Es gibt keinen christlichen Jesus. Alles Christliche an Jesus ist die Exegese jener, die sich darauf berufen und das Jüdische an Jesus Jahrtausende hinweg tilgen, vereinnahmen oder umdeuten. Heute nennt man dies «Cultural Appropriation». Wie massiv dieser Übergriff die Weltgeschichte, das Leben einzelner Menschen und die westliche Denkkultur prägt, kann kaum überschätzt werden – nur deshalb, weil es inzwischen zur Normalität geworden ist. Die Theologie konnte die Widersprüche im Zugang zur Jesus-Geschichte nie auflösen, da der religiöse Ansatz schon im Kern falsch ist – zumindest aus jüdischer Sicht: Der Glaube an Jesus ist Götzendienst oder säkularer Fetischismus.
Der wahre Zugang war schon immer die Psychoanalyse im Verständnis einer asymmetrischen und oft perversen Ausgangslage. Da mag es nicht zweitrangig sein, dass die «Vaterfiguren» von Sigmund Freud, Erich Fromm, Jacob Taubes und so vielen anderen geradezu auf ein ödipales Verständnis in den maskulin aufgeladenen Weltreligionen zulaufen. «Die Stimme Jesu ist die Stimme eines jüdischen Propheten, nicht die eines Stifters einer neuen Religion», schreibt Erich Fromm in «Ihr werdet sein wie Götter». Die Kirche und letztlich die Christen haben Jesus gegen das Judentum gerichtet – und dann gegen sich selbst. Jahrtausende Welt- und Kulturgeschichte sind tief verankert in christlichen Gesellschaften, ohne Teil bewussten, aktiven Handelns zu sein. Dass nach der Schoah ein katholisch-jüdischer und dann christlich-jüdischer Dialog seinen Anfang nahm und mit der epochalen Erklärung Nostra aetate ihren konstruktiven Höhepunkt erreichte, konnte die Konspiration gegen die Juden allerdings nur eindämmen. Sie ist und bleibt eng mit dem Christentum verbunden, das von elitären Dialogzirkeln nur bedingt erreicht werden kann.
Debatten um das Karfreitagsgebet, die Darstellung von «Synagoge und Ecclesia», Mel Gibsons «Passion of Christ» an Kirchen sind Randaspekte in einer Friktion, die kaum überbrückbar ist. Denn sie ist im Kern nicht überbrückbar. Nicht der fehlende gute Wille ist das Problem, sondern die Naturgesetze, die über die Vernunftsentscheidung zum Dialog hinauswirken: der Jude, der zum Gottessohn gemacht wird, und die Verklärung zur irrationalen Weltkonspiration. Das Pepsi-Cola der Weltreligionen wird sich immer am Original abarbeiten, und das Verdrängen des inhärenten Anspruchs bleibt mit irrationalem Impetus bestehen. Hier hat die Popkultur oft viel eher Abhilfe geschaffen als die Religionen selbst: Monty Pythons «Life of Brian», das Musical «Jesus Christ Superstar», Martin Scorseses «The Last Temptation of Christ» nehmen Jesus das, was ihn selbst für jene so gefährlich macht, die ihm nicht mit Respekt, sondern menschlichem Zugang begegnen würden: die Religion, den so perversen und todbringenden göttlichen Anteil, letztlich die Lüge über Jesus. Das Ketzerische daran steht im Auge der Betrachter, nicht der Sache.
Das expansionistische Element durch die christliche Mission war brandgefährlich und kann durch die Friedensmission der Gegenwart mit der Jesus-Ikone das Gegenteil von Jahrhunderten der Schreckensherrschaft im Namen Jesu Christi bewirken. Freud kommt in seinem wichtigen Buch «Der Mann Moses und die monotheistische Religion» zur Konklusion: «Die Kraft der jüdischen Tradition beruht auf der Treue zu einer Idee, die durch keine Verfolgung ausgelöscht werden konnte.» Es ist nicht die Kraft zur Nation, die es im Judentum vielleicht nie geben sollte, sondern zu einem ethischen Prinzip. Rabbi Jehoschua hat immer zu Juden gesprochen. Der Sohn von Josef und Mirjam wurde seinen Eltern entrissen und zum Stiefsohn eines Vaters gemacht, den es nicht gibt und an dem letztlich selbst Ödipus scheitert.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor des aufbau.
Kolumne
11. Dez 2025
Ödipus und der Adoptivsohn
Yves Kugelmann