Eine Kolumne der «New York Times» hat den Autor als Teenager inspiriert, Mut in schwierigen Zeiten zu bewahren. Hält das Rezept in unseren Zeiten sozialer Medien, künstlicher Intelligenz und einer Vielzahl von Konflikten stand?
Besonders für liberale, mitfühlende und sensible Menschen liegt der Gedanke nahe, dass ihre Welt zusammenbricht und in den Strudel immer grösserer Katastrophen gerät, die vertraute Normen und Regeln in den Abgrund reissen. Nachrichten aus Israel, Gaza und der Ukraine; die womöglich neuerdings noch gewachsene Gefahr, dass der Iran Atomwaffen entwickelt; die Sorge, dass die Vereinigten Staaten auf eine Diktatur zusteuern und der wachsende Autoritarismus weltweit haben die Perspektive unzähliger Menschen getrübt – und das ist nur eine kleine Liste der Dinge, die anscheinend furchtbar schieflaufen. Dabei bleiben der explosionsartige Anstieg von Antisemitismus und anderen Formen des Hasses ausser Acht, ganz zu schweigen von zunehmenden Anzeichen des Klimawandels und Ausbrüchen von Masern und anderen Virusepidemien, die einst als Krankheiten der Vergangenheit galten.
Populäre Unterhaltung
Vielleicht gehören Sie zu den Menschen, die sich heute vor Nachrichten «schützen» wollen oder nach Mitteln zur Beruhigung ihrer angegriffenen Nerven suchen. Die Weltgesundheitsorganisation berichtet von einem 50-prozentigen Anstieg der Zahl von Menschen mit Depressionen in den letzten Jahren. Ursachen sind häufig sozialer Stress und Isolation. Sogar die populäre Unterhaltung nimmt zunehmend düstere Züge an und bietet etwa Filme um Zombies und globale Epidemien. Letztlich dürfen in diesem deprimierenden Überblick die sozialen Medien nicht fehlen, die – neben positiven Seiten – doch enormen Hass entfesselt und Polarisierung, Extremismus und Grausamkeit gefördert haben.
Deshalb haben viele, um sich selbst zu schonen, «Urlaub» von sozialen Medien genommen oder schlicht den Kontakt zu Menschen abgebrochen, deren Werte im Widerspruch zu ihren eigenen stehen. Andere haben den Nachrichtenkonsum gestoppt, während wieder andere ihr Engagement im «Widerstand» oder sozialen Aktivismus verdoppelt haben. Ich mache bei all dem keine Ausnahme. Doch in letzter Zeit kam mir eine vor 52 Jahren in der «New York Times» publizierte Kolumne wieder in den Sinn. Ich habe das Stück als Teenager ausgeschnitten und seither aufbewahrt. Auf vergilbtem und brüchigem Papier führt der Text zurück in eine Zeit, in der die Stimmung womöglich noch düsterer war als unserer Tage.
Unter dem Titel «The Years Against the Hours» schrieb James Reston (1909–1995), einer der einflussreichsten und populärsten Journalisten seiner Zeit, über einen Tag am Sommerende. Er bereitet sein Haus auf Martha’s Vineyard für den Winter vor, räumt auf und denkt an seine Abreise: «...normalerweise eine melancholische Angelegenheit.» Doch die Pflicht biete auch Trost: «Die alten Häuser in dieser Region muten alle an wie Dachgeschosse unserer Wohnhäuser im übrigen Jahr. Die Böden sind meist kahl und etwas sandig, die Möbel gemütlich-schäbig und die Wände stehen voller alter Bücher, hinterlassen von den Fluten vergangener Generationen, früherer Besitzer und Mieter.»
Hungersnot und Umweltverschmutzung
Die Bücher haben es Reston besonders angetan: «Irgendwie enthalten sie dieses Jahr eine beruhigende Botschaft. Denn inmitten all der gegenwärtigen Schreie und Warnungen vor Hungersnot und Umweltverschmutzung scheinen uns diese alten Bücher von echten Katastrophen zu erzählen, die irgendwie überwunden wurden, von drohenden Katastrophen, die nie eintraten, von liebenswürdigen und sogar bösen Schurken, die heute alle vergessen sind.» Er lässt den Blick über die leeren Räume wandern: «Wenn ich über die Tischtennisplatte, die Fahrräder, die Werkbank und die Waschmaschine und den Trockner in unserem grossen Abstellraum schaue, begegnen mir Bücher über die Luftschlacht um England, El Alamein, Stalingrad und die Ardennen wieder.»
Dazu komme ein ganzes Regal mit alten Kongressverzeichnissen, voll mit den Namen und Taten ehemaliger Senatoren, Abgeordneter und Kabinettsmitglieder, die heute nicht mehr als Fussnoten der Republik seien: «Daneben stehen Schreckensbücher in Hülle und Fülle: über die ‹monolithische› kommunistische Welt, die im Gleichklang zur Musik Moskaus tanzt.» Reston nennt «Rote Spione in der UNO» von Pierre J. Huss, aber auch «Nelson Rockefeller über die Notwendigkeit einer Föderation im Atlantik und von Luftschutzbunkern in jeder amerikanischen Stadt, um uns vor der kommenden Katastrophe zu schützen. Und schreckliche Vorhersagen darüber, was die Maschine dem modernen Menschen antun würde.» Und das sei vor der Publikation von «Ms.» im Jahr 1971 gewesen, also der bahnbrechenden, feministischen Zeitschrift von Gloria Steinem.
