Kolumne 02. Mai 2025

Bittere Freudentränen

Der 8. Mai 1945 ist End- und Anfangspunkt zugleich. Für den Auschwitz-Überlebenden Primo Levi ist er zunächst einmal eine Verschnaufpause, ein Waffenstillstand, ein Zustand des Übergangs, wie er im Buch «La tregua» schreibt. Die posthume Geburtsstunde für europäische Demokratien, Verfassungen, Menschenrechte war für die Gedemütigten, Gefolterten, Halblebenden, für die Überlebenden und die Menschen überall in Europa eine Befreiung mit offenem Ausgang. Eine Befreiung vom Schrecken. Niemand dachte damals an Freiheit oder Demokratie. Denn wer konnte auf die Zukunft vertrauen, nach allem, was geschehen war? Welches Referenzsystem konnte nach dem totalen Zivilisationsbruch Vertrauen in Menschen, Regierungen oder Behörden gelten?

Levi macht klar: «Es ist dem Menschen nicht gegeben, ungetrübte Freude zu empfinden.» Wie er selbst sind viele nicht über die Ereignisse, die Schmerzen, Verluste und Traumata hinweggekommen. Das Lachen am 8. Mai 1945 war oft ein Weinen. Die Freude war oft Scham, und die Freudentränen jene des Schmerzes. Der Tag der Kapitulation des NS-Regimes war allenfalls ein Sieg für die Alliierten, aber noch lange keiner für die Menschen.

80 Jahre später sind Menschenverachtung, Bedrohung der Demokratien, Konspiration gegen Menschengruppen präsenter denn je. Diskriminierung, Hass und Antisemitismus sind mit dem 8. Mai 1945, mit der Aufarbeitung und Erinnerungsarbeit, mit allem, was an Gutem und Richtigem folgte, nicht verschwunden. Der sogenannte V Day beendete den Zweiten Weltkrieg, die Diktatur und das Sterben. Doch er sollte keine Impfung gegen all das sein, was zur ersten industriellen Massenvernichtung von Menschen führte. Primo Levi und vielen anderen war das schon in der Geburtsstunde des modernen Europas bewusst.

Die Atempause dauerte für die einen bis zum Kalten Krieg, für andere bis zum Fall der Mauer oder bis zum Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Viele verbanden grosse Hoffnungen mit der Befreiung, die letztlich nicht erfüllt werden konnten. Die Atempause im bitteren Freudentränenmeer führt in diesen Monaten angesichts des transatlantischen Bruchs zu neuen Erweckungserlebnissen und zur Frage, wohin das alles führen kann. Das Vokabular der Menschen in Europa ändert sich im Europa 2025 ebenso wie die politische Agenda vieler Regierungen schlagartig. Der Blick in die Zukunft kommt in diesen Tagen nicht ohne den Blick zurück aus.

Was ist also geschehen am 8. Mai 1945? Was wurde verklärt, was wurde danach nicht gesehen – oder wollte nicht gesehen werden? Der Faktor Mensch ist immer noch seine grösste Bedrohung – und eben auch Rettung. Mit dieser Dialektik oder eben nur Ambivalenz müssen Gesellschaften zurechtkommen und offen darauf eintreten. Das moderne Europa muss von Auschwitz her gedacht werden.

«Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben», schrieb Primo Levi. Er formuliert damit keinen Pessimismus, sondern eine reale Erfahrung, die er mit Millionen am eigenen Leib erfahren hat. Doch was heisst das für all jene, die nie Verfolgung, Flucht, Krieg erfahren haben? Können existentielle Erfahrungen intellektualisiert werden?

Als Wolfgang Borchert mit «Draussen vor der Tür» nach dem Krieg nach Deutschland zurückkam, blickten die Menschen, die «eigenen» Leute, durch ihn hindurch. Als die Jüdinnen und Juden aus den KZs oder DP-Camps nach Deutschland zurückkehrten, suchten sie den Windschatten des Wirtschaftswunders und spürten rasch Ablehnung. Die Täter hatten es oftmals einfach, bekamen die Spitzenpositionen in Politik, Staat, Verwaltung. Viele Vertriebene, Verfemte und Verfolgte blieben draussen, rannten an, stiessen an, zerbrachen.

Die Technokratie von einst und heute ertränkte die bitter nötige Empathie für all diese Menschen in An- und Verordnungen – in denen eine neue Form von Wir und Ihr, Selektion und letztlich völkischen, identitären, libertären Ideologien neu erwachsen. Der Weckruf Primo Levis ist evident für Politik und Gesellschaft: Der menschengemachte Zivilisationsbruch ist immer wieder in neuen Formen möglich.

Die Messlatte für eine friedliche Zukunft ist hoch geblieben. Der 8. Mai erinnert immer wieder daran, dass sie sich hart erkämpft werden muss – am besten ohne Waffen. Doch selbst das ist in diesen Tagen ungewiss geworden.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor des aufbau.

Yves Kugelmann