Schwerpunkt – Hannah arendt 06. Okt 2025

Zwischen Stamm und Welt

Mit Hannah Arendt nachdenken über Zionismus, Antisemitismus und die Zukunft der Juden.

Wie einst Diogenes der Zyniker bin ich ein Kosmopolit, ein Weltbürger. Das geht über einen Reisepass mit vielen Stempeln, über Wohnsitze und Freunde in alle möglichen Ländern und die Tatsache hinaus, dass ich mich als jüdischer New Yorker in einer Synagoge zu Hause fühle, Hochzeiten in Kirchen verschiedener Konfessionen besucht und den Ramadan in einer Moschee in Jerusalem gefeiert habe. Ich bin überaus an Bräuchen und Kulturen von Menschen interessiert, die anders sind als ich. Als Kosmopolit fühle ich mich überall zu Hause – was natürlich auch bedeuten kann, nirgendwo zu Hause zu sein.

Ich schätze auch meine Stammesbindungen sehr. Ich nehme meine besondere Identität und Staatsbürgerschaft ernst und würdige tief empfundene Bande. Ich bin New Yorker, Arendtianer, Jude, Mann und Amerikaner. Ein Arendtianer ist nicht einfach jemand, der Hannah Arendt liest oder sich von ihrem Werk inspirieren lässt. Es geht vielmehr um das Streben nach Verständnis, also eine auf die Auseinandersetzung mit gegensätzlichen Perspektiven basierende Praxis zur Bildung eigener, wohl überlegter Urteile. Vor allem aber bedeutet die Verpflichtung auf Arendt und ihr Werk, den Mut für die Äusserung der eigenen Meinung aufzubringen und sich dem mutigen, riskanten und provokanten Denken zu öffnen, das sie selbst verkörpert hat.

Hingabe und Lebensweise
All dies macht mich keinesfalls zu einem Nationalisten im Sinne von George Orwells Definition einer «Gewohnheit, sich mit einer einzigen Nation oder anderen Einheit zu identifizieren, sie jenseits von Gut und Böse zu stellen und keine andere Pflicht als die Förderung ihrer Interessen anzuerkennen.» Ich bin vielmehr ein Patriot im Sinne Orwells und hege eine «Hingabe zu einem bestimmten Ort und einer bestimmten Lebensweise», die ich für eine der besten der Welt halte, ohne anderen meine Lebensweise aufzwingen zu wollen.

Der Begriff «Stamm» hat heute in progressiven und intellektuellen Kreisen einen schlechten Ruf. Viele Kosmopoliten sprechen Tribalismus Vorurteile, Nationalismus und sogar Rassismus zu. Obendrein ist da ein rassistischer Tribalismus, den Hannah Arendt als «pseudo-mystischen Stammes-Nationalismus» mit Wurzeln in der Unzufriedenheit der Völker im Gürtel gemischter Bevölkerungen nach dem Zusammenbruch des Österreichisch-Ungarischen und Russischen Reiches zwischen Baltikum und Schwarzem Meer bezeichnet hat. Dort strebten Juden, Roma, Slawen, Polen oder Deutsche nach nationaler Emanzipation, erlangten aber nie einen eigenen Staat. Mangels Staat oder Heimat wurden sie laut Arendt ausserhalb Russlands, Polens und oder Deutschlands «wurzel-» und «heimatlos». Sie kultivierten ein «erweitertes Stammesbewusstsein» und »fühlten sich überall dort zu Hause, wo andere Mitglieder ihres ‹Stammes› zufällig lebten.»

Dieser Stammesnationalismus nahm um 1900 mitunter rassistische Züge an: Der eigene, auf Blut und Geschichte basierende Stamm wurde als einzigartig und allen anderen Stämmen überlegen angesehen – sogar als von Gottes Gnaden überlegen allen anderen Gruppen. Diese mussten assimiliert, vertrieben oder eliminiert werden, um von ihnen ausgelöste soziale und politische Probleme zu lösen. Ein solcher Tribalismus leugnet die Idee einer gemeinsamen Menschlichkeit.

Zur Wurzel
Das Wort «Stamm» kommt von dem Lateinischen «tribus». Die Wurzel «tri» bezeichnet die drei Stämme der Lateiner, Sabiner und Etrusker, die sich ursprünglich in Rom zusammenschlossen. Inzwischen definieren Anthropologie und Sozialwissenschaften mit dem Begriff ethnische und rassische, auf Clans oder Familien basierende Gruppen, die von einem Häuptling angeführt und durch Abstammung verbunden werden.

