Hannah Arendt muss aus ihrer Biographie gelesen und nicht zuerst aus ihrem Werk verstanden werden: Studentin, Flüchtling, staatenlose Jüdin. Ihre Neugier, ihren Lebenswillen, ihre Intelligenz und Courage hatte sie lange, bevor die jüdische Erfahrung sie noch profilierter formte und ein Schlüsseltext dies klarmacht: «Offensichtlich will niemand wissen, dass die Zeitgeschichte eine neue Gattung von Menschen geschaffen hat – Menschen, die von ihren Feinden in KonzenTrationslager und von ihren Freunden ins Internierungslager gesteckt werden.» Arendt ist den Nazis in Gurs durch Eigeninitiative von der Schippe gesprungen. Ihre Positionen sollten schliesslich ebenso konsequent empathisch – also nicht theoretisch – wie radikal unabhängig sein, sodass sie sich allem entziehen konnte und als vollends Befreite, als vollends Emanzipierte den Blick auf die Gesellschaft warf. Ohne Arroganz, aber mit einer Selbstsicherheit, die die einen frappierte und andere faszinierte. Kein Ghetto war ihr fremd, kein jüdisches Milieu, für das sie kämpfte, in dem sie aber nie leben konnte. Der existentielle Widerspruch, dass Arendts Freiheitsbegriff einer für alle Menschen war, den zu viele für Juden nicht gelten lassen wollten, war ihr ebenso bewusst wie ihr Ringen mit der Abkehr jüdischer Gemeinschaften in die selbstgewählte Isolation.
Emanzipationsmonolog
Deutlich wird dies in Passagen ihres Hauptwerks über «Die Ursprünge des Totalitarismus», wenn Arendt in der Figur des Shylock eine Ambivalenz ausmacht: Er ist gezwungen, seine Sonderstellung zu behaupten und wird gerade deswegen zum Objekt antisemitischer Vorurteile. Kritisch merkt Arendt in ihrer Analyse an, dass die blosse Existenz von «Shylock-Figuren» die Gesellschaft permanent an jüdische Andersartigkeit erinnert und dadurch einen Nährboden für Antisemitismus schafft. Arendt selbst allerdings ist der Anti-Shylock. Das Emanzipatorische seines Monologs ist zugleich das Scheitern an der Asymmetrie einer Situation, die Arendt für sich nie hätte gelten lassen: Sie trat allen auf Augenhöhe gegenüber und avancierte – wie ihr Zeitgenosse und «Aufbau»-Kollege Albert Einstein – zur vollends freien, unantastbaren Persönlichkeit, die nicht durch ihr Judentum Distanz hielt, sondern durch ihre aufgeklärten Prämissen.
«Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Unsere Identität wechselt so häufig, dass keiner herausfinden kann, wer wir eigentlich sind. [...] und das bedeutet den Zusammenbruch unserer privaten Welt.»
Für Arendt war das Antrieb, und hätte Staatenlosigkeit nicht die völlige Entrechtung bedeutet, wäre sie zum Ideal für Arendt geworden, die in jedem Nationalismus einen Kern des Totalitarismus ausmachte. So ist es nur konsequent, dass sie den Zionismus ablehnen musste und nur im Kontext des Schutzes vor Antisemitismus akzeptieren konnte.
Gleichheit und Würde
Shylock steht bei Arendt für das Paria-Dasein des Juden in der europäischen Gesellschaft, das sie für sich ablehnte. Arendt erkennt in Shylocks Monolog eine existenzielle Verteidigung der menschlichen Gleichheit und Würde, unabhängig von religiöser Zugehörigkeit. Shylock aber hat diese Naivität ins Verderben geführt, während Arendt als Jahrhundertdenkerin verewigt wurde. Denn sie liess sich nicht ein auf die Spielregeln der «Anderen», ihrer Feinde oder der Antisemiten.
Bedeutendste Frauenfigur
Sie avancierte zur bedeutendsten Frauenfigur in der jüdischen Geschichte, vereinte mythologische Figuren von Esther und Jael bis Dina oder Noëmi in sich und wurde zum Prototyp: «Frei sein können Menschen nur in Bezug aufeinander, also nur im Bereich des Politischen und des Handelns; nur dort erfahren sie, was Freiheit positiv ist und dass sie mehr ist als ein Nicht-gezwungen-werden.» Den Totalitarismus der «Anderen» wollte sie nicht zu ihrem Problem werden lassen – selbst dort, wo er sie direkt bedrohte. Denn jede und jeder kann wieder zum entrechteten Flüchtling, zum Internierten werden. Doch jede und jeder könnte sich aus dem selbstwählten Ghetto selbst befreien anstatt den permanenten Rückzug zu zelebrieren.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor des aufbau.
kolumne
06. Okt 2025
Arendt statt Shylock
Yves Kugelmann