Viel beschrieen von rechten Christen, währt der «Krieg gegen Weihnachten» in den USA schon über ein Jahrhundert. Das zeigt ein neues Buch über den Kampf jüdischer Einwanderer für die Trennung von Kirche und Staat im öffentlichen Schulwesen 1906.
An einem eiskalten Wintertag im Jahr 1906 hielten Zehntausende jüdische Eltern in Brooklyn und an der Lower East Side von Manhattan ihre Kinder vom Schulbesuch ab. Anlass war nicht etwa ein Blizzard, sondern vielmehr ein Sturm der Entrüstung. Aktivisten und die jiddische Presse hatten zum Boykott der Weihnachtsfeiern und -aufführungen aufgerufen, an denen jüdische Kinder am Tag vor dem Fest an ihren Lehranstalten teilnehmen mussten. «Juden protestieren gegen Weihnachten in den Schulen», titelte die «New York Times». Der «Brooklyn Eagle» warnte vor «Agitatoren», die der christlichen Jugend angeblich ihre Traditionen rauben wollten. Je nach Quelle war der Boykott ein mutiger Ruf nach Religionsfreiheit oder der erste Schuss in einem von rechten Christen nun schon über ein Jahrhundert beschworenen «Krieg gegen Weihnachten».
Präzedenzfall für Religionsfreiheit
Diese Episode ist Gegenstand des neuen Buches «The Great Christmas Boycott of 1906» von Scott D. Seligman. Darin rekonstruiert der Historiker, wie ein scheinbar lokaler Streit an einer Schule in Brooklyn zu einem Präzedenzfall für Religionsfreiheit und gesellschaftliche Teilhabe in den USA eskalierte. Mehr als ein Jahrhundert später bleiben die damaligen Fragen – Religion an öffentlichen Schulen und die Trennung von Kirche und Staat – laut Seligmann erschreckend aktuell: «Sobald ich auf die Geschichte stiess, wusste ich, dass daraus ein Buch werden würde». Seligman wuchs in den 1960er-Jahren in Newark, New Jersey, auf und erinnert sich lebhaft daran, dass Schulkinder damals noch das Vaterunser beten mussten: «Ich war das Kind in der öffentlichen Schule, das sich immer fragte, warum wir wie Christen beteten und warum Weihnachten überhaupt ein gesetzlicher Feiertag war.»
Das Buch ist der dritte Teil einer Trilogie Seligmans über Massenaktionen von Juden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. «The Great Kosher Meat War of 1902» (2020) erinnerte an einen erfolgreichen Verbraucheraufstand jüdischer Frauen aus der Lower East Side, die hohe Rindfleischpreise satt hatten – auch hier liegt eine Parallele zum heutigen Unmut von Verbrauchern über Inflation gerade für Hamburger und Steaks. In «The Chief Rabbi’s Funeral» (2024) untersuchte Seligman, wie brutale Ausschreitungen gegen Juden an der Lower East Side die zersplitterte jüdische Gemeinde der Stadt zu nie dagewesener Solidarität und gemeinsamen Aktionen bewegt hatte.
Die Kontroverse von 1906
Praktisch gesehen erreichte der Weihnachtsboykott von 1906 wenig und führte sogar zu antisemitischen Gegenreaktionen. Doch er schuf einen Präzedenzfall für jüdisches Engagement in der Zivilgesellschaft – und für eine breitere, nationale Debatte über Religion im öffentlichen Bildungswesen, die heute mit der Einführung der Bibel als «Unterrichtsmaterial» in republikanisch geführten Gliedstadien eskaliert. Die Kontroverse von 1906 begann ein Jahr zuvor, im Dezember 1905, an der öffentlichen Schule Nr. 174 in Brownsville. Das Viertel in Brooklyn war Heimat zahlreicher, häufig gerade erst aus Osteuropa eingetroffener jüdischer Immigranten. Diese schickten ihre Kinder eifrig auf die öffentlichen Schulen, die fast so schnell belegt waren wie sie gebaut oder renoviert werden konnten: «Katholiken hatten die öffentlichen Schulen als durch und durch protestantisch definiert aufgegeben. Juden hingegen liebten die öffentlichen Schulen – sie boten ihnen die Möglichkeit zur Integration und zum sozialen Aufstieg, wie sie es in ihrer alten Heimat nie erlebt hatten», so Seligman: «Sie wollten einfach nur den religiösen Einfluss an den Lehranstalten loswerden.»
In einer Schulversammlung am Tag vor Weihnachten 1906 las der presbyterianische Schulleiter F. F. Harding aus einem Text mit dem Titel «Weisheiten aus der Bibel und den Sprüchen Salomons» vor und wandte sich anschliessend an seine 500 Schüler, fast alle jüdischer Herkunft: «Nun, Jungen und Mädchen, in dieser Zeit des Jahres möchte ich, dass ihr alle Christus in euch spürt. […] Seid wie Christus.» Diese Botschaft stiess bei Augusta («Gussie») Herbert, einer 14-jährigen Siebtklässlerin, auf Unverständnis. Die Tochter eines jüdischen Anwalts stand vor der versammelten Schülerschaft auf und fragte, warum der christliche Glaube an einer öffentlichen Schule unterrichtet werde.