Ein auf Feindbilder, Rasse und Ethnizität basierender Stammesnationalismus passt nicht in unser liberales Zeitalter und stellt eine Kampfansage gegen Vorstellungen von gleicher Würde und Respekt vor der Menschlichkeit – und damit unseren Prinzipien von Völkerrecht und Menschenrechten – dar.

Und doch sind wir als Menschen allesamt aus Stammesgruppen hervorgegangen. Stammeszugehörigkeit behält positive Qualitäten, die aus einem menschlichen Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu Solidargemeinschaften rühren. Dies mögen Juden oder Palästinenser sein. Aber auch Soldaten in einem Schützengraben und in einer Mine verschüttete Bergarbeiter teilen eine aus gemeinsamen Leiden als eigenständige Gruppe stammende Solidarität: Bande auf Grundlage von geteiltem Schmerz und Beharrlichkeit. Dazu kommen aber auch kollektive Freude und Rituale von Hochzeiten bis hin zu Beerdigungen. Die Loyalität von Stammesmitgliedern fusst auf Erinnerungen an eine gemeinsame Vergangenheit und Projektionen eines imaginären, zukünftigen Schicksals. So entsteht eine gemeinsame Identität, die zu gegenseitiger Hilfe und Opfern selbst für entfernte oder sogar missliebige Stammesmitglieder inspiriert.

Daher bezeichnet «Tribalismus» Solidarität mit einer Gruppe von Menschen bis hin zur Bereitschaft, das eigene Leben für andere Mitglieder herzugeben. Sozialwissenschaftler leiten heutige Epidemien von Einsamkeit und psychischen Erkrankungen in wohlhabenden kosmopolitischen Gesellschaften aus dem Verlust von Gemeinschaft und Zugehörigkeit in Stämmen ab. Sofern Gesellschaften aus Clans hervorgegangen sind, tragen wir eine Sehnsucht nach Stammessolidarität als Grundlage eines erfüllten und sinnvollen Lebens mit uns.

Bekenntnis zur Menschenwürde
Ich bin also ein Kosmopolit – und ein Tribalist. Die Spannung zwischen meinem universalistischen Bekenntnis zur Menschenwürde und meinen partikularistischen Vorurteilen gegenüber Familie, Nachbarn und meinen verschiedenen Stämmen trat nur selten in den Vordergrund meiner Existenz. Heute exerziert die Trump-Regierung eine Entscheidung für Tribalismus und kürzt Entwicklungshilfen, hinterfrägt die Unterstützung für die Ukraine und wirft langjährige Bündnisse mit Europa oder Kanada zugunsten egoistischer Deals über Bord. Statt unserem traditionellen Imperativ zu folgen und Menschlichkeit im Ausland zu verbreiten, fordert die Trump-Doktrin: Wir kümmern uns zuerst um die eigenen Leute in Amerika. Gleichwohl haben Nöte in Übersee hierzulande doch mitunter mehr Aufmerksamkeit gewonnen als Obdachlose auf unseren Strassen. Von daher habe ich derlei Herausforderungen an mein kosmopolitisches Empfinden auch als erfrischenden Denkanstoss empfunden.

Inzwischen drängen diese Widersprüche auf meine Tagesordnung. Wie alle guten Kosmopoliten hat mich das tiefe Leid unterdrückter und verfolgter Populationen von den Uiguren in Xinjiang bis zur Ukraine zutiefst erzürnt. Das gilt natürlich auch für die Menschen in Gaza. Für deren Not ist sicherlich zu einem Teil die Hamas verantwortlich, deren Führung ihr eigenes Volk für politische Zwecke missbraucht. Doch der Kosmopolit in mir ist überzeugt, dass Israel ein Recht hat, sich selbst zu verteidigen. Dies geschah indes seit dem 7. Oktober 2023 mit einer tribalen Brutalität, die den Palästinensern ihre Menschlichkeit nimmt. Dabei ist mir sehr wohl bewusst, dass sowohl die Hamas als auch Israel Kriegsverbrechen begangen haben. Und doch bin ich Jude.

