Kolumne 30. Mai 2025

Mensch Israel

Ich bin ein Mensch. Menschen werden markiert und markieren sich selbst. Die Selbstmarkierung nennen wir Identität. Wir leben in Identitäten. Oft glauben wir, dass Konstanten unsere Existenz sind. Je älter wir werden, desto mehr merken wir: Die Identitäten sind dynamisch und nicht statisch. Ausser man ist Jude. Jeglicher Versuch an einer Selbstbestimmung scheitert an der Fremdbestimmung. .

Jüdische Identität ist bei den wenigsten Juden heute die einzig lebensbestimmende. Ich bin ein Demokrat, Vater, Ehemann, Publizist, verzweifelter Optimist, älterer Mann, heterosexuell, demokratischer Europäer, kulturhörig – und selbstgewählt lebenslanger Jude.

50 Menschen meiner Familie sind von den Deutschen in der Schoah umgebracht worden. Die drei Überlebenden – meine Mutter, mein Vater, meine Grossmutter – blieben lebenslang markierte Juden. Sie lebten in und mit Angst, vermieden, als Juden erkennbar zu sein, blieben unter Juden. Sie glaubten, die Lektion gelernt zu haben: Der Judenhass ist mörderisch.

Meine Lektion ist: Ich habe ein Recht, jüdisch zu sein. Ich bestehe darauf, jüdisch sein zu können. Ich bitte nicht mehr darum – ich bestehe darauf. Ich bin nicht bereit, den Antisemiten die Deutungshoheit über mein Leben zu geben. Was nicht heisst, dass ich die Bedrohung, die in den letzten Jahren von Links- und Rechtextremen oder radikalen Arabern und Muslimen ausgeht, unterschätze. Ich bin ein politischer Jude, weil ich ein politischer Mensch bin.

Ich habe keine Angst vor Menschen, sondern vor Radikalen oder radikalisierten Menschen. Radikale Menschen sind gefährlich. Auch jüdische, auch israelische Radikale.

Ich habe gelernt, dass ein paradiesischer jüdischer Mikrokosmos kein Glück bringt, wenn der Makrokosmos vergiftet ist. Die letzten Jahre zeigen eine deutliche qualitative und quantitative Vergiftungsaktivität.

Menschenrechte, Demokratie, Respekt – sie werden nicht nur für Juden immer wieder von extremistischen Kräften angegriffen. Erfolgreich. Ich habe keine Angst vor der Vielfalt der Menschen. Wenn – dann habe ich Angst vor ihrer Einfalt. Der Judenhass ist ihre Grundlage. Die Antwort heisst nicht: zurück ins Ghetto, sondern: Gesicht zeigen. Trotz allem. Wegen allem.

Seit dem 7. Oktober 2023 ist das jüdische Selbstbewusstsein deutlich erschüttert. Gerade die Jüngeren beobachten die Reaktion der älteren Generation: Vorsicht ja. Angst nein.

Ich bin deutscher Staatsbürger. Ich bin nicht israelischer Staatsbürger. Ich kritisiere die israelische Regierung. Das ist aber nicht dasselbe wie: Ich kritisiere den Staat Israel oder seine Bevölkerung – eine Bevölkerung, die in Teilen jede Woche gegen ihre eigene Regierung demonstriert. Selbst im Krieg. Bis zu 100 000 Menschen gehen auf die Strasse. Das ermutigt. Ich würde mir wünschen, dass in den EU-Staaten und den USA etwas Ähnliches geschieht.

Eine Demokratie ist nicht in Gefahr, wenn sie eine Demokratie abbauende Regierung hat – solange es einen grossen Widerstand in der Bevölkerung gibt. In Deutschland gehen nicht einmal 10 000 Menschen pro Woche auf die Strassen, um gegen die AfD zu demonstrieren.

Wer die Abschaffung Israels fordert, ist ein Judenhasser. Wer die israelische Regierung kritisiert, ist ein Demokrat.

Ich bin ein glücklicher Jude. Weil unter den Millionen Juden Millionen Individuen leben, die nicht so sind wie ich und sich millionenfach unterscheiden.

Weil der Streit, die Auseinandersetzung, die Diskussion im jüdischen Alltag immer gegenwärtig ist. Das 21. Jahrhundert und die nächsten Jahre werden final die Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autokratie sein.

Auch wenn es jüdische Menschen gibt, die dem Autoritären nachlaufen, steht für mich fest: Die schlechteste Demokratie ist mir lieber als die Diktatur. Denn nur in der Demokratie ist es möglich, auf die Rechte zu bestehen. Auf das Menschenrecht. Auf die Emanzipation der Moderne.

Nur in der Demokratie – auch wenn es Theorie ist – ist rechtlich verbrieft: Jeder ist jemand. Und wenn in der Demokratie politische Gruppen meinen, dass einige niemand sind, ist die Auseinandersetzung möglich.

Ich bin nicht ein jüdischer Mensch, sondern ein Mensch, der jüdisch ist. Ich bin ein Jude, aber kein Israeli. Dass ich in meinem Leben dieses Selbstbewusstsein entwickeln konnte, verdanke ich aber dem Staat Israel.

Michel Friedman ist Herausgeber des aufbau.

Michel Friedman