Schwerpunkt – Hannah arendt 06. Okt 2025

Raum der Freiheit

Hannah Arendt und Heinrich Blücher in ihrer Wohnung in New York.

Hannah Arendts Denken in Briefen.

Für Hannah Arendt waren Briefe ein Forum für freies Denken und Spiegel ihres Weltzugangs – die Korrespondenzen, die sie mit einigen der wichtigsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts über Jahrzehnte führte, lesen sich wie Zwiegespräche im Schatten der Weltgeschichte

Obwohl sie das Schreiben von Briefen einmal als «gefährlichen Unfug» bezeichnete, hat Hannah Arendt (1906–1975) eine Vielzahl von Korrespondenzen geführt. Sie hinterliess eine so grosse Anzahl von Briefen, dass von einem ihr Hauptwerk begleitenden Briefwerk zu sprechen keine Übertreibung ist. In diesem Begleitwerk spiegelt sich Arendts politisches Denken. Mal Forum für Debatten mit Karl Jaspers und Kurt Blumenfeld, mal Echoraum im Austausch mit ihrem Mann Heinrich Blücher, mal Privatsalon für Gespräche mit Mary McCarthy, immer sind Arendts Briefe scharfsinnig und freigeistig, gedankenreich und humorvoll, manchmal poetisch und sogar leidenschaftlich. Sie war eine Meisterin darin, über Distanzen hinweg Verbundenheit aufrechtzuerhalten. Das Gespräch war für sie Form des Weltverstehens, ein Brief Ausdruck ihres Weltzugangs: «Wahrheit», schrieb sie Blücher, «gibt es nur zu zweien». Die Begabung zur Freundschaft stellte sie in verschiedenen Konstellationen unter Beweis, ihr Talent aber, sich auch Gegner zu machen, war dieser durchaus ebenbürtig.

Zeitläufte und Zeitgenossen
Mitte der Zwanzigerjahre entspann sich zwischen der 18-jährigen Studentin Hannah und ihrem verheirateten Professor Martin Heidegger (1889–1976) in Marburg eine Affäre. Die für sie unglücklich endende Liaison führte Arendt zu einer tiefen Auseinandersetzung mit ihrer deutsch-jüdischen Identität. Heidegger sympathisierte vorerst, auch aus einer modernekritischen Haltung heraus, mit den Nationalsozialisten. Dann wurde er Parteimitglied, liess als solches an der Universität Freiburg jüdische Kollegen kündigen. Doch trotz aller Enttäuschung setzte sich Arendt nach 1945 für Heidegger ein. Briefe, insbesondere aus der Zeit nach dem Tod von Jaspers 1969 und Blücher 1970, als Arendt sich wieder mehr der Philosophie zuwandte, zeugen von ihrer bemerkenswerten Verbindung. Nach der Heidegger-Romanze und ihrer Promotion bei Karl Jaspers in Heidelberg flüchtete Arendt 1929 in eine Ehe mit ihrem Studienkollegen Günther Stern, alias Günther Anders (1902–1992). Stern emigrierte bereits 1936 nach Amerika und half später Arendt und den Ihren bei der Flucht aus Europa. «Sind gerettet wohnen 317 West 95 = Hannah» telegraphierte Hannah Arendt ihm im Mai 1941. Der 1939 und 1975 geführte Briefwechsel erhellt die besondere persönliche und intellektuelle Beziehung des Paares, die nach der Scheidung 1937 weiterbestand. Nachdem sie 1933 nach Paris geflohen war, hatte Arendt, noch hiess sie Hannah Stern, Anschluss an einen Kreis gefunden, zu dem auch Walter Benjamin (1892–1940), einer ihrer Briefpartner, gehörte. Bei Treffen in Benjamins Wohnung lernte sie 1936 den Berliner Heinrich Blücher (1899–1970) kennen, den sie 1940 heiratete. Durch ihn, Kommunist, sympathisierender Zionist und als verfolgter Journalist nach Paris gekommen, lernte sie «politisch denken und historisch sehen». Arendts Korrespondenz mit Blücher 1936 bis 1968, warmherzig und zugewandt im Ton, besteht aus über 400 Briefen. Deutlich wird, wie stark Arendts Thesen von Blüchers Ansichten beeinflusst waren. Ihr Buch «Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft» speist sich auch aus seinen Erkenntnissen. Als Blücher und Arendt sich im Frühjahr 1941 nach New York einschifften, wo sie bald für «Aufbau» schreiben und sich in zionistische Debatten einmischen würden, nahmen sie ein Manuskript von Walter Benjamin mit an Bord. In seinem letzten Brief an Arendt vor seinem Selbstmord hatte er im August 1940 geäussert, dass er sich um das Schicksal seiner Manuskripte sorge. Eine grosse Rolle für Arendts Entwicklung zur zionistischen Aktivistin spielte Kurt Blumenfeld (1884–1963), seit 1924 Vorsitzender der Zionistischen Vereinigung für Deutschland. Die Freundschaft hatte 1926 in Heidelberg begonnen, als Blumenthal dort einen Vortrag hielt. Er wurde ihr Mentor. Über heftigste Debatten hinweg hielt die Verbindung jahrzehntelang. Die Korrespondenz aus 125 Briefen, beginnend 1933 mit der Emigration Blumenfelds nach Palästina, ist durchzogen von Reflektionen über die jüdische Welt und die Entwicklung Israels. Arendts Eichmann-Berichterstattung und ihre Theorie über die «Banalität des Bösen» führten dann zum Bruch, der sich nicht kitten liess. Auch der Briefwechsel, den Arendt mit dem Religionshistoriker Gershon Scholem (1897–1982) ab 1939 führte, hob an unter Vorzeichen grösster Bedrohung. Wegen Walter Benjamin, schrieb sie am 29. Mai 1939, sei sie in grosser Sorge; 1940 teilte sie tief erschüttert mit, dass Benjamin sich das Leben genommen hatte. Die Korrespondenz mit Scholem zeugt von der Auseinandersetzung mit dem jüdischen Selbstverständnis nach dem Holocaust. Doch Arendts Buch «Eichmann in Jerusalem» und ihre Kritik an den jüdischen Repräsentanten während der Nazizeit wurden von Scholem radikal verworfen. Der Dialog verebbte 1964 – in Schweigen.