Als solcher verstehe ich, dass wir Juden einen Völkermord erlitten haben, der uns von der Erde tilgen sollte. Die meisten Juden, die nach Israel einwanderten, kamen nicht als Siedler, sondern als Vertriebene und Flüchtlinge, da kein anderes Land der Welt sie aufnehmen wollte. Antisemitismus ist real, er ist tödlich und er ist sehr lebendig. Ich bin überzeugt, dass eine jüdische Heimat eine Voraussetzung für das Überleben der Juden in einer von Antisemitismus geprägten Welt ist. Es liegt auf der Hand, dass Hamas, Hisbollah und der Iran nicht ruhen werden, bis Israel zerstört ist. So kann ich dem einzigen jüdischen Staat der Welt schwerlich das Recht auf Selbstverteidigung absprechen. Dabei ist mir durchaus bewusst, dass der Traum von einem jüdischen Staat im Widerspruch zur Realität der arabischen Präsenz im Land zwischen Jordan und Mittelmeer stand und steht. Ich gebe mit Hannah Arendt zu, dass die zionistischen Führer in den 1940er Jahren die einheimischen Palästinenser oft «einfach übersehen» haben.

Antisemitismus von morgen
Während Arendt den Palästinensern auch vorwarf, die jüdischen Ansprüche auf ihr Land abzulehnen und auf einem arabischen Staat ohne Juden zu bestehen, warnte sie ihre jüdischen Mitbürger vor der Schaffung eines jüdischen Staates mit einer grossen arabischen Minderheit. Dies würde auf die Degradierung der Araber zu Bürgern zweiter Klasse hinauslaufen, die entweder auswandern oder erbitterten Widerstand leisten würden: «Juden, die ihre eigene Geschichte kennen, sollten wissen, dass dies unweigerlich zu einer neuen Welle des Judenhasses führen wird; dem Antisemitismus von morgen.»

Ich behaupte weder, dass die Juden in Israel absolut unschuldig sind, noch, dass die Palästinenser kein legitimes Recht auf ein Heimatland und einen Staat haben. Meine Ansicht, dass es auf beiden Seiten des Konflikts Gerechtigkeit und Schuld gibt, ist keine Schwäche. Ich sehe diese Widersprüche als zutiefst menschlich und Manifestation der Tatsache an, dass Kosmopolitismus zwar ein Zukunftsideal sein mag, wir Menschen aber dennoch Stammeswesen sind. Trotz meiner kosmopolitischen Träume bin ich ein Stammesmensch.

Trost bei Arendt
Hierbei finde ich etwas Trost bei Hannah Arendt. Auch sie war in ihren Versuchen, kosmopolitische Träume und Stammesrealitäten in Bezug auf Israel in Einklang zu bringen, inkonsequent und widersprüchlich.

Arendt hatte hier, gelinde gesagt, einen komplizierten Standpunkt. Ursprünglich skeptisch gegenüber der jüdischen Nationalbewegung, betrachtete sie die Zionisten schliesslich als die einzige politisch relevante Antwort auf die Wahl Hitlers und den tiefgreifenden Antisemitismus in Deutschland – und damit den Aufstieg des Stammesnationalismus in europäischen Staaten und das Scheitern der jüdischen Assimilation in diesen. 1933 verhaftete sie das neue Regime bei der Sammlung von Beweisen für den nationalsozialistischen Antisemitismus im Auftrag der deutschen Zionisten.

Bald nach ihrer Ankunft in New York City als staatenloser Flüchtling 1941 beteiligte sich Arendt energisch an zionistischen Debatten. Als Kolumnistin der deutschen Exilpublikation «Aufbau» plädierte sie nachdrücklich für eine jüdische Armee im Kampf gegen die Nazis: Man müsse sich als Jude verteidigen, werde man als Jude angegriffen. Arendt vertrat einen nicht-staatlichen, humanistischen Zionismus, kritisierte führende Zionisten für ihre nationalistischen Tendenzen und plädierte stattdessen für einen Zionismus als politisches und kulturelles Erwachen jüdischen Lebens. Vor allem aber strebte sie die Verteidigung einer «jüdischen Heimat an, die sich der spirituellen Erneuerung, der inneren Befreiung und einer veränderten Weltordnung verschrieben hat».

