Oder: Eine kurze Geschichte über eine Hündin aus Gaza.
Da wir Tiere lieben, haben wir, als wir zu Beginn des Krieges in der Zeitung lasen, Tausende von Hunden in Gaza, die aus zerstörten Häusern stammten und an der Grenze herumstreunten, würden eingefangen und getötet werden, sollte sich kein Interessent finden, einen dieser Hunde bei uns aufgenommen. Genauer gesagt eine Hündin, eine Kanaan-Mischlingsschäferhündin, knochig und gefleckt, mit Brandmalen auf dem Rücken, der aber die zurückliegenden Wochen ohne Zuhause nicht anzumerken waren. Sie war weder aggressiv noch scheu, im Gegenteil: eine gutmütige, gesellige Hündin, die wir und insbesondere unser jüngster Sohn, der in jenen Tagen viel Zeit zurückgezogen in seinem Zimmer verbrachte, schnell liebgewannen. Wir gaben ihr den neutralen Namen Lili, und sie gehorchte auf Befehle in jeder Sprache, die wir ausprobierten, als wäre sie polyglott. Auch auf der Hundewiese unseres Viertels machte sich Lili schnell Freundinnen und Freunde, bis unser Sohn dort einmal berichtete, sie stamme aus Gaza. Danach hatten wir den Eindruck, als würden die anderen Hundehalter Lili meiden und ihre Tiere von ihr fernhalten, weshalb meine Frau die Geschichte korrigierte und sagte, Lili sei in einem der Kibbuzim um den Gazastreifen gefunden worden. Was wiederum die Zuneigung zu ihr sprunghaft anwachsen und sie zu einer der beliebtesten Hündinnen im ganzen Viertel werden liess.
Lilis umgänglicher Charakter kannte eine Ausnahme, wie wir einige Tage, nachdem sie in unser Haus gekommen war, feststellten. Wir warteten mit unserem jüngsten Sohn auf den Bus, als sich ein Soldat mit geschultertem Gewehr der Haltestelle näherte und Lili die Zähne fletschte und ihn drohend anknurrte, als wollte sie ihn angreifen oder unseren Sohn vor ihm verteidigen. In der Folgezeit stellten wir fest, dass Lili jedes Mal versuchte, von der Leine zu gehen und sich auf Soldaten in Uniform zu stürzen, vor allem, wenn sie sich in Begleitung unseres Sohnes befand. Als wir dem Tierarzt, zu dem wir Lili brachten, um sie sterilisieren zu lassen – sie war, obgleich schon zwei Jahre alt, nicht sterilisiert und hatte dem Tierarzt zufolge bereits mindestens einmal Junge zur Welt gebracht -, meinte er, womöglich habe Lili ein traumatisches Erlebnis mit einem Soldaten gehabt. Er schlug vor, unser jüngster Sohn solle sich eine Uniform anziehen, um ihr zu helfen, sich mit dieser anzufreunden und ihre Ängste zu überwinden, aber sein Vorschlag schockierte uns und wir verzichteten dankend – was möglicherweise ein Fehler war.
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Eines Tages nahm unser Sohn Lili mit auf die Hundewiese. Wenig später rief er meine Frau an, die sich schnell ihre Jacke überwarf und aus dem Haus stürzte. Wie sich herausstellte, hatte Lili bei der Hundewiese einen Soldaten gesehen, war unserem Sohn, der sie nachlässig gehalten hatte, von der Leine gegangen, hatte den Soldaten angefallen und ihn, als er sich gegen sie zu verteidigen versuchte, in die Hand gebissen. Der Soldat hatte daraufhin mit Hilfe von zwei Männern, die gerade vorbeikamen, die Hündin überwältigt und zu Boden gebracht, und als meine Frau eintraf, sassen die drei auf Lili, damit sie sich nicht rühren konnte, und einer von ihnen hatte ihr die Leine um den Hals geschlungen, drohte, sie zu erdrosseln. Die Hündin jaulte verzweifelt, unser Sohn war starr vor Schreck und meine Frau flehte die drei an, Lili nichts zu tun. Wenig später traf ein bewaffneter Polizist ein, in Begleitung eines Mitarbeiters vom städtischen Ordnungsamt, und ungeachtet unseres Flehens und der Erklärungen meiner Frau, die Hündin habe nur unseren Sohn verteidigen wollen, nahmen die beiden Lili mit. Als wir zum städtischen Zwinger fuhren, in dem sie eingesperrt war, teilte uns der Veterinärinspektor mit, er habe keine andere Wahl als sie einschläfern zu lassen. Meine Frau aber, erzählte ihm geistesgegenwärtig, Lili helfe unserem Sohn, mit seinen Ängsten angesichts der Kriegssituation fertigzuwerden – und das half. Der Mann überprüfte noch, ob Lili auch geimpft war, und verlangte, wir müssten ihr jedes Mal, wenn wir mit ihr rausgingen, einen Maulkorb anlegen. Auch würden wir wohl kaum um eine Strafe und möglicherweise eine Entschädigungszahlung herumkommen, aber immerhin könne er sich auf einen weitgehend unbekannten Paragraphen im städtischen Ordnungsrecht berufen, um Lilis Leben zu verschonen.
