Kolumne 30. Mai 2025

Wo liegt Israel?

Israel, Galut, Diaspora, Exil im Meander zwischen Realität und Quellen.

Wie gründet man Nationen? Wer gründet Nationen? Braucht es Nationen? Israel schwankt zwischen seiner Schicksalsgründung im Nachgang zu Pogromen und der Schoah. Israels Geburtsstunde ist die Quintessenz des Amalek-Mythos – der Fluchtpunkt, Bunker, die Idee einer Souveränität, die in den letzten Jahren einer neuen Dynamik in Nahost und weltweit ausgesetzt ist. Dem gegenüber steht der biblische Gründungsmythos, der sich auf göttlich-messianische Verheissung beruft – brandgefährlich, radikal, faschistoid geworden – und in der Moderne eine Erkenntnis erzwingt: Nur ein säkulares und demokratisches Israel hat eine Zukunftsperspektive und Selbstlegitimität.

Zum einen, weil die jüdische Tradition nach der mehrheitsfähigen Exegese keinen Machtanspruch per se formuliert. Zum anderen, weil die Überlebensfähigkeit Israels nur multilateral und nicht militärisch funktionieren kann.

Die Entkoppelung von Göttern findet früh statt, die Einführung des Monotheismus allerdings hatte fatale Folgen. Darin muss die jüdische Gemeinschaft allerdings das Paradox eines jüdischen Staates – in der Herleitung also Demokratie – aufbrechen. Israels fehlende Verfassung ist in Friedenszeiten eine Chance, in der Krise eine zusätzliche Katastrophe – ebenso wie die zunehmende Tendenz, dass Israel sich selbst zum Spielball der Weltmächte gemacht hat und Souveränität der geopolitischen Willkür obliegt.

Die Erfindung des jüdischen Exils, der Galut, der Diaspora ist mehr als die historische Vertreibung der Juden nach Ägypten und dann nach Babylon. Die reale Not und fortwährende Tugend transformierten die Erfahrung in ein Judentum, das sich vom Mythos abkoppelte und sich immer einer Gesetzeskultur zuwandte.

Wenn Judentum überhaupt eine Religion und nicht zuerst eine gelebte Kultur ist, dann eine ohne Theologie. Die Verkennung der jüdischen Evolution durch die dominante Perspektive der Aussensicht auf das Judentum verformt allerdings das Wesen des Judentums so tief bis ins Innere der jüdischen Gemeinschaft, dass sich die integre jüdische Idee nicht mehr durchsetzen kann: die einer Gemeinschaft, die auch ohne Land, ohne Theologie, ohne Messianismus auskommen kann – wenn sie es denn will.

Juden haben sich zu lange über die Trinität der drei H – Haman, Hitler, Hamas – definieren lassen, also über die Vernichtungsfantasien der realen und mythologischen Feinde. Wer die Trinität der drei V – Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung – aufarbeitet, muss viel Traumaarbeit leisten, um wieder auf den Ausgangspunkt der jüdischen Idee zu kommen.

Das kann durchaus ein schmerzhafter Kraftakt sein, der aber existenziell notwendig bleibt, wenn die jüdische Idee nicht der Definition der Feinde anheimfallen soll.

Wie gründet man Nationen? Wer gründet Nationen? Braucht es Nationen?

Martin Buber bricht die Frage auf: «Die jüdische Idee ist nicht Herrschaft, sondern Zeugnis.»

Und Theodor Herzl ordnet sie politisch ein: «Die Judenfrage ist keine soziale oder religiöse, sie ist eine nationale Frage. Und zu ihrer Lösung muss sie in der Weltpolitik gemacht werden.»

Der Philosoph bricht den Teufelskreis auf und plädiert für den säkularen Staat: «Wer den Staat Israel oder das Land Israel vergöttlicht, begeht Götzendienst.»

Diesen Götzendienst vollzieht die amtierende Regierung mit einer biblischen Auslegung Israels und einer Anrufung der Amaleks. Es ist die Dekonstruktion der jüdischen Idee.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor des aufbau.

Yves Kugelmann