Arendt glaubte, dass Juden ihre zionistischen Ziele in Solidarität mit den palästinensischen Arabern erreichen könnten, sofern sie eine jüdische Heimat anstelle eines Staates anstrebten. Spätestens nach dem Unabhängigkeitskrieg 1948 hatte Arendt mit dem Mainstream-Zionismus gebrochen. Sie lehnte die nationalistischen Visionen Theodor Herzls und Wladimir Jabotinskys ab und kritisierte deren Idee eines jüdischen Staates als Auswuchs einer «mitteleuropäischen Ideologie des Nationalismus und Stammesdenkens». Der jüdisch-arabische Konflikt würde nicht durch die diskreditierte Idee gelöst werden können, Minderheitenrechte innerhalb von Nationalstaaten zu garantieren. Dieses Modell war bereits im nachhabsburgischen Europa gescheitert. Anstatt Spannungen abzubauen, forderten neue Nationalstaaten von Minderheiten Assimilation oder Auswanderung.

Föderale Lösung
Arendt plädierte für eine föderale Lösung in Palästina, in der die Souveränität zwischen den Gemeinschaften geteilt werden und die Regierungsführung auf Kooperation beruhen sollte. Sie sah darin die beste Hoffnung zur Lösung von nationalen Konflikten und einer Neugestaltung des politischen Lebens jenseits eines Nationalstaats. Skeptisch gegenüber dieser Ordnung befürchtete Arendt, dass ein jüdischer Staat in einer überwiegend arabischen Region die Rechte der Einheimischen missachten würde. Sie kritisierte aber beide Seiten, also das Beharren von Palästinensern «auf einem einheitlichen, arabischen Staat» in der gesamten Region – ein seinerzeit heiss diskutiertes und gelegentlich von den Briten aus imperialen Interessen unterstütztes Konzept. Daraus spreche «die Illusion, wonach die jüdischen Siedler zum Auszug gezwungen werden könnten». Doch als Jüdin warnte sie ihre Gemeinschaft, Araber seien «Menschen wie sie selbst» und würden entsprechend «ähnlich wie Juden handeln und reagieren».

Arendt stellte sich einen humanistischen Zionismus als Grundstein für eine postnationale Welt vor. In einem föderalen Palästina sollten Juden und Araber ihre nationalen Bestrebungen ohne ausschliessliche Souveränität verwirklichen können. Eine jüdische Heimat wäre kein Nationalstaat, sondern ein kulturelles und spirituelles Zentrum, bereichert durch Institutionen wie die Hebräische Universität und basierend auf den Prinzipien von Arbeit, Gerechtigkeit und Gleichheit – verkörpert in den Kibbuzim. Sie sah die Arbeiterzionisten als potenzielle Avantgarde einer neuen Welt, in der «die Souveränität auf die nationalen Gemeinschaften verteilt wäre, während die Verwaltung des gesamten Territoriums gemeinsames Handeln erfordern würde.»

Jüdische Antwort
Die Ereignisse des Jahres 1948, insbesondere die Vertreibung Hunderttausender Araber, enttäuschten Arendt. Dennoch gab sie ihre Unterstützung für Israel nicht auf. Ihre Berichterstattung über den Eichmann-Prozess 1961 drückt ihren Stolz auf die Errungenschaften des jüdischen Staates aus, auch wenn sie dessen Politik weiterhin kritisch betrachtete.

Sie hielt den Krieg von 1967 für defensiv und vernünftig. Im Kern ging es dabei «natürlich hauptsächlich ums Überleben»: Die jüdische Antwort auf die Frage nach ihrem Beharren auf einem Staat sei, «das Volk zusammenzuhalten» – um zu überleben. Auch wenn sie diese «grosse», aber «unedle Leidenschaft» nicht zu teilen vermochte, konnte sie sich doch nicht von Israel lösen. «Jede wirkliche Katastrophe» dort, «würde mich tiefer treffen als fast alles andere», schrieb sie ihrer Freundin Mary McCarthy im Dezember 1968.

Als Ägypten und Syrien 1973 Israel an Jom Kippur angriffen, sprach Arendt unkritisch über das Judentum als Nationalreligion und spendete an die Jewish Defense League. Eine Einladung des antizionistischen American Council for Judaism zu einer Rede lehnte sie ab und betonte ihre Differenzen mit der Gruppe: «sollte der jüdische Staat aus irgendeinem Grund (auch aufgrund eigener Dummheit) von einer Katastrophe heimgesucht werden, so wäre dies doch die finale Katastrophe für das gesamte jüdische Volk.»

