Ein Aufenthalt ihrer Söhne in Israel bringt eine jüdische Familie in New Jersey aus der Balance. Ihre Geschichte zeigt, wie vielfältig die Bande zwischen dem jüdischen Staat und der Diaspora im Alltag sind.
Am Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv gelandet, gehe ich zur Passkontrolle und Gepäckausgabe eine lange, sanft geneigte Rampe hinunter. An den Seiten der Rampe hängen Fotos der Hamas-Geiseln – der Freigelassenen, der noch in Gefangenschaft befindlichen und der Getöteten. Gedenkstätten sind entstanden: An jedem Foto hängen Luftballons, sie sind mit Notizen, Stofftieren und anderen kleinen Gaben dekoriert. Diese lebendigen Erinnerungen an den Terroranschlag vom 7. Oktober 2023 machen mich traurig und hilflos.
Vor zwanzig Jahren hätte ich nie gedacht, dass ich einmal so häufig nach Israel reisen würde. Mein erster Besuch war im Winter 2005. Damals nahm mein zweiter Sohn als 18-Jähriger am «Young Judaea Year Course» teil, einem Angebot für jüdische Schulabsolventen, die vor weiteren Lebensentscheidungen eine Pause einlegen und neun Monate in Israel verbringen wollen (https://www.youngjudaea.org/programs/yearcourse/). Ich war noch nie zuvor in Israel gewesen.
Kulturelles Judentum
Ich bin in einer jüdischen Familie aufgewachsen. Wir lebten in Killingworth, einer Kleinstadt im ländlichen Zentrum von Connecticut, und zogen später nach Madison an der Küste. Mein Vater und dessen Eltern waren Geflügelzüchter mit eigenen Höfen. Unser Judentum war kulturell, mit einem starken Sinn für «Jiddischkeit». Mein Vater war Amerikaner der ersten Generation. Seine Eltern hatten sich in den «Sweat Shops» kennengelernt, den ausbeuterischen Betrieben der Textilindustrie an der Lower East Side von Manhattan. Er sprach fliessend Jiddisch. Wir waren spirituell säkular, abgesehen von den grossen Pessach-Sedern auf dem Bauernhof meiner Grosseltern in Guilford, Connecticut, die meist auf Hebräisch abgehalten wurden. Auch mein Grossvater war nicht wirklich religiös und sagte oft: «Wenn es einen Gott gibt, warum gibt es dann einen Holocaust?»
Meine Schwester und ich waren die einzigen Juden in unserer Grundschule. Als ich elf war, kam eine andere jüdische Familie nach Madison. Wir wurden zwar gelegentlich als Juden beleidigt, fühlten uns aber insgesamt akzeptiert. Meine Mutter bestand darauf, dass wir an den Feiertagen Rosch Haschana und Jom Kippur je einen Tag von der Schule frei nahmen. Nicht so sehr, um an einem Gottesdienst teilzunehmen – wir besuchten eine kleine Synagoge, die etwa 50 Kilometer entfernt lag –, sondern um unserer Umwelt zu zeigen, dass wir unsere eigene Religion respektierten. Die Leute in unserer Gemeinde gingen regelmässig in ihre Kirche. Gelegentlich habe ich mit Freundinnen und Freunden eine Mitternachtsmesse oder den Gottesdienst am Sonnenaufgang besucht. Meine Freunde fragten uns über das Judentum aus und erwarteten Antworten. Sie gingen davon aus, dass wir unsere Bräuche und Glaubensvorstellungen genauso befolgten wie sie ihre Religionen.
Keinen Bezug
Das College eröffnete mir eine neue Welt. Ich traf viele jüdische Jugendliche und etliche, die es ernst genug nahmen, um freitagabends und an hohen Feiertagen den Gottesdienst zu besuchen. An Feiertagen luden Mitglieder der örtlichen Synagogen Studierende wie mich zum Essen ein. Ich besuchte die Gottesdienste, wenn auch selten; ich war mit Freunden zusammen und wurde gut verpflegt.