Kulturkritik und Gefährtenschaft
In New York pflegte Hannah Arendt mit Heinrich Blücher Freundschaften zu Philosophen, Künstlern und Literaten, darunter die Schriftstellerin Mary McCarthy, der Philosoph Hans Jonas, die Journalistin Charlotte Beradt sowie andere Celebritys der Intellektuellenszene am Hudson. Hans Jonas hatte wie Arendt einst bei Heidegger studiert, ihr Eichmann-Buch wurde zu einer heftigen Belastung auch dieser Freundschaft. Als sich Hannah Arendt und Mary McCarthy (1912–1989) Mitte der Vierzigerjahre in einer Bar in Manhattan erstmals über den Weg liefen, waren sie voneinander auf Anhieb fasziniert, doch ihre Freundschaft begann erst ein paar Jahre später. Die Briefe, die sie sich 1949 bis 1975 schrieben, sind getragen von Gemeinsamkeit und Zugewandtheit. Die Autorin McCarthy erklärte ihr die Codes des Literaturbetriebs der USA, sie sprachen über Privates, teilten die diffizilen Erfahrungen im Umgang mit Sprache und das politische Engagement. Freundschaft gehörte für Hannah Arendt zu den «tätigen Modi des Lebendigseins». Den Anspruch lösten ihre von Herzlichkeit geprägten Korrespondenzen mit Charlotte Beradt, Rose Feitelson, Hilde Fränkel, Anne Weil und Helen Wolff ein. Auch hier geht es um Politisches, aber ebenso Alltagspraktisches, Gesellschaftliches und ein bisschen Tratsch. Gemeinsame Bekannte verbanden die Frauen. Und Projekte. Sei es die Übersetzung von Arendts Texten ins Englische, die Feitelson besorgte, oder die vom Englischen ins Deutsche, womit Beradt betraut worden war. Feitelson lichtete für Arendt zudem den Who-is-who-Dschungel des amerikanischen Kulturbetriebs. Die Hingabe an Texte und Autoren als künstlerische Aufgabe kommt in Arendts freundschaftlichem Kontakt zum Verlegerpaar Helen und Kurt Wolff zum Ausdruck. Arendt und Fränkel kannten sich schon von der Uni in Frankfurt und hatten sich in New York wiedergetroffen. Während Arendt 1949/50 durch Europa reiste, schrieben sie sich. Zu der Zeit kämpfte Fränkel gegen ihre Krebserkrankung. Die Briefe sind voller Zuneigung und geprägt von der Realität des nahenden Abschieds. In der Nachkriegszeit korrespondierte Arendt dann lange mit dem Politologen Dolf Sternberger (1907–1989), mit dem sie bei Jaspers studiert hatte. Ab Mai 1946 flogen wortwitzige Briefe von New York über den Atlantik nach Heidelberg und umgekehrt. Sternberger spielte in der Bundesrepublik als Publizist eine einflussreiche Rolle, der Austausch drehte sich um Zeitschriftenbeiträge, Angebote an Arendt, die sie ausschlug, ihre Entschiedenheit – «Dein neuer Brief ist eine Challenge». Anfang 1975 gratulierte er ihr zum Sonning-Preis, der wichtigsten dänischen Auszeichnung für kulturelle Verdienste. Die Preisverleihung im April 1975 in Kopenhagen ist Ausgangssituation des 2023 in Odense uraufgeführten Theaterstücks «Arendt» von Rhea Lemans, das ab Oktober 2025 in Hamburg in deutscher Erstaufführung zu sehen ist. Sternbergers letzter Brief, datiert auf den 10. Dezember 1975, erreichte die Adressatin nicht mehr. Bis zu ihrem Tod stand Arendt auch mit Uwe Johnson (1934–1984) in Kontakt. Im Mai 1965 las der 30-jährige Schriftsteller aus der «Gruppe 47» im NewYorker Goethe-Haus aus seinem Werk. Im Publikum: Arendt. Der Briefwechsel dokumentiert das Verhältnis zwischen dem Autor, der durch Arendt jüdischem Denken und Leben begegnete, und der Philosophin, die das Verfassen seines «Jahrestage»-Hauptwerks entscheidend mitprägte. Johnson war zuletzt einer ihrer engsten Vertrauten, die Verbindung zu ihm die längste Arendts zu einem deutschen Schriftsteller seiner Generation.