Definition von Totalitarismus
Arendts Kritik am Zionismus und ihre differenzierte Haltung zu Israel sind aus ihrem unkonventionellen Verständnis von Antisemitismus erklärbar. Sie hat Judenhass keineswegs als Relikt religiöser Intoleranz betrachtet, sondern als eine massgebliche politische Ideologie der Moderne und Eckpfeiler ihrer Definition von Totalitarismus und des Schicksals der Juden im 20. Jahrhundert. Arendt verstand «Antisemitismus als säkulare Ideologie des 19. Jahrhunderts». Sie lehnte im Englischen die konventionelle Schreibweise «anti-Semitism» ab und schrieb stattdessen «Antisemitism». So wollte sie die säkulare und ideologische Natur dieser tiefen Feindseligkeit verdeutlichen, die ihrer Überzeugung nach in der Praxis wenig mit Hass auf einzelne, real existierende Juden zu tun hatte.

Als moderne, säkulare Ideologie ist Antisemitismus bei Arendt eine Form von Rassismus. Antisemiten sind Rassisten, weil sie über abstrakte Ideen ein rassistisches Imaginäres aktivieren; die Pan-Germanisten der Kaiserzeit und später die Nazis instrumentalisierten eine bereits bestehende soziale Fantasie, der zufolge Juden grundsätzlich Fremde waren und die Reinheit und das historische Schicksal der deutschen Herrschaft untergruben.

Aber nicht jeder Antisemitismus ist für Arendt rassistisch: Mittelalterlicher oder religiöser Judenhass mit Tropen wie Ritualmord, Wucher, dem wandernden Jude und dem Verweis, dass Juden Christus gekreuzigt hätten, seien weder ideologisch noch rassistisch. Ein solcher Antisemitismus sei hasserfüllt, werde aber durch Begegnungen mit realen Juden begrenzt. Religiöser Antisemitismus konnte zwar zu Pogromen führen, bekämpfte Juden aber, um reale Interessen und Macht zu wahren. Eine Endlösung zur Ausrottung aller Juden war für den Antisemitismus des Mittelalters undenkbar, so Arendt.

Ideologischer Antisemitismus
Anders der ideologische Antisemitismus der Moderne. Losgelöst von realen Konfrontationen zwischen Juden und Nichtjuden entstand dieser Hass zu einer Zeit, in der sich viele Juden in die christliche Gesellschaft integriert hatten und säkulare Juden zunehmend an Bedeutung gewannen. Der moderne Antisemitismus richtet sich gegen assimilierte Juden, die Gleichberechtigung anstreben, aber dennoch eigenständig bleiben wollten. So prägt den modernen Antisemitismus das dringende Bedürfnis, zu definieren, wer ein Jude ist. Damit werden Juden gerade für Menschen, die nie persönlich mit ihnen in Berührung gekommen sind, zu einem Fantasiegebilde, aber auch rätselhaft. Sind die Juden eine Religion oder eine Nation; entwurzelte Kosmopoliten oder Mitglieder eines Stammes?

Der zentrale Vorwurf der Antisemiten lautet: «Juden sind Fremde.» So bleiben selbst in Deutschland geborene Juden mit deutschen Eltern und Grosseltern immer noch Juden und gehören nicht zum deutschen Volk, so wie Juden heute überall in der Diaspora sowohl als Insider als auch als Aussenseiter gelten. Tatsächlich wollen es assimilierende Juden nur in Krisenzeiten nicht wahrhaben, dass Juden immer als Aussenseiter gesehen und, wenn es hart auf hart kommt, als solche gehasst werden. In Arendts Worten: «Wie der Antisemitismus beweist, sind wir diesem anderen Volk aufgrund seiner unveränderlichen Substanz völlig fremd und werden von ihm verachtet.»

Ideologischer Antisemitismus wird politisch gefährlich, wenn er als Instrument zur Mobilisierung der Massen dient. Da Juden mit dem Staat assoziiert werden – sei es als Staatsbankier oder als Macht hinter dem Staat –, erklärt Arendts «politischer Antisemitismus», dass jede Klasse in Konflikt mit ihrem jeweiligen Staat antisemitisch wird: «Antijüdische Gefühle erlangen nur dann politische Relevanz, wenn sie an ein grosses politisches Thema anknüpfen können, oder wenn jüdische Interessen offen mit denen einer grossen Gesellschaftsschicht in Konflikt geraten.» Kämpfen Massen als Nazis oder marxistische Avantgarde gegen einen Staat an, wird ihr Antisemitismus noch schärfer. Denn nun sieht ihr «Anspruch auf Auserwähltheit allein diesen Anspruch von Juden als ernsthafte Konkurrenz».