Trotzdem fand ich nie einen spirituellen Bezug zum Judentum. Als ich meinen zukünftigen Mann traf, hatten weder er noch ich eine Affinität zur Religion. Ein College-Freund meines Mannes, der damals für das Rabbinat studierte, führte unsere Trauung durch. Meine Mutter war eine Friedensrichterin und unterschrieb und beglaubigte die rechtlichen Dokumente. Wir zogen 1987 nach New Jersey und leben dort bis heute, rund 45 Minuten südlich von New York City mit der Bahn.
Hier erzogen wir in den folgenden Jahren unsere drei Kinder mit demselben Sinn für «Jiddischkeit»: einer emotionalen Bindung an die Kultur und Identität ohne die rituellen Vorschriften. Wir liessen ihnen freie Wahl bei der Einbeziehung des Glaubens bei der Schulausbildung. Jacob, unser Ältester, unternahm in der Hinsicht gar nichts. Unser zweiter Sohn, Nathan, ging auf eine säkulare, humanistische Schule mit Schwerpunkt auf jüdischer Kultur, Literatur und Geschichte. Unsere Tochter Lydia wählte eine Reformsynagoge für die Bat Mizwa, die sie mit ihrem Freundeskreis feierte – inklusive Catering und DJ.
Es zog sie nach Israel
Dann beschloss Nathan, vor dem Studium ein Jahr in Israel zu verbringen. Dort wurde er angesprochen und nach seinen Plänen für den Schabbat gefragt. Er war erst neugierig und dann begeistert von der Erfahrung. Als Geschichtsstudent – er unterhielt uns mit seinen auswendig gelernten Drehbüchern aus amerikanischen Bürgerkriegsfilmen, komplett mit musikalischen Soundeffekten – stand er plötzlich Rabbinern gegenüber, die ihr Leben lang die Geschichte der Juden studiert hatten. Nathan sah sich herausgefordert und bat Young Judea – das Programm ist nicht komplett auf Religion abgestellt –, ihm Zeit für das Thora-Studium zu geben. Nach Abschluss des Jahres reiste er zwischen den USA und Israel hin und her, absolvierte ein Semester am College und kehrte nach Israel zurück, um in einer Jeschiwa zu leben und zu studieren. Dort setzte er sein Thora-Studium als orthodoxer Jude fort. Er fühlte sich willkommen als Teil einer Gemeinschaft, in der man sich umeinander kümmert, und er liebte das Land wegen seiner Vitalität und jüdischen Identität.
Strenge des Thora-Lernens
Im Winter 2005 machten wir einen Familienurlaub, um ihn zu besuchen. In der Zwischenzeit hatte der zwei Jahre ältere Jacob das College nach 18 Monaten abgebrochen, weil er sich nicht vorschreiben lassen wollte, was er lesen oder studieren sollte. In Israel fand er einen Ort, der ihn willkommen hiess und ihm die Freiheit gab, seinen eigenen spirituellen Weg zu gehen. Er empfand sowohl die Strenge des Thora-Lernens als auch die Rituale der Praxis als erhebend. Er hatte einen höheren Sinn im Leben gefunden und entschied sich, in Israel zu bleiben. Unsere Jungs lebten und studierten dann etwa ein Jahr lang zusammen.
Beide wurden innerhalb von zwei Jahren zu «Baal Teschuva», also «Einem, der zurückkehrte», und nahmen das orthodoxe Judentum an. Nun begann eine turbulente Zeit. Nathan zog gut zwei Jahre lang hin und her, bis er sein Studium an einem hiesigen College und einer Jeschiwa abgeschlossen hatte. Dann blieb er in New York und machte 2016 Alija. Auch Jacob wechselte seinen Wohnort zwischen Israel und den USA, liess sich aber 2010 fest in New Jersey nieder. Er lebt etwa 45 Minuten von uns entfernt. Beider Alltag wurde rasch von der Einhaltung der Rituale bestimmt. Sie assen nur noch koschere Lebensmittel.
Der Belastungstest der Orthodoxie
Die Schinken-Käse- oder Salami-Sandwiches ihrer Schulzeit kamen nicht mehr in Frage für sie. Alle Lebensmittel mussten einen «Hechscher» tragen, das Symbol auf Verpackungen, das anzeigt, dass das Produkt den jüdischen Speisegesetzen entspricht, den Kaschrut. Sie änderten ihre Vornamen in die hebräischen Entsprechungen: Jacob wurde zu Yaakov und Nathan zu Natan. Sie brachten an jedem Türpfosten eine Mesusa an, beteten dreimal täglich, trugen Kippot und Tallit, legten Tefillin an, studierten ganze Thora-Texte und sprachen Brachas oder Segenssprüche über alles, was sie assen und tranken.