«Auf die Welt bezogen»
«Dies ist seit Kafka die grösste dichterische Leistung der Zeit», Hannah Arendts erster Brief 1946 an den Wiener Schriftsteller Hermann Broch (1866–1951) setzte den Ton. Arendt hatte ihre wichtigsten Bücher noch nicht veröffentlicht, Broch indes stand mit seinem Roman «Tod des Vergil» auf der Höhe seines Erfolges. Thema der 63 überlieferten Briefe ist das Ringen mit den politischen Herausforderungen der Zeit. Und die Literatur, Albert Camus, Gedanken zu Heidegger und Jaspers. Die Korrespondenz endete 1951 mit Brochs Tod. Ebenso am Austausch mit noch weniger arrivierten Autoren interessiert, nahm Arendt 1947 ihre Bewunderung für einen just erschienenen Artikel von Alfred Kazin (1915–1998) über Kafka zum Anlass, den jungen Journalisten zum Lunch zu treffen. In der Korrespondenz, die Arendt und der in Brooklyn aufgewachsene Sohn polnisch-russischer Juden führten, ging es um die transatlantische Entwicklung und beider Europa-Erfahrungen. Sie umfasst nur 19 Briefe, begann im August 1948 und endete, schon spärlicher geworden, im Mai 1974. Dabei mag Arendts Eichmann-Buch eine Rolle gespielt haben, dessen Tenor auch Kazin geschmerzt hatte.

Arendts Nachlass
Gleich 1945 hatte Hannah Arendt den Kontakt zu ihrem früheren Lehrer Karl Jaspers (1883–1969) wieder aufgenommen und unterstützte ihn und seine Frau mit Care-Paketen, bis das Ehepaar 1948 von Heidelberg nach Basel übersiedeln konnte. Er war ihr wichtigster transatlantischer Gesprächspartner, liebenswürdiger Ersatzvater, und Jaspers’ Basler Wohnung ihr europäisches Zuhause. Briefe und Besuche in der Schweiz zeugen von der engen Freundschaft, die bis zu Jaspers’ Tod bestand und seine jüdische Frau Gertrud einschloss. Zwischen ihm, so Jaspers, und Arendt herrsche «radikales gegenseitiges Sichfreilassen». Mit seiner ehemaligen Doktorandin konnte Jaspers rückhaltlos diskutieren, da er sich ihrer als Korrektiv sicher war. Sie teilten die Sorge um die Entwicklung der jungen Bundesrepublik und ein weltbürgerliches Denken, dessen oberste Maxime die Freiheit war. Die Dialoge in Briefen, die Hannah Arendt mit so unterschiedlichen Korrespondenzpartnern, darunter einige der wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts, geführt hat, lesen sich wie Zwiegespräche im Schatten der Weltgeschichte. In ihren Zeilen begegnet man einer Gelehrten, die sich um der Wahrheit willen nicht schont. Mit jedem Briefwechsel wob Arendt ihr Beziehungsgeflecht dichter, das sie im Geiste betreten und gleichsam bewohnen konnte. In Arendts Nachlass finden sich viele weitere, teils kleine Briefwechsel. Darunter die mit den amerikanischen Literaten Jarell Randall und Robert Lowell oder die 1963/64 geführten Austausche mit der einstigen Referentin der Reichsjugendführung, die sich ihrer Vergangenheit stellt. Arendts enormer Korrespondenzaufwand nach dem Krieg stand auch für die über allem kreisende Frage: Wie kann man Worte finden für das, was geschehen ist? Arendt glaubte an die Macht des Subjekts, glaubte an den Vorrang von Freundschaft gegenüber jedweder Differenz im politischen Urteil, glaubte an den Brief als Medium des Denkens ohne Schranken. In Briefen solle man alles, auch Unfug, äussern können, auch das nicht für die Öffentlichkeit Bestimmte – dafür gab es Essays. Hannah Arendts Korrespondenzen zeugen von ihrem besonderen Verständnis von Brief, begriffen als eigenständigen und eigendynamischen Dialograum. Als Ausdruck unbedingter Subjektivität, auf die Welt bezogen. Ein Raum der Freiheit.

Katja Behling ist Journalistin und Publizistin und lebt in Hamburg.

Katja Behling