Schockierte Mitschüler
Ihr mutiges Auftreten schockierte Mitschüler und Schulleitung gleichermassen. Doch Gussie war nicht allein. Dutzende jüdische Kinder berichteten ihren Eltern, dass Weihnachtslieder und Bibellesungen Teil ihres Schulalltags gewesen waren. In der jüdischen Gemeinde von Brownsville griff rasch Empörung um sich. Herberts Vater, Edward Herbert, wandte sich an Albert Lucas, einen 47-jährigen, in England geborenen Aktivisten und Sekretär der Union of Orthodox Jewish Congregations of America. Geboren als Abraham Abrahamson in Liverpool, war Lucas bereits ein erfahrener Kämpfer für jüdische Anliegen. Er hatte Kampagnen gegen christliche Wohlfahrtseinrichtungen geleitet, die jüdische Kinder mit kostenlosen Mahlzeiten und Weihnachtsgeschenken bekehren wollten. Für ihn war die schleichende Christianisierung der öffentlichen Schulen eine subtilere, aber nicht weniger ernste Bedrohung: «Lucas glaubte, die Schulen seien die vorderste Front im Kampf um den Erhalt der jüdischen Identität in Amerika», erklärt Seligman: «Er sah es als seine Pflicht an, Kinder davor zu schützen, sich wie Bürger zweiter Klasse zu fühlen.»
Lucas schrieb an den städtischen Schulrat William Henry Maxwell. Dieser hatte bereits 1903 ein Rundschreiben herausgegeben, in dem er Schulleiter daran erinnerte, dass «Lieder, die sich auf die Lehren irgendeiner religiösen Sekte beziehen, in konfessionslosen Schulen unangebracht sind». Die Durchsetzung war jedoch lasch, und viele Lehrer – sowohl Juden als auch Christen – ignorierten die Regel. Als Lucas von Hardings Versammlung erfuhr, nutzte er die Gelegenheit. Innerhalb von zwei Tagen kursierte in Brownsville eine Petition, die dem Schulleiter vorwarf, jüdische Kinder systematisch zu christianisieren. Der «Hebrew Standard» und der «Jewish Comment» verurteilten die «Missionierung» an öffentlichen Schulen, während der «Brooklyn Eagle», die beliebte Tageszeitung des Bezirks, den Schulleiter verteidigte und behauptete, er fördere lediglich «gute Moralvorstellungen».
Beispielloser Schritt
In einem beispiellosen Schritt hielt der Schulrat wenig später eine öffentliche Anhörung ab, um die Vorwürfe gegen den Schulleiter zu prüfen. 1500 Menschen füllten den Saal und sorgten für Aufsehen. Die Anhörung offenbarte tiefe Spaltungen selbst innerhalb der jüdischen Gemeinde. Einige verteidigten Harding als wohlmeinenden Pädagogen; andere warfen ihm vor, die Grenze zwischen bürgerlicher Tugend und christlichem Glauben bewusst zu verwischen. Schliesslich verhängte der Schulrat nur eine milde Strafe gegen Harding – was Seligman als «vorgezogenes Ostergeschenk» bezeichnet. Für Lucas und die Orthodoxe Union bestätigte das Harding-Urteil nur, dass stille Lobbyarbeit nicht ausreichte. Sie begannen, jüdische Eltern direkt zu organisieren.
Ihre Kampagne spiegelte die breiteren, gesellschaftlichen Spannungen der Zeit wider. Progressive Reformer wie der Schulrat Maxwell glaubten, dass öffentliche Schulen Motoren der «Amerikanisierung» seien, die nicht nur Englisch und Rechnen, sondern auch staatsbürgerliche und moralische Werte vermitteln sollten. Für viele Lehrer war «ein guter Amerikaner zu sein» gleichbedeutend mit «ein guter Christ zu sein».
Fragile Akzeptanz
Gleichzeitig war die jüdische Gemeinschaft Amerikas entlang von Klassen- und kulturellen Linien gespalten. Die in gehobenen Vierteln ansässigen deutschstämmigen Juden – die Jahrzehnte zuvor nach der gescheiterten 1848er Revolution in Mitteleuropa eingewandert waren – fürchteten, dass die lauten Proteste ihrer jiddischsprachigen Glaubensgenossen ihre eigene, fragile Akzeptanz gefährden würden. Die neueren Einwanderer in den ärmeren Vierteln sahen diese Eliten als assimilatorisch und realitätsfern an. Nachdem erste Proteste folgenlos geblieben waren, beschlossen die Orthodoxe Union und die jiddische Presse im Dezember 1906 zu handeln. Zwei Zeitungen – das «Morgen Zhurnal» und das «Jiddische Tageblatt» – riefen jüdische Eltern dazu auf, ihre Kinder am 24. Dezember, dem Tag der Weihnachtsfeierlichkeiten, zu Hause zu behalten.