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Lili kehrte mit uns nach Hause zurück. Da aber die Gerüchte über den Angriff auf den Soldaten im Viertel die Runde machten, verlangten die Nachbarn erneut, wir sollten Lili von der Hundewiese fernhalten, wenn sie mit ihren Hunden da waren, weshalb wir anfingen, in den frühen Morgenstunden und spät nachts mit ihr rauszugehen. Die gesellige Hündin war ganz allein auf der leeren Hundwiese und hielt sehnsüchtig nach einem Freund oder einer Freundin Ausschau, mit denen sie spielen könnte. Die meiste Zeit aber stand sie am verschlossenen Tor und wartete – vergebens. Bis Oskar erschien.
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Oskar war ein alter Armeehund, ein deutscher Schäferhund, der zwei Beine im Krieg verloren hatte. Der Hund - wie wir später erfuhren, war er nach dem kleinwüchsigen Helden in «Die Blechtrommel» benannt - war für das Erschnüffeln von Minen und Sprengstoff ausgebildet worden und hatte monatelang heldenhaft in Gaza gedient, bis er bei der Explosion eines Sprengsatzes schwer verwundet worden war. Nachdem man ihm beide Hinterläufe amputiert und ihm eine Rollprothese unter dem Bauch angepasst hatte, wurde er aus dem Militärdienst entlassen und einer Pflegefamilie bei uns im Viertel anvertraut. Seine neuen Besitzer, ein Paar namens Jigal und Nechama Lev, die wie wir Tiere lieben und von denen wir erst im Nachhinein erfahren haben, dass sie verwaiste Eltern sind, kümmerten sich fürsorglich um Oskar und gaben in allem Acht auf ihn. Weil seine Verwundung seine Fähigkeit, sich zu verteidigen, stark eingeschränkt hatte, war Oskar zu einem scheuen Einzelgänger geworden, der die Nähe anderer Hunde nicht ertrug. Weshalb Jigal und Nechama ihn nur noch auf die Hundewiese mitnahmen, wenn dort keine anderen Hunde waren, zum einen, damit er nicht angegriffen wurde, zum anderen aber auch, damit er keine unversehrten Hunde sah und Trauer um seine verlorenen Hinterläufe in ihm erwachte.
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Das erste Mal bekamen wir Oskar zu Gesicht, als er spät nachts, sein Hinterteil hinter sich herziehend, Richtung Hundewiese hoppelte, auf der sich Lili ganz allein befand. Kaum hatte sie den alten Schäferhund bemerkt, sprang Lili auf und kam zum Zaun gelaufen. Und Oskar, seinem neuen, furchtsamen Charakter zum Trotz, liess sich vom Gebell der Hündin aus Gaza nicht schrecken. Auf seinen Hinterrädern mühte er sich zum Zaun und beäugte Lili, die ihrerseits vorsichtig mit dem Schwanz wedelte, in der Hoffnung, sich bei ihm und seinen Besitzern beliebt zu machen und sie zu bewegen, mit ihm auf die Wiese zu kommen, und gleichzeitig für eine weitere Enttäuschung gewappnet, sollten sie einfach an ihr vorbeigehen wie alle anderen Hunde und ihre Herrchen. Einige Augenblicke lang beschnüffelten die beiden einander durch den Zaun, als wären sie sich in der Vergangenheit schon einmal begegnet. Dann signalisierte Oskar seinen Besitzern, er wolle auf die Wiese, und Lili verfolgte aufgeregt, wie sich das eiserne Tor quietschend öffnete und der ergraute Hund hereingerollt kam. Mit ihren Vorderpfoten begann sie sofort, eine Mulde in der Sandkiste auszuheben, wie sie es immer machte, wenn sie aufgeregt war, und lud Oskar dann ein, sich neben sie hineinzulegen. Nachdem er das getan hatte, streckte sie sich neben ihm aus, und Oskar versuchte, mit seiner Schnauze und seinen Vorderpfoten, Lili von ihrem Maulkorb zu befreien, als wollten sie Erinnerungen austauschen können.
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Trotz des Altersunterschieds zwischen ihnen war von dieser ersten Begegnung an klar: Oskar und Lili waren füreinander bestimmt. Sie trafen sich jeden Morgen bei Sonnenaufgang und jede Nacht gegen Mitternacht. Lili pflegte in Kreisen um Oskar herum zu jagen und ihnen beiden tiefe Mulden zu graben, und wenn Oskar sich in einer davon eingerichtet hatte, setzte sie sich neben ihn, legte zwei Pfoten auf seine Vorderläufe und gemeinsam betrachteten sie die erwachende oder die schlafende Stadt. Jigal Lev, der in seinem Leben schon viele Hunde aufgezogen hat, hielt es für durchaus möglich, dass sich die beiden während des Krieges begegnet waren und sich aneinander erinnerten, und einmal brachte er unserem Sohn gegenüber sogar die Idee zur Sprache, Oskar sei womöglich in Gaza in dem Haus gewesen, in dem Lili mit ihren Welpen lebte, ja habe sie vielleicht sogar vor dem Tod gerettet, indem er sie bellend vor der Sprengung des Gebäudes durch die Soldaten seiner Einheit warnte. Ich weiss nicht, ob Hunde überhaupt eine derartige Form von Gedächtnis haben, und wenn ja, woran Lili sich noch erinnert aus jenen Tagen. Aber wer weiss, vielleicht… Wie auch immer, unverkennbar war, dass die Begegnung zwischen dem versehrten Armeehund und der Hündin aus Gaza ihrer beider Leben verändert hatte – Oskar, so schien es, hatte sich nun mit seiner Invalidität abgefunden und versuchte zuweilen, auch mit anderen Hunden zu spielen, während Lili, dank ihrer Freundschaft zu dem heroischen Veteranen, in der Achtung der Hundehalter unseres Viertels stieg. Sie wurde vielleicht nicht wieder zu der immens populären, allseits beliebten Hündin, die sie in ihren ersten Wochen auf der Hundewiese gewesen war, aber von allen geächtet war sie auch nicht mehr.
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Von jenem Tag an wartete Lili jeden Morgen bei Sonnenaufgang im Schlafzimmer neben unserem Bett und bedeutete uns mit einem sanften Stupser ihrer feuchten Nase, sie wolle auf die Hundewiese, um Oskar zu treffen. Und wir gewannen den Eindruck, es lagen nicht nur Liebe und Sehnsucht in dieser Forderung, den versehrten Schäferhund wiederzusehen, sondern auch ein Gefühl von Verantwortung. Denn Lili liess beim Spielen mit dem invaliden Oskar nicht nur die nötige Vorsicht und Geduld walten und stärkte so seine Selbstsicherheit und seinen Stolz, sie verteidigte ihn auch gegen streitsüchtige Hunde, die versuchten, die Schwäche des alten Schäferhunds auszunutzen. Jedes Mal, wenn ein Hund sich Oskar mit gefletschten Zähnen näherte oder ihn mit einem drohenden Knurren herausforderte, baute sie sich, auch wenn der Aggressor grösser war als sie und augenscheinlich bösartiger war, vor ihm auf und machte ihm klar, dass sie alles geben würde, um Oskar zu verteidigen, und sei es ihr Leben .
Als wir beschlossen, mit unserem Sohn Israel zu verlassen, war klar, wir konnten Lili und Oskar nicht trennen. Also baten wir Jigal und Nechama Lev, Lili bei sich aufzunehmen – und sie stimmten zu. Als wir uns von ihr verabschiedeten, auf der Hundewiese, und unser Sohn unter Tränen Lili ein letztes Mal umarmte, bedachte sie uns alle mit einem leicht verwunderten Blick, aber als ich mich in einiger Entfernung noch einmal umdrehte und ihr zuwinkte, sah ich, dass sie schon wieder bei Oskar war, mit der Gemächlichkeit neben ihm hertrottete, die sein Alter und seine Rollprothese ihm aufzwangen, sich an seinem ergrautet Fell rieb, ihn sanft mit ihrer Schnauze anstiess und sich dabei immer wieder umschaute, als wollte sie sich vergewissern, dass kein Hund ihm etwas antat.
Dror Mishani ist Israels erfolgreichster Krimiautor. Seine Romane wