beschlossen die calvinistischen Sektierer mit den übrigen Passagieren den «Mayflower Compact» und damit den Rahmen einer «bürgerlich geordneten Gesellschaft; mit dem Zweck, uns besser zu organisieren, zu schützen…» Dazu sollten «gerechte und gleiche Gesetze, Verordnungen, Erlasse, Verfassungen und Ämter… für das Gemeinwohl der Kolonie» dienen, der sich alle Mitglieder «pflichtgemäss unterwerfen.» Die so etablierte Eigenständigkeit wurde nicht allein in einer weitgehenden Selbstverwaltung gepflegt, sondern auch in Bildungsinstitutionen. Deren bedeutendste wurde – und bleibt – Harvard.

Bildung von Klerikern
Hier bringt Paine seine Ahnin Anne Hutchinson ins Spiel: Die bibelfeste Hebamme agitierte gegen die Orthodoxie der Puritaner in Boston und für eine eigene, unmittelbare Interpretation der Heiligen Schrift. Hutchinson demonstrierte in Debatten und dann auch Häresie-Prozessen gegen sie Unbeugsamkeit und forderte das männliche Establishment mit ihrem scharfen Verstand derart heraus, dass sie und Anhänger schliesslich im März 1638 ins Exil getrieben wurden. Die kleine Gruppe gründete eine eigene Kolonie in Rhode Island. Paine teilt die Vermutung von Historikern, wonach die Erfahrung mit Hutchinson lokale Eliten dazu bewegte, ohnehin diskutierte Pläne zur Gründung einer akademischen Einrichtung als Bollwerk der religiösen Orthodoxie auszuführen. Bibelstudium und die Bildung von Klerikern blieben über Generationen Eckpfeiler des Harvard-Curriculums. Allmählich verlegte die Universität den Schwerpunkt auf Geistes- und Naturwissenschaften – und übernahm auch damit eine Pionierrolle. 1775 war Harvard daher bereits eine sehr alte Establishment-Institution – aber eben von Gebildeten, die immer stärker auf Eigenständigkeit gegenüber dem fernen Mutterland pochten und dann ihrerseits zu Rebellen wurden. Von hier führt ein direkter Pfad zu Bunker Hill.

Auch «Common Sense» argumentiert auf Grundlage der Bibel – vor allem mit dem Alten Testament und der Geschichte des Volkes Israel. Der Text erscheint allerdings als spannende Mixtur aus praktischen und theoretischen Überlegungen. Anhand von König Samuel will Paine nachweisen, dass eine erbliche Monarchie eigentlich eine Verirrung und sogar eine Sünde darstellt. Er argumentiert aber auch sehr pragmatisch: Denn dank der Partizipation von Milizen im Kampf gegen Indianer und Franzosen seien die Kolonien nun «kriegsgeübt». Doch diese Fähigkeiten könnten in einigen Jahren verklungen sein. Eine bewaffnete Revolte gegen die Monarchie hätte also jetzt realistische Erfolgsaussichten und sei von daher dringend geboten. Paine sah sich darin von Bunker Hill bestätigt. Damit stand er keineswegs allein.

In Gewalt geübt
Grundsätzlich gilt jedoch festzustellen, dass die Kolonien von Anfang an nur mit effektiv organisierter Gewalt – gegen Ureinwohner und in Neuengland bald auch die Franzosen – etabliert werden und überleben konnten. Diese Gesellschaft war daher in Gewalt geübt – und dazu auch bereit. Bereits Paine beschwor die Gefahr, dass diese Aggressivität nach innen drehen konnte: Angesichts der eskalierenden Spannungen mit London könnte ein «Mob» revoltieren und Mord und Chaos säen. Und gerade Boston wurde seit 1763 Schauplatz zunehmender Mob-Gewalt. Natürlich gingen Differenzen über die Zukunft der Kolonien auch durch zahllose Familien, wie das Beispiel von Prescott und Willard zeigt.

