Schwerpunkt – Hannah arendt 06. Okt 2025

Urteil in der Arena

Hannah Arendt im berühmten Interview mit Günter Gaus aus dem Jahre 1963, projiziert in der Ausstellung des Deutschen Historischen Museums.

Die Urteilskraft von Hannah Arendt zeugte von Selbstbewusstsein in der Zeit – der Historiker Raphael Gross blickt aus der Retrospektive auf Debatten, präzise Voraussagen oder Irrtümer.

Am 27. März 2020 eröffneten wir im Deutschen Historischen Museum unsere Ausstellung «Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert». Wir orientierten uns bei der Wahl dieses Ausstellungstitels an einer Äusserung des Schriftstellers Amos Elon, der einmal meinte, das 20. Jahrhundert sei ohne Hannah Arendt gar nicht zu verstehen. Sie sei zum Befremden ihrer Kritiker und zur Freude ihrer Bewunderer die wohl umstrittenste und womöglich einflussreichste politische Denkerin ihrer Zeit. Ob der Superlativ sich halten lässt, das scheint mir nicht sicher. Auf jeden Fall aber ist Arendt ganz besonders im deutschsprachigen Raum enorm populär, so populär, dass man ihr Lebenswerk sogar in einem Museum zeigen konnte, welches auf ein breites Publikum ausgerichtet ist. Die Ausstellung eröffnete dann allerdings unter denkbar oder, präziser, fast undenkbar komplizierten Umständen: Denn ab dem 14. März 2020 war das Museum wegen der später in ganz Deutschland in Kraft getretenen Kontaktbeschränkungen zur Vermeidung der Ausbreitung des Corona-Virus geschlossen. Die letzten Tage des Aufbaus standen im Schatten einer bisher noch unbekannten Pandemie mit massiven sozialen, gesundheitlichen und politischen Folgen. Die Ausstellung wurde zu einem Zeitpunkt fertig, als wir gar keine Besucher ins Haus lassen durften. Wie ein Bühnenbild ohne Zuschauer wartete sie auf ihr Publikum. Als wir unser Ausstellungsgebäude ab dem 11. Mai 2020 unter Auflagen, die möglichst viel Abstand zwischen den Besuchern verlangten, dann schliesslich öffnen durften, kamen sie überaus zahlreich – Schlangen bildeten sich vor dem Eingang des Gebäudes bis zum Spree-Kanal. Der zur Ausstellung gehörende Katalog schaffte es schon zuvor auf die SPIEGEL-Bestsellerliste. Arendt gehört gerade bei nicht-jüdischen Deutschen zu den beliebtesten deutsch-jüdischen Persönlichkeiten.

Zwischen Fest und Eichmann
Solche Beliebtheit reichte bis zu den Querdenker-Demonstrationen, die ab April 2020 ebenfalls in Berlin präsent waren und bis zu 40 000 Menschen anzogen: Dort tauchte das Ausstellungsplakat mit dem Satz «Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen» auf. Der Satz bezieht sich auf ein Radiointerview mit Arendt aus dem Jahre 1964, das Joachim Fest mit ihr führte und ihr umstrittenes Eichmann-Buch zum Thema hatte. Hier argumentierte sie in Übereinstimmung mit Kant gegen Eichmann: «Kein Mensch hat bei Kant das Recht zu gehorchen. Das einzige, was Eichmann von Kant übernommen hat, ist diese fatale Geschichte mit der Neigung.»

Kant ist aber noch aus einem anderen Grund wichtig. In seiner Schrift «Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung» aus dem Jahre 1784 geht es ihm um das eigenständige Urteilen, weshalb wir am DHM uns so stark auf ihn beziehen. Im Urteilen sieht Kant tatsächlich eine positive Verpflichtung: Wir Menschen sollen Verstand und Vernunft nutzen und unsere selbstverschuldete Unmündigkeit ablegen. Das bringt uns unmittelbar zum tatsächlichen Grund, weshalb wir am DHM mit Monika Boll eine Ausstellung über Hannah Arendt gemacht haben. Denn bei Arendt finden sich Zeit ihres Lebens immer wieder neue Versuche, sich ein ganz eigenes Urteil über politische Ereignisse zu erarbeiten und diese dann nachdrücklich öffentlich zu vertreten.

Historische Urteilskraft
Seit ich 2017 die Leitung des DHM übernahm, habe ich den Begriff der «Historischen Urteilskraft» ins Zentrum des Museumsprogramms gestellt. Historische Urteilskraft bezieht sich dabei eben auf Kant, der sich in seiner berühmten dritten Kritik mit dem Urteilen auseinandergesetzt hat. Hannah Arendt hat den Begriff in ihrer Auseinandersetzung mit Kant am Rande gestreift. Sie benutzt den Begriff «Historische Urteilskraft» in dieser direkten Kombination allerdings nicht. Übertragen erscheint er bei ihr im Sinne der Fähigkeit, verwandte, singuläre Ereignisse einzuordnen, in ihrem Denktagebuch. Dort schreibt sie etwa im Juli 1951: «Die Fähigkeit des Urteilens hängt nicht vom Wissen ab, sondern vom Sich-an-die-Stelle-des-anderen-Versetzen.»