Die Resonanz war überwältigend. In der Lower East Side und in Brownsville blieben ganze Klassenzimmer leer. Schätzungen zufolge fehlten in den überwiegend jüdischen Vierteln zwischen einem und zwei Dritteln der jüdischen Schüler – stadtweit etwa 20 000 bis 25 000 Kinder. Antijüdische Leserbriefe folgten und warfen den Protestierenden vor, die Schulen «judaisieren» und Amerikas christliches Erbe «zerstören» zu wollen. Protestantische Geistliche warfen den Juden Undankbarkeit vor. In Leitartikeln wurden sie als «Spätankömmlinge, geduldete Gäste in einem christlichen Land» bezeichnet.
Nicht alle Juden unterstützten den Boykott. Abraham Stern, ein deutsch-jüdisches Mitglied des Schulrats, nannte die Protestierenden «Agitatoren» und sagte, ihre Aktionen fänden «nicht die Unterstützung der intelligenteren Juden der Stadt». Julia Richman, die erste weibliche Schulamtsleiterin der Stadt – selbst eine jüdische Reformrabbinerin –, erklärte, Weihnachten sei sowohl «religiös als auch national» und dürfe nicht aus den Schulen verbannt werden, «solange es nicht konfessionell motiviert ist». Andere Reformrabbiner tendierten ebenfalls zu dieser Meinung, darunter Judah L. Magnes vom Temple Emanu-El, der ein friedliches Zusammenleben der Konfrontation vorzog. In der jiddischen Presse war der Boykott hingegen ein Grund zum Stolz. «Nie zuvor», schrieb ein Redaktor, «haben sich jüdische Arbeiter so mutig für ihre Rechte als Amerikaner eingesetzt.»
Selbstbewusste Juden
Lucas und die Boykottierenden konnten sich auf die Verfassung des Staates New York berufen, die ausdrücklich die Verwendung öffentlicher Gelder für Schulen untersagt, welche «die Lehren irgendeiner religiösen Sekte» vermitteln – ein Erbe des langen Konflikts zwischen dem protestantischen Establishment und den Katholiken. Doch auch wenn «das Gesetz auf der Seite der Juden stand», so Seligman, «hatte die Politik eine andere Haltung». Der Schulrat, hin- und hergerissen zwischen empörten Christen und selbstbewussten Juden, liess die Angelegenheit schliesslich fallen. Seligmans Fazit: «Letztendlich gilt: Wer sich für Minderheitenrechte einsetzt, kann von gewählten Amtsträgern nicht viel Unterstützung erwarten. Am besten wendet man sich immer an die Gerichte».
Themen für Unterrricht
Im folgenden Jahr klangen Proteste ab, und auch die Orthodoxe Union liess die brisante Frage fallen. Öffentliche Schulen in New York verzichteten derweil auf die Empfehlung von Hymnen mit religiösen Themen für den Unterricht, sprachen aber keine Verbote aus, und zu Weihnachten kehrten Tannenbäume und Kerzen in die Klassenzimmer zurück. Erst in den 1960er-Jahren hat das US-Verfassungsgericht mit dem Urteil im Fall Engel gegen Vitale das von Schulen organisierte Gebet für verfassungswidrig erklärt. Doch auch damals blieben Weihnachtsprogramme laut Seligman «weitgehend unangefochten».
Grössere Spielräume
Seligman schliesst sein Buch mit einem Blick von 1906 auf die Gegenwart. Die jüdische Bevölkerung Amerikas sei heute stärker assimiliert und weniger religiös als zu Lucas’ Zeiten. Doch obwohl die Zahl der Menschen zurückgeht, die sich selbst als Christen bezeichnen, sind christliche Nationalisten lauter und politisch einflussreicher. Und der Oberste Gerichtshof gibt religiösen Meinungsäusserungen in der Öffentlichkeit immer grössere Spielräume. Dadurch werde die Trennung von Kirche und Staat verwischt, für deren Erhalt Persönlichkeiten wie Lucas einst so energisch kämpften.
Juden befinden sich Seligman zufolge «anscheinend in mehr oder weniger derselben Lage, in der sie der New Yorker Schulrat vor rund 120 Jahren zurückliess: gezwungen, die Feierlichkeiten eines Festes in den von ihren Kindern besuchten öffentlichen Schulen zu akzeptieren, an das sie nicht glauben – und das an Lehranstalten, die mit ihren Steuergeldern finanziert werden.» Seligman geht es bei der Lehre von 1906 weniger um Weihnachten als vielmehr um Wachsamkeit. Immer noch gehe der falsche Vorwurf eines «jüdischen Krieges gegen Weihnachten» um – wenn nicht sogar noch mehr als damals. Und Gussie Herberts trotzige Frage – «Warum wird die christliche Religion an einer öffentlichen Schule unterrichtet?» – hallt mehr als ein Jahrhundert später noch immer nach: wann immer Amerikaner darüber debattieren, wo der Glaube endet und der öffentliche Raum beginnt.
Andrew Silow-Carroll ist Chefreporter bei der «New York Jewish Week» und leitender Redaktor bei der «Jewish Telegraphic Agency».