«Common Sense» argumentierte daher für einen von gebildeten Eliten geführten Bruch mit England zur Errichtung einer unabhängigen Republik als neuer Ordnung. Eben diese Rolle übernahmen Gründerväter wie Robert Treat Paine. Sein Nachfahr hat dessen Biographie für sein Buchprojekt recherchiert. Paine entstammte zwar der neuenglischen Elite, er war aber auch ein Selfmademan, dessen Vater das Vermögen der Familie in missglückten Geschäften verloren hatte. Der jungePaine studierte als Teenager an Harvard, fuhr dann zur See, scheiterte selbst mehrfach als Unternehmer, nahm als Geistlicher an einer Kampagne gegen die Franzosen teil und wurde schliesslich als Anwalt in Taunton, Massachusetts, und später Boston erfolgreich: eine sehr amerikanische Biographie. Er galt als moderat, hatte pedantische Züge und ging 1775/6 mit endlosen Bedenken anderen Teilnehmern am «Kontinentalen Kongress» der rebellischen Kolonien in Philadelphia gehörig auf die Nerven. Aber Paine hatte wohl auch Humor, Verstand und den Mut, 1770 als Ankläger im Prozess um das «Boston Massaker» aufzutreten. Im Revolutionskrieg brachte er seine praktischen Talente ein und wurde für Waffen und Munition zuständig – die Beschaffung von Salpeter brachte besondere Herausforderungen. Laut seinem Nachkommen darf er während seiner späteren Tätigkeit als Justizminister von Massachusetts auch als Erfinder der traditionellen Feuerwerke am 4. Juli gelten.

Offizier und Friseur
In dem «Massaker» gipfelten schon 1763 einsetzende Spannungen. Durch die horrenden Kriegskosten sah sich London zur unilateralen Erhebung von Gebühren und Zöllen genötigt («Sugar Act», 1764; «Stamp Act», 1765). Parlament und König reagierten auf Proteste der Kolonien mit weiteren Zöllen und 1768 mit der Entsendung von zunächst 2000 Soldaten nach Boston. Diese wurden ungefragt bei Familien oder in requirierten Gebäuden einquartiert: das perfekte Rezept für eine Eskalationsspirale. So führte an einem Wintertag im März 1770 eine Konfrontation um eine angeblich nicht bezahlte Friseurrechnung eines Offiziers zu einem Strassenkrawall, bei dem eine britische Patrouille das Feuer eröffnete und fünf Bostonians erschoss. Paine trat als Ankläger auf, während mit John Adams ein weiterer zukünftiger Gründervater die Verteidigung übernahm – und dabei auch erfolgreich war. Paine und Adams kannten einander gut und waren sich in der Absicht einig, mit einem ordentlichen Verfahren auch die Verpflichtung der Kolonisten auf Recht und Ordnung zu demonstrieren.

Gleichwohl nahmen Unruhen und Gewalt etwa in der grausamen Form von Teeren und Federn eines Zollbeamten weiter zu und wurden von verdeckt operierenden Agitatoren wie den «Sons of Liberty» geschürt. Zu der Empörung über ohne Repräsentation – im Parlament zu London – erhobene Steuern kamen Eigeninteressen von Kaufleuten, aber auch Schmugglern. Als Mohawk-Ureinwohner kostümiert, zettelten die «Sons of Liberty» am 16. Dezember 1773 die «Boston Tea Party» an und warfen 342 Kisten mit 40 Tonnen Tee von Schiffen der British East India Company über Bord. London reagierte mit der Schliessung des Hafens Boston und weiteren Repressalien. Auch für kühlere Köpfe wie Robert Treat Paine war damit das Ende der Fahnenstange erreicht. Aus seinem Nachlass geht hervor, dass der Jurist von dem «natürlichen Recht» der Kolonisten als «freie Untertanen» überzeugt war, sich gegen «hastig getroffene Entscheidungen auf der anderen Seite des Empire über ihre Besteuerung» zu wehren: Damit hätten sie «das Recht» auf ihrer Seite.