All das war ein völliger Schock für meinen Mann und mich. Die Störung unseres normalen Familienlebens war enorm. Im Nachhinein gesehen hätten wir vielleicht «nein» sagen sollen. Aber wir hatten das Gefühl, dass sie weder sich selbst noch anderen schadeten. Und beide schienen von ihrem neuen Glauben begeistert zu sein. Ich bemühte mich sehr, ihnen entgegenzukommen, kaufte zusätzliches Geschirr und Töpfe, bereitete koscheres Essen und informierte mich über den Hechscher.
In ihrer Gegenwart kleidete ich mich bescheiden (die grundlegende Kleiderordnung lautet: Schlüsselbein, Ellbogen und Knie bedeckt). Wir erlaubten ihnen, überall im Haus Mesusot anzubringen. Wir gingen mit ihnen in koschere Restaurants. Aber das war nicht immer so einfach und auch nicht immer so lustig. Sie assen nicht bei anderen Mitgliedern unserer Familie. Sie besuchten uns nicht am Wochenende, weil wir den Schabbat nicht als Tag der Ruhe einhielten. Lichter konnten nicht an- und ausgeschaltet werden. Kochen musste im Voraus erledigt werden. Das Geschirr stapelte sich, da vor dem Schabbat keine Zeit zum Abwaschen blieb. Mein Mann arbeitet unter der Woche, das Wochenende war unsere gemeinsame Zeit. Ich nannte sie weiterhin bei den Namen, die ich ihnen bei der Geburt gegeben hatte.
Die Heiratsvermittler
Im orthodoxen Judentum gilt «Schomer Negja», das Verbot, vor der Ehe ein Mitglied des anderen Geschlechts ausserhalb der eigenen Kernfamilie zu berühren, einschliesslich Freunden und Freundinnen. Daher verabreden junge Menschen mit Heiratsabsichten Treffen an öffentlichen Orten miteinander. Viele nutzen einen Heiratsvermittler (denken Sie an Yente in «Anatevka»), der für einen Mann Schadchan und für eine Frau Schadchanit genannt wird. Die Heirat selbst heisst «Schidduch». In Israel ist es nicht ungewöhnlich, junge Paare in Hotellobbys oder Cafés bei einem Date zu sehen. Ein Paar trifft sich ein paar Mal und entscheidet, ob es für eine Ehe zusammenpasst oder nicht. Jacob begann diese Art der Verabredung in Israel. Nathan lernte eine junge Frau kennen, als beide noch studierten. Beide Söhne heirateten 2009. Ich bemühte mich weiterhin, ihnen das Gefühl zu geben, bei uns willkommen zu sein, und kam den Wünschen ihrer Frauen entgegen, die ebenfalls orthodox waren.
Ich habe neben meiner Tätigkeit als Lehrerin auch Bücher für Jugendliche und Kinder geschrieben. So wurde das Schreiben ein Weg für mich, meine Gefühle über die Umbrüche in unserer Familie und unsere Erfahrungen auszudrücken – sowohl die Frustrationen als auch das, was ich attraktiv fand. Ergebnis war «The Shabbos List» («Die Schabbat-Liste») über eine Familie, die Ähnliches durchmacht. Das Drama wurde 2014 bei einem Theaterfestival in New York City aufgeführt und porträtierte einen jungen Mann, der von einem Jahr in Israel zurückkehrt und nun religiöser ist als seine Familie. Er hat eine nichtjüdische Freundin und eine Schwester, die in Highschool-Musicals mitspielt. Er präsentiert der Familie eine Liste mit allen Geboten und Verboten zur Einhaltung des Schabbats. Die Geschichte dreht sich um die Reaktionen seiner Familie und Umwelt auf seine Veränderung und seine Anforderungen an sie und endet mit einer gewissen Akzeptanz.
