Vor fast 6000 Jahren denken Menschen darüber nach, wie viele Götter man haben soll, und sie fragen sich: Warum schaffen wir all diese Götter nicht ab und übergeben diese Macht an einen Gott? Das ökonomisiert den Preis der Gläubigen. Sie müssen nicht mehr so unendlich viele Opfergaben entrichten, und sie können sich auf einen Gott konzentrieren und ihre Existenz, ihre Geschichten diesem Gott anvertrauen. Die mündlichen Überlieferungen werden verschriftlicht. Eine nächste Revolution.
In der jüdischen Religion trägt der Mensch Autonomie und Verantwortung für sich selbst. Entscheidungen zu treffen, für die er zwar verantwortlich gemacht wird, aber es schimmert bereits der Ansatz von Respekt und damit die Verpflichtung zu gegenseitigem Respekt durch. Zivilisiertheit, also menschliches Umgehen miteinander, ist ein grosser Fortschritt in der ersten monotheistischen Weltreligion. Moralische Kategorien werden entworfen, die Zehn Gebote geschrieben. Daraus entstehen nachvollziehbare rabbinische Gerichtsbarkeiten. Nichts davon hat mit unserer modernen Demokratie zu tun. Die Macht ist einseitig. Sie ist absolut, autoritär. Revolutionär ist, dass die jüdische Religion die Religion des Buches ist. Schon Kinder sollen lesen und schreiben lernen, um sich in der Thora lesend und denkend einzuleben. Ohne Judentum und ohne den Juden Jesus gäbe es weder das Christentum noch den Islam. Die jüdische Religion liebt den Diskurs, den Dialog und den Streit. Nichts fasziniert Rabbiner so sehr wie die vielen Kommentare und Interpretationen der Gelehrten, die jeden Satz der Thora zigmal hin- und herwenden. Solange der Messias nicht auf der Welt sein wird, sind in der jüdischen Religion eine gewisse Anarchie, Freiheit und der Konflikt angelegt und gewünscht. Ich bin überzeugt davon, dass dies einer der Gründe ist, warum es das Judentum trotz des Hasses und der Verleugnungen immer geben wird. Es ist die Kraft, Gegenwart und Zukunft in das religiöse Leben zu integrieren. Ein Stück Pragmatismus. Leider gilt das nicht bei den radikalen und extremistischen Gläubigen.
Auch Jesus wollte eine andere Interpretation des Judentums. Also verliess er das Bisherige und predigte sein Neues. Viele Ungläubige warteten auf das Neue. Umso mehr, da das Judentum ausdrücklich keine Mission durchführt. Sie sammelten sich um Jesus und gründeten auf der Tradition des Judentums und dem Alten Testament etwas Neues.
So wie im Judentum bilden sich auch im neuen Christentum Machtstrukturen. Der nächste gravierende Unterschied besteht darin, dass ein Vatikan das Heil in der ganzen Welt proklamiert. Die Idee der Mission und der Missionare war geboren – und die ersten Fake News der Welt. Jesus wurde von Juden ermordet. So ein Teil der Geschichten, die Missionare in die Welt trugen. Jeder Mensch, der Christ wurde, übernahm die Lüge, stellte sich nicht in Frage. Das Feindbild war geboren. Das Gift gesetzt, die machtstrategischen Überlegungen etabliert. Widerspruch war in der damaligen Zeit sinnloser denn je, denn dass sich der Jude wehrt, gehört zu seinem «Teufelscharakter».
Der Judenhass wurde auf religiöser Ebene jeden Sonntag von der Kanzel gepredigt. Fast 2000 Jahre. Generation nach Generation. Und wie bei jeder Fake News, wie auch heute, werden die Lügen lange genug erzählt und wiederholt, und die Menschen vergessen ihre Quellen und verinnerlichen sie als Wahrheit.
Die Protestanten hatten sich von der katholischen Kirche gelöst, doch nicht von der konspirativen Lüge. Luthers Rede zur Judenfrage gehört zu den antisemitischsten Pamphleten und hätte bei jeder Rede von Nationalsozialisten ein begeistertes Publikum gehabt.
Müsste in Jesu Anwesenheit nicht in jeder Kirche von der Kanzel gepredigt werden: Wir haben gelogen. Wir haben gesündigt. Das jüdische Volk, die Religion, ist unschuldig. Es geschieht nicht, und so wabert – wie Adorno es formuliert – «das Gerücht über die Juden» weiter.
Jesus ist, war und bleibt Jude. Denn nach den jüdischen Religionsgesetzen kann man aus dem Judentum nicht austreten. Ob der Jude Jesus mit seinem jüdischen Volk zufrieden ist? Oder mit seinem christlichen? Schade, dass wir das nicht mehr mit ihm besprechen können.
Michel Friedman ist Herausgeber des aufbau.
Kolumne
11. Dez 2025
Erfindung der Fake News
Michel Friedman