Tausende Milizionäre
Nachdem Gage im April 1775 Truppen aussandte, um Pulverbestände und Kanonen von Milizen zu beschlagnahmen, gab es dann wirklich kein Zurück mehr. Oft von Veteranen aus dem Siebenjährigen Krieg geführt, leisteten Milizionäre bei Lexington und Concord effektiv Widerstand. Der erste dabei gefallene «Schuss hallte um die ganze Welt» – so das Gedicht «Concord Hymn» von Ralph Waldo Emerson aus dem Jahr 1837 – und rief tausende von Milizionären aus ganz Neuengland auf den Plan. Wie Nathaniel Philbrick in seiner exzellenten Studie «Bunker Hill» beschreibt, brachten diese Landsleute keine Harvard-Erziehung mit und hatten über Slogans wie «natürliche Rechte» hinaus kaum eine Ahnung von den Ideen und Debatten der Aufklärung. Aber sie waren gewaltgeübt und nun auch entschlossen zu deren Anwendung gegen die Briten in Boston: Widerwille gegen ein starres, autoritäres Regime; Stolz auf ihre Ehre und Eigenständigkeit als Pioniere und Kämpfer; aber auch ein lokaler Korpsgeist und Hunger nach Vergeltung müssen hier zusammengeflossen sein.

Auch dafür steht Prescott. Der wohlhabende Landwirt aus dem Norden von Massachusetts hatte seit jungen Jahren militärische Erfahrung gesammelt und sich gegen die Franzosen als ebenso geschickter wie mutiger Kommandeur einer Milizeinheit aus seiner Region erwiesen. Prescott war zudem Befehlshaber von lokalen «Minute Men», seit Generationen besonders gut geschulte und etwa bei Angriffen von Ureinwohnern sofort einsatzbereite Milizkommandos. Er brachte daher eine Kompetenz, aber auch ein Charisma mit, das seiner bunt gemischten und teilweise jungen, unerfahrenen Truppe Vertrauen einflösste. Prescott wusste aber auch, mit wem es die Rebellen zu tun bekommen würden. Denn Gage liess Eliteregimenter wie die Erste Marineinfanterie und die Royal Welch Fusiliers in Ruderbooten auf die Charlestown-Halbinsel übersetzen.

Diese brachten im Gegensatz zu landläufigen Vorstellungen nicht allein eine hohe Kampfmoral mit, sie operierten im Gefecht nicht wie hirnlose Zinnsoldaten, sondern flexibel und eigenständig. Aber einige hundert «Colonials» gaben die Bastion erst nach drei Attacken der insgesamt 2400 Briten auf, als ihnen die ohnehin knappe Munition ausging. Prescotts legendäres Kommando: «Feuert erst, wenn ihr das Weisse in Ihren Augen seht» – also auf eine Distanz von 35 bis 40 Metern – trug diesem Notstand Rechnung. «Auch Bajonette hatten nur die wenigsten. Am Schluss kämpften sie mit Gewehrkolben und Steinen gegen die Briten», konstatiert Paine: «Und sie haben sich dann auch noch kämpfend zurückgezogen – das schwierigste Manöver in der Kriegsführung.» Vom Widerstand erbittert, machten die Briten beim Sturm auf die Bastion auch Verletzte nieder und nahmen keine Gefangenen. Die Rebellen verloren 115 Mann, dazu kamen etwa 330 Verletzte oder Gefangene. Doch je nach Schätzungen fiel bis zur Hälfte der Briten oder wurde verletzt. Abijah Willard hatte Recht behalten. Auf dem Hügel hatten sich die Höllenpforten aufgetan. Der britische General William Howe verstand: «Dieser Sieg war zu teuer erkauft.» So sah auch Brigadegeneral Nathaniel Greene die Schlacht, einer der besten Offiziere Washingtons: «Für diesen Preis würde ich den Briten gern noch weitere Hügel verkaufen.»