Verlust jüdischer Einheit
Die politische Kultur hat auf diese Gefahr zwei Antworten entwickelt. Dabei droht bei einem Erfolg der Assimilation der Verlust jüdischer Eigenheit. Assimilationisten leugnen die Andersartigkeit von Juden und reduzieren diese auf harmlose religiöse Unterschiede: Sie seien nur «Deutsche jüdischen Glaubens», und werden von einem Volk zu einer Religion, an die sie eigentlich nicht mehr glauben. Assimilationisten wollen nicht wahrhaben, ist, dass ihre Landsleute sie tatsächlich hassen – nicht als reale Juden, sondern als Fantasie von jüdischer Fremdheit.

Der Zionismus als zweite Antwort ist nur deshalb erfolgreich, weil er so sehr auf dem Antisemitismus als ewiger und unausrottbarer Tatsache beharrt, dass Juden nur als Volk mit eigenem Land, eigener Armee und eigenem Nationalstaat sicher sein können. So fordert Zionismus, dass sich Juden als rassisch unterscheidbares Volk verstehen – und wird zu einer Spielart von ideologischem Tribalismus. Diese Hinwendung zum Tribalismus hat Arendt 1944 zu ihrem seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wieder viel zitierten Essay «Zionism Reconsidered» bewegt. Auch wenn Arendt darin einen staatlichen Zionismus aufgrund seiner rassistischen und tribalen Verstrickungen ablehnt, hat sie Israel später eben aus ihrer Erkenntnis des modernen Antisemitismus als politischer Gefahr unterstützt: Ohne eine eigene Heimat kann es kein Überleben der Juden geben. Obwohl Israel für ihren Geschmack zu tribalistisch, zu rassistisch und zu staatsorientiert war, würde das Verschwinden Israels doch den letzten wahrhaft jüdischen politischen Widerstand gegen den ideologischen Antisemitismus zerstören.

Zwischen den Fronten
So entschieden Arendt den Stammesnationalismus ablehnt, so lehnt sie auch ein liberales kosmopolitisches Projekt ab, das Stammesrealitäten und politische Spaltungen zugunsten einer universellen Idee der Weltbürgerschaft aufgibt. Nach 17 Jahren als Staatenlose erhielt Arendt 1950 die US-Staatsbürgerschaft. In einem Brief an ihren ersten Ehemann Günther Anders nennt sie ihren amerikanischen Pass «das schönste Buch». Arendt hat auch Amerika scharf kritisiert. Aber sie war auch überzeugt, dass die USA als einziges Land frei von Stammesnationalismus seien: ein Land von Einwanderern, in dem alle gleichzeitig jüdische Amerikaner, schwarze Amerikaner oder mexikanische Amerikaner bleiben könnten. Sie weigerte sich, irgendein Volk zu lieben, weder die Deutschen noch die Amerikaner oder die Juden. Gleichwohl schrieb sie Gershom Scholem, dass sie die Juden zwar nicht liebe und nicht an sie glaube, aber doch zu ihnen gehöre. So liess sie Günther Gaus 1964 in einem Interview wissen: «Wird man als Jude angegriffen, muss man sich als Jude verteidigen. Nicht als Deutsche, nicht als Weltbürger, nicht als Verfechterin der Menschenrechte oder was auch immer.“

Bürger oder Weltbürger
Ein Bürger, so Arendt in ihrem Essay «Karl Jaspers: Weltbürger», «ist per Definition ein Bürger unter Bürgern eines Landes unter Ländern.» Während sich Philosophen eine Weltregierung als Heimat für die gesamte Menschheit vorstellen, «befasst sich die Politik mit Menschen, Angehörigen vieler Länder und Erben vieler Vergangenheiten.» Deren Auflösung in einem Weltstaat würde nicht universale Gleichheit einläuten, sondern eine zentralisierte Weltregierung, «die das Monopol aller Gewaltmittel innehat, unkontrolliert und unkontrolliert von anderen souveränen Mächten.» Dies «wäre das Ende allen politischen Lebens, wie wir es kennen» – ein Albtraum von Tyrannei.

Pluralistische Politik
Ich möchte mit drei Überlegungen zu der Frage schliessen: Wie ist eine pluralistische Politik denkbar?