Obwohl ich das Stück als fiktiv angelegt hatte und es für mich sicherlich kathartisch war, erkannten viele Verwandte und Freunde meine Familie in den Figuren. Mein zweiter Sohn und seine Frau empfanden es als verletzend. Sie machten Alija und zogen 2016 mit vier Kindern unter sechs Jahren nach Israel. Es dauerte ein Jahr, bis ich zu einem Besuch eingeladen wurde. Jacob und seine Frau lernten sich in Israel kennen und kehrten 2010 mit einem Einjährigen in die USA zurück.
Und doch geht die Geschichte weiter
Seit ich 2017 erneut begann, Israel zu besuchen, bin ich viele Male zurückgekehrt. Ich habe das Land von oben bis unten bereist, die Sehenswürdigkeiten in den Städten und viele archäologische Stätten im ganzen Land besichtigt. Es als kompliziertes Land zu bezeichnen, wäre eine gewaltige Untertreibung. Ich will mich hier nicht über die israelische Politik auslassen. Doch die Aussage «Wir sind noch da» hat eine tiefe Bedeutung für mich. Trotz der Geschichte von Verfolgungen, der Inquisition und dem Holocaust überlebte die jüdische Kultur. Das Judentum hat sich weiterentwickelt – in Israel und der gesamten Diaspora wird ein breites Spektrum an religiösen Bräuchen praktiziert. Antisemitismus hält an, wie die Terroranschläge vom 7. Oktober 2023 und ihre Folgen zeigen. Ich verstehe den Stolz vieler auf die Nation, die sie als ihre Heimat gewählt haben.
Israel ist ein Land der Kontraste. Es gibt Berge und Meere, Wälder und Wüsten. Es gibt Juden aller Couleur, aus aller Welt. Es gibt Christen und Araber. In den Grossstädten leben die Menschen friedlich Seite an Seite. Meine Enkelkinder fahren mit Bus und Stadtbahn und sitzen dort neben arabischen Kindern. Arabische Mütter, ähnlich gekleidet wie orthodoxe Mütter, manövrieren ihre Kinderwagen durch überfüllte Märkte und steigen in Busse ein und aus. Wenn ich dorthin reise, sorgt sich meine Schwester um meine Sicherheit. Doch in einem Land, in dem das offene Tragen von Waffen legal ist, gibt es keine willkürlichen Schiessereien an Schulen wie hier.
Und doch geht die Geschichte weiter. 2018 liess uns Jacob wissen, dass er und seine Frau sich trennen würden. Seine einstige Leidenschaft für religiöse Bräuche war erloschen. Er hatte allmählich begonnen, Rituale und Regeln in Frage zu stellen. Seine Frau blieb dem orthodoxen Judentum treu. Sie liessen sich scheiden. Sie hatten drei Kinder. Inzwischen hat er eine säkulare Israelin geheiratet. Sie haben eine kleine Tochter und leben in den USA. 2019 teilte Nathans Frau ihm mit, sie sei seit anderthalb Jahren in einer lesbischen Beziehung. Sie liessen sich 2020 scheiden, und er heiratete erneut eine gläubige Frau, die ursprünglich aus den USA stammte, aber Alija gemacht hatte. Neben den sieben Kindern aus seiner ersten Ehe hat er zwei kleine Söhne.
Obwohl ich Nathan und seinen Lebensstil akzeptiert habe, wünsche ich mir, er wäre nicht so kategorisch in seinen Ansichten. Er und seine Frau werden die Kinder (jetzt neun) nicht über den Sommer zu uns schicken. Wir müssen die lange Reise auf uns nehmen. Ich habe ihnen gesagt, dass ich sie besuchen werde, solange ich das kann – und dass ich irgendwann zu alt dafür sein werde. Ich hoffe, meine Enkel werden die Wahl über die Gestaltung ihrer Existenz haben, so wie ihre Eltern bei uns. Sie sollen ihren Träumen, ihrer Ausbildung, ihren Berufungen und ihren Beziehungen frei folgen können.
Lisa K. Winkler lebt in New Jersey, war als Zeitungsreporterin tätig und wurde später Mittelschullehrerin. Sie bleibt dem Schreiben mit Beiträgen für Fachmedien treu und hat zudem Gedichte, Dramen sowie Bücher für Kinder und Jugendliche verfasst, zuletzt «On the Trail of the Ancestors: A Black Cowboy’s Ride Across America». Sie ist auf lisakwinkler.wordpress.com und mit lisakwinkler auf Substack präsent.