Harmonie mit dem Monument
Nun zitiert Thomas Paine den Spruch. Wir stehen vor der Bronzestatue von Oberst Prescott neben dem 67 Meter hohen Obelisken aus massiven Granitblöcken, der 1825–1843 auf dem Schlachtfeld errichtet wurde. Den Kopf leicht gesenkt, hat Prescott einen Degen in Richtung von Gage gezückt. Hinter ihm liegen eine Schaufel und eine Spitzhacke auf dem Sockel. Paine hat das Standbild von Prescott Dutzende Male fotografiert: «Mich fesseln die Linien seines Mantels, die so harmonisch mit dem Monument dahinter übereinstimmen.» Dann folgen wir Prescotts Blick hinüber zum 1659 angelegten Friedhof auf Copp's Hill. Dort schreitet Paine zielstrebig durch Scharen von Touristen zu zwei Grabmalen aus Basalt von 1769 und 1770. Hier ruhen der Kapitän Daniel Malcolm und seine Frau Ann. Die brust- und hüfthohen Platten tragen runde Einschläge: «Die Briten haben nur diese Steine zur Zeit von Bunker Hill als Zielscheibe benutzt», erklärt Paine. Beide Platten zeigen gekreuzte Knochen und Totenschädel am oberen Ende – und Treffer genau in deren Augenhöhlen. Paine ist bewegt: «Da können Sie den damaligen Hass sehen!» Denn wie der Grabstein sagt, war Malcolm ein «Son of Liberty» – aber auch ein Schmuggler –, und generell ein Dorn im Auge der britischen Obrigkeit gewesen.

Hundert Meter weiter liegt am Fuss des Copp's Hill Burying Ground die Old North Church. 1723 erbaut, stand die Leitung auf Seite der Rebellen. Drinnen erinnert hoch an der linken Wand eine Tafel an das Gemeindemitglied Daniel Malcolm und hält dessen Verlangen fest, «zehn Fuss tief begraben zu werden» – um «sicher vor britischen Kugeln zu sein». Diesen Wunsch wollten Soldaten von George III. im Juni 1775 zumindest symbolisch in Stücke schiessen. Doch an der rechten Wand gegenüber gedenkt eine Tafel des britischen Majors John Pitcairn. Er hatte die Marines beim entscheidenden Sturm auf Prescotts Bastion geführt, wurde dabei mehrfach getroffen und getötet. Sein Leichnam wurde in der Old North Church aufgebahrt. «Die Revolution war am Ende eben auch ein Bruderkrieg», gibt Paine zu bedenken. Deshalb beschäftigen ihn Konzepte und Prozesse von Versöhnung etwa in Südafrika nach der Apartheid schon lange. Am Ausgang zeigt er das Album mit Fotos aus dem Jahr 1976, als Queen Elizabeth und Prinz Philip bei einem Besuch zum 200. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung auch die Old North Church aufsuchten: Bostonians seien über diese Geste begeistert gewesen.

Aber was ist schiefgelaufen? Warum steht das vor 250 Jahren erkämpfte Staatsgebilde auf der Kippe? An einem späten Lunch im Harvard Club mit Gazpacho, Salat und Eiswasser verweist Paine auf «Common Sense»: «Das Pamphlet warnt vor den bereits 1775 abzusehenden, gravierenden Differenzen zwischen Neuengland und den auf Sklaverei und Plantagenwirtschaft gegründeten Südstaaten: ‹Die Kolonien müssen sich jetzt gegen die Monarchie zusammentun. Nach einigen Jahrzehnten würden diese Differenzen so tief sein, dass eine Union unmöglich wäre›.» Paine sieht Rassismus, damit verknüpfte autoritäre Tendenzen und nicht zuletzt einen Mangel an Bildung als Spaltkeile der amerikanischen Gesellschaft. Dazu gehöre der Fanatismus des Trump-Lagers bei Schusswaffen: «Der zweite Verfassungszusatz stellt das Recht auf Waffenbesitz in Zusammenhang mit einer ‹gut regulierten Miliz›. Dafür liefert Bunker Hill das perfekte Exempel. Die Milizionäre hatten gemeinsam trainiert und haben für ihre Gemeinschaften gekämpft!» Der kaum kontrollierte Besitz kriegstauglicher Schnellfeuergewehre von Individuen dieser Tage sei absolut obszön und würde das Vermächtnis der Gründerväter auf den Kopf stellen.