Erstens ist Pluralität die Grundlage für Arendts Mantra, dass es in der Politik keine Wahrheit gibt. Und doch brauchen wir Wahrheit! In ihrem Essay «Wahrheit und Politik» schreibt Arendt, dass der lateinische Satz «fiat justitia, et pereat mundus» (Gerechtigkeit geschehe, selbst wenn die Welt unterginge) schlichtweg falsch ist. Die Welt sei es vielmehr wert, gerettet zu werden, selbst wenn sie Ungerechtigkeit enthält. Dann ändert Arendt den Satz zu: «fiat veritas, et pereat mundus» (Wahrheit geschehe, selbst wenn die Welt unterginge) und kommt zu einer vertretbaren Position: Ohne Wahrheit ist eine menschliche Welt undenkbar. Die menschliche ist eine gemeinsame, eine Welt, die wir politische Wesen mit anderen teilen. Eine solche Welt kann nur auf Wahrheit fussen. Doch dies bedeute nicht, dass Wahrheit durch Politik gesichert werden muss. Im Gegenteil: Wahrheit ist unpolitisch, ausserhalb der Politik. Arendt beschreibt Wahrheit als Boden unter und Himmel über uns. Wir können nicht ohne Heimat leben, ohne Verwurzelung in der Welt. Wir alle brauchen einen Stamm.

Zweitens existieren in einer pluralen Welt eine Vielzahl sich überschneidender Stämme. Wir müssen lernen, inmitten starker Stammesbindungen zu leben, also unsere eigenen Traditionen, nationalen Vergangenheiten und kollektiven Visionen einer gemeinsamen Zukunft festhalten. Dabei müssen wir anderen Völkern, Nationen und Stämmen Raum für eine Existenz in ihren eigenen Wahrheiten und Traditionen geben. Wir müssen, wie Arendt in ihrem Essay über Jaspers als Weltbürger sagt, nicht mit der Tradition brechen, sondern mit der Autorität der Tradition.

Drittens gilt es, eine pluralistische Politik in einer neuen gemeinsamen Welt ohne Wahrheit zu schaffen. Und zwar nicht durch die Anerkennung nationalistischer Ideen, sondern durch den Dialog mit Angehörigen anderer Stämme. Das Ziel ist nicht eine kosmopolitische Norm der Weltbürgerschaft, sondern eine föderierte Welt sich überschneidender Stammesverpflichtungen.

Eine meiner liebsten Erkenntnisse Arendts lautet: «Wir werden gerechter und frommer, indem wir über Gerechtigkeit und Frömmigkeit nachdenken und sprechen.» Im Gespräch mit anderen, selbst mit Menschen grundsätzlich anderer Meinung, schaffen wir die Grundlage für ein gemeinsames Gespräch, eine gemeinsame Welt. Arendt war in dieser Hinsicht ungewöhnlich optimistisch: «Ich persönlich zweifle nicht daran, dass aus dem Aufruhr unserer Konfrontation mit der Realität ohne die Hilfe von Präzedenzfällen – d. h. von Tradition und Autorität – schliesslich ein neuer Verhaltenskodex entsteht.»

Ethische Welt
Eine neue, gemeinsame, ethische Welt ist nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich. Sie hängt vom Mut ab, ehrlich und offen zu sprechen, ohne ideologische Starrheit.

Laut ihrer Biografin Elizabeth Young-Bruehl hat Arendt ihre Freunde als ihren Stamm bezeichnet, als eine kleine Insel des Kosmopolitismus und Paria-Bewusstseins. Das deutsche Wort «Stamm» verweist auf Bäume. Wir kommen durch unseren Stamm in die Welt und finden dort Zuflucht und Heimat. Doch unser Stamm wächst auch. Er kann uns unterstützen, wenn wir uns auf Abenteuer einlassen und Risiken eingehen. Aber er bleibt die Welt, in die wir heimkehren. Als persönlicher und politischer Freundeskreis ist unser Stamm viel mehr als ein «-ismus». Er muss Pluralität nicht ablehnen. Im Gegenteil: Nur mit einem starken Stamm sind wir in der Lage, die Risiken einzugehen, eine Welt wahrer Pluralität und eines wahren Kosmopolitismus aufzubauen – die nicht auf Weltbürgertum abzielt, sondern darauf, sich in die Ungewissheit einer politischen Welt der Stämme zu wagen.

Roger Berkowitz