Für Kant hat der Begriff «Urteilskraft» systematische Bedeutung in seiner Theorie des Erkenntnisvermögens, die ich hier nicht im Einzelnen erläutern will. Mich interessiert hier der spezifische Begriff «historische Urteilskraft». Bereits 1803 gebraucht Kant ihn in seinen Vorlesungen über Pädagogik. Dort schreibt er: «Die historische Urteilskraft ist die Fähigkeit, das, was man lernt, zu verknüpfen und im Gedächtnis in einer gewissen Ordnung zu behalten, so dass es, wenn es erfordert wird, gebraucht werden kann.» Später hat der Historiker Johann Gustav Droysen den Begriff aufgegriffen und präzisiert: «Die historische Urteilskraft ist diejenige, welche uns befähigt, das überlieferte Zeugnis, die Quellen, kritisch zu prüfen, zu verstehen und das Vergangene in seiner eigenen Wirklichkeit zu erfassen.» Anders als die juristische oder die moralische Urteilskraft, so führt er weiter aus, würde die historische nicht richten, sondern begreifen. Diese Fähigkeit des Begreifens, die im Begriff der «Historischen Urteilskraft» steckt, hat mich für das DHM fasziniert. Wobei es nahe lag, das Konzept gerade auf Arendt anzuwenden. Denn zum einen hat sie wie keine andere Denkerin versucht, eigenständig historische Ereignisse zu verstehen, zu beurteilen und ihre Urteile im öffentlichen Streit zu verteidigen. Zum anderen hat sie sich, wie beschrieben, selbst auch theoretisch mit dem Urteilen und insbesondere dem Urteilen bei Kant auseinandergesetzt.

Kunstgeschichtsschreibung
Der Fokus auf die «Historische Urteilskraft» im Museumsprogramm führte zum einen zu einer Reihe von bisher sieben jährlich stattfindenden internationalen Symposien, die jeweils in einem Heft desselbigen Titels ihren schriftlichen Niederschlag finden. Zum anderen kommt er auch im Ausstellungsprogramm zum Ausdruck. In immer neuen Versuchen wird hier das Thema vertieft. Die erste Ausstellung (nach einer Skizze von Peter C. Caldwell) versuchte die Weimarer Republik unter dem Titel «Weimar: Vom Wesen und Wert der Demokratie» (2019) aus einer neuen Perspektive zu betrachten – nämlich derjenigen der Demokraten. Die Ausstellung über die Geschichte der «documenta» und die Liste der «Gottbegnadeten»-Künstler des NS in der BRD (beide 2021) eröffneten aus historischer Perspektive Fragen, welche die deutsche Kunstgeschichtsschreibung bis dahin vielfach übersehen oder nur marginal behandelt hatte. Schliesslich die noch heute extrem gut besuchte und breit besprochene Ausstellung von Dan Diner »Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können» (2023–2026), eine Art historisches Experiment, welches Kipppunkte in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts neu beleuchtet. Sie ist ein Versuch, Wege auszuleuchten, die historisch jeweils offen schienen, aber eben dann nicht begangen wurden – manchmal mit Bedacht, manchmal aufgrund dessen, was man vielleicht den historischen Zufall nennen kann. Für den Begriff der «Historischen Urteilskraft» ebenfalls relevant war natürlich die Ausstellung, kuratiert von Liliane Weissberg, «Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert» (2024–2025). Darin war das für mich vielleicht eindrücklichste Exponat ein «Gängelband» aus dem 18. Jahrhundert, ein Band, mit dem kleine Kinder beim Laufenlernen geführt oder an die Hand genommen wurden. Das Exponat ist daher so wichtig, da Kant in seiner oben genannten Schrift die Metapher des «Gängelwagens» heranzieht. Und so ist seine Forderung nach dem Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit seit damals mit dem Begriff des hier real gezeigten Gängelbandes verschmolzen.