Bestehende Ordnung
Hier wird aber auch die Differenz zwischen den hehren, auf die Bibel und die Aufklärung fussenden Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung und der Verfassung – und tiefer – liegenden Interessen und Impulsen greifbar. Schliesslich warnt «Common Sense» nicht allein vor Mob-Gewalt. Diese ist in Washington am 6. Januar 2021 beim Sturm auf das US-Kapitol sichtbar geworden. Das Pamphlet beschwört aber auch das Heraufkommen eines «mit Glück begabten Gewaltmenschen» oder «Rüpels» («fortunate ruffian»), der eine Krise der bestehenden Ordnung zur Machtergreifung ausnutzen könnte. Auch dieses Ereignis haben die USA womöglich bereits hinter sich. Und anscheinend genügen die vor 250 Jahren von Gebildeten erdachten Regeln und Prinzipien kaum mehr, um bei der breiten Bevölkerung Gemeinschaftssinn zu stiften und die von alten und neuen Konflikten und Differenzen zerrissene Nation zusammenzuhalten.

Doch Paine lässt sich davon nicht beirren. Vermutlich kann er gar nicht anders. Seine Familiengeschichte ist zu reich an Persönlichkeiten, die für die Werte und Prinzipien ihrer Kultur nicht allein als Suffrageten und Umweltschützer, Philanthropen oder Kulturschaffende gewirkt, sondern immer wieder als Soldaten dem Tod ins Auge geschaut haben. Paine kommt auf sein Buchprojekt zurück und ruft Vorfahren wie Hannah Farnham Sawyer Lee (1789–1867) in den Zeugenstand, die erste Schriften anonym publizierte und dann in ihrem Bestseller «The World Before You, or the Log Cabin» Frauen im amerikanischen Westen als Menschen mit eigener Stimme porträtierte. Mit Charles Jackson Paine (1833–1916) führte ein Urenkel des Gründervaters Robert Treat Paine im Bürgerkrieg als Brigadegeneral schwarze Truppen gegen die Sklavenstaaten und verlor seinen Bruder Sumner im Juli 1863 bei Gettysburg: «Viermal 20 und sieben Jahre, nachdem ihre Vorfahren eine neue Nation geschaffen hatten…» zitiert Paine die Ansprache von Präsident Abraham Lincoln auf dem Schlachtfeld im November 1863.

Aber Paine greift über die USA hinaus: «Die Menschheit hat Fortschritte gemacht. Wir können absolut nicht zurück zu einer formellen Versklavung gehen. Wir haben auch die jahrzehntelange Repression von Schwarzen in den Südstaaten nach dem Bürgerkrieg überwunden.» Paine sieht, «dass wir heute Rückschritte erleben: die Konservativen stutzen das soziale Sicherheitsnetz zusammen.» Aber er ist überzeugt: «Niemand wird Frauen das Wahlrecht wieder nehmen können – und auch das Recht auf Abtreibung kann nicht mehr allerorten verboten werden. Und schliesslich haben wir auch die Kommunistenjagd der McCarthy-Ära in den 1950ern überwunden.»

Andreas Mink ist US-Korrespondent der JM Jüdische Medien AG und lebt in Connecticut.

Andreas Mink