Fussnoten der Geschichte
Könnte es also sein, dass Donald Trump, J.D. Vance, Stephen Miller und andere Mitglieder ihrer Regierung ebenso wenig das Ende Amerikas einläuten wie es Richard Nixon, Spiro Agnew und John Mitchell getan haben? Sie alle fanden schliesslich «ihren Platz in den Fussnoten der Geschichte», wie Reston schrieb. Ist es möglich, dass selbst der Trumpismus und die MAGA-Bewegung eines Tages in Vergessenheit geraten und Amerikas Aufmerksamkeit nicht stärker fesseln als die «Rote Gefahr» und die Übel des McCarthyismus? Wird die Welt Ungarns Viktor Orbán und Irans Ali Khameini bald so schnell vergessen wie Baschar al-Assad in Syrien?
Diese Fragen löst Restons Kolumne heute bei mir aus. Es ist aber auch möglich, dass soziale Medien und künstliche Intelligenz – zwei Elemente, die es zu Restons Zeit noch nicht gab – Desinformation noch stärker verankern und Veränderungen erschweren. Es ist auch denkbar, dass heutige Machthaber und Möchtegern-Autoritäre… Ja, es bleiben Zweifel. Denn die autoritären Figuren unserer Tage haben aus der Vergangenheit gelernt und demokratische Institutionen bereits in einem Ausmass beschädigt, das eine Reparatur weder simpel noch auf die Schnelle machbar erscheinen lässt. Dies müssen liberale Politiker derzeit in Polen nach acht Jahren unter einer hart-rechten, populistischen Führung feststellen.
Politische Bedingungen
Hier bietet der auf Substack aktive Pädagoge (JimBuie.substack.com) auf Anfrage von aufbau Rat und sagt zu Restons Kolumne: «Das sind schwierige Fragen. Aber meine Kenntnis der Geschichte zeigt, dass diese nicht in zwei Jahren geschrieben wird.» Buie lebt in North Carolina und führt seinen eigenen Bundesstaat als Beispiel an: «Politische Bedingungen können sich sehr schnell ändern.» North Carolina habe im letzten November den Demokraten Josh Stein überraschend und mit einer starken Mehrheit als Gouverneur gewählt: «Die Republikaner sind dort in einer schlechten Position.» Sollten die Demokraten 2026 beide Häuser des Kongresses zurückerobern, «wäre Trump politisch erledigt».
Buie vergleicht Politik auch mit der Physik, wo jede Aktion zu einer gleich grossen und entgegengesetzten Reaktion führt: «So sehr der Trumpismus auch gesiegt hat, er könnte eine Gegenbewegung auslösen, die noch viel weiter reichen könnte.» Als ein Beispiel unter vielen zieht er die dramatische Epoche Amerikas zwischen den späten 1850er Jahren und 1866 an. Zunächst wurde James Buchanan Jr. zum Präsidenten gewählt. Der Politiker aus Pennsylvania hatte die Sklavenstaaten unterstützt und gilt aufgrund seiner Unentschlossenheit bei dem zunehmenden Konflikt zwischen Nord- und Südstaaten als mitverantwortlich für den Ausbruch des Bürgerkriegs 1861. Aber fünf Jahre später verlieh der Kongress nach dem Sieg der Unionsarmeen mit dem 14. Verfassungszusatz den befreiten Sklaven die Staatsbürgerschaft. Von daher stimmt Buie dem Historiker Timothy D. Snyder aus dessen Buch «On Tyranny: Twenty Lessons from the Twentieth Century» aus dem Jahr 2017 zu: «Geben Sie nicht im Voraus auf.»
Taktik der Regierung
Der Rat hat einiges für sich. Dass Trump und seine Gefolgschaft letztlich zu Fussnoten werden könnten, entledigt seine Gegner keineswegs von der Pflicht zu Opposition oder Widerstand. Reston formulierte vor 52 Jahren: «Vielleicht wurden sowohl die realen als auch die eingebildeten Katastrophen überwunden oder vermieden, weil die Menschen sich so darüber aufgeregt haben» – so wie Trumps Gegner heute gegen die Taktik der Regierung beim Zusammentreiben von Migranten protestieren.
Aber «die Bücher in den Regalen hinter Waschmaschine und Trockner in diesem alten Haus sagen uns etwas», liess Reston seine Gedanken enden: «Die Fieber der heutigen Zeit sind nicht unbedingt tödlich.» Dann führt der in einfachsten Verhältnissen in Schottland geborene Reston auf dem Höhepunkt seiner Karriere in den USA zwei seiner liebsten Zitate aus dem 19. Jahrhundert an. Ralph Waldo Emerson, der amerikanische Schriftsteller und Philosoph, ruft Nachgeborenen zu: «Die Lektion des Lebens ist, zu glauben, was die Jahre und Jahrhunderte im Vergleich zu den Stunden sagen». Und der schottische Historiker Thomas Carlyle erinnert an die Verantwortung eines jeden von uns: «Werde ein ehrlicher Mensch, dann kannst du sicher sein, dass es einen Schurken weniger auf der Welt gibt.»
Doug Chandler berichtet aus New York vorwiegend für jüdische Medien.