Die jüdische Armee
Zurück zur Ausstellung über Arendt. Sie beschäftigte sich nicht mit ihren philosophischen oder politikwissenschaftlichen Werken. Sie versuchte vielmehr, diese vielleicht berühmteste Kommentatorin des 20. Jahrhunderts daraufhin zu betrachten, wie sie jeweils auf singuläre Ereignisse ihrer Zeit reagierte. Das tat sie meist eher in kurzen Essays und tagesaktuellen Interviews für Printmedien oder in Radio- und Fernsehinterviews. Wir konfrontierten die Besucher auf zwei Etagen des Hauses mit Arendts oftmals sehr dezidierten Urteilen zu zentralen Ereignissen ihrer Zeit: Zu der sogenannten Emanzipation der deutschen Juden seit Rahel Varnhagen – war die nun geglückt oder missglückt? – oder zur Frage nach der Notwendigkeit einer jüdischen Armee lange vor der Staatsgründung Israels war Arendt für die Errichtung einer solchen, worüber sie in ihrem Artikel «Die sogenannte Jüdische Armee» im «Aufbau» vom 22. Mai 1942 schrieb (vgl. Seite 48). Als wir 2020 die Ausstellung zeigten, war auch Arendts Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus von grosser Aktualität und Auslöser neuer Debatten: Dabei ist es bemerkenswert, wie wenig Arendt jemals ein Auge für die deutsche Kolonialgeschichte entwickelt hatte, während sie gleichzeitig durchaus viel über koloniales Unrecht nachdachte. Behandelt haben wir auch ihre Rolle bei der Frage von Restitution jüdischen Raubguts: Zwischen 1949 und 1952 arbeitete Hannah Arendt als Executive Secretary der Jewish Cultural Reconstruction, Inc. (JCR) und koordinierte u.a. in Europa Erhebungen und Übergaben von Bibliotheks- und Archivbeständen, die nach 1945 keinen identifizierbaren Eigentümer mehr hatten. Sie kümmerte sich also um eine Folge der Shoah, die noch heute nicht gelöst ist. Weiter behandelten wir ihre Haltung zur Ungarischen Revolution, den 68ern und ihre heute vor allem vielen feministischen Leserinnen und Lesern aufstossende Nichtbeteiligung an feministischen Debatten der Zeit. Auch um ihren besonders kontroversen Beitrag zu «Little Rock» (1959) machten wir keinen Umweg. Darin kritisierte Arendt den Einsatz von föderalen Truppen zur Beendigung der Rassentrennung an einer Schule in Arkansas und zeigte wenig Sensibilität gegenüber afroamerikanischen Perspektiven.

Für unsere Ausstellung am DHM waren alle diese Kontroversen, zu denen sich Arendt öffentlich geäussert hat, relevant. Denn wir wollten ihr beim Urteilen zuschauen. Und wir wollten es den Besuchern nicht abnehmen, sich selbst wiederum ein eigenes Urteil zu diesen einschneidenden Fragen der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu bilden.

Skulptur und Krematorium
Eine Debatte sticht dabei heraus. Sie hat auch das grösste Echo ausgelöst. Wir visualisierten sie mit einem der grössten Exponate der DHM-Sammlung: nämlich der von Mieczyslaw Stobierski (1914–1998) geschaffenen Grossskulptur eines aus Gips angefertigten Models des Krematoriums II von Auschwitz-Birkenau. Die aus meiner Sicht gar nicht so unproblematische Beliebtheit von Arendt in Deutschland beruht wahrscheinlich vor allem auf ihrer Haltung in der Debatte um Adolf Eichmann in Jerusalem. Nicht nur ihre berühmte, erstmals Gershom Scholem gegenüber formulierter Sicht auf Eichmann spielte dabei eine wichtige, vielleicht für viele Deutsche in den 1960er Jahren besonders wohltuende Rolle («Was ich in Jerusalem herausgefunden habe, ist die Banalität des Bösen. Mir ist klar geworden, dass das wirklich das war, womit wir es hier zu tun hatten.» 20. Juli 1963, Hannah Arendt an Gershom Scholem). Arendt hatte den Theresienstadt-Überlebenden als «jüdischen Führer sowohl in den Augen der Juden als auch der Nichtjuden» bezeichnet. Kritiker wiesen rasch nach, dass sie dabei ein Zitat aus «Die Vernichtung der europäischen Juden» von Raul Hilberg verfälscht hatte. Dort hiess es, «einer von Eichmanns Leuten» habe Baeck «jüdischen Führer» genannt.

Andere ihrer im Rahmen der Kontroverse gemachten Aussagen haben klassischen Status erlangt. So etwa im berühmten Günter-Gaus-Interview. Dort formulierte sie: «Dies hätte nie geschehen dürfen. (…) Dieses hätte nicht geschehen dürfen. Da ist irgend etwas passiert, womit wir alle nicht fertig werden.» Oder sie schrieb in ihrem Denktagebuch: «Auschwitz als Zivilisationsbruch bedeutet: es gibt keine Selbstverständlichkeiten mehr in Politik und Moral.»

Hannah Arendt hat das Urteilen als öffentliche Tätigkeit verstanden und praktiziert. Sie hat sich dabei weder vor Widersprüchen, Risiken oder Angriffsflächen gescheut. In diesem Sinn ist in ihrem Werk die «Historische Urteilskraft» keine akademische Kategorie, sondern eine politische Haltung. Darin liegt – bei all ihren manchmal problematischen Urteilen – ihre bleibende Aktualität. Sie fordert uns heraus, uns nicht hinter historischen Fakten zu verbergen, sondern uns zu trauen, Geschichte und Gegenwart zu beurteilen. Und hoffentlich dadurch auch eigene Verantwortung für Gegenwart und Zukunft zu übernehmen.

Raphael Gross ist Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum und Historiker.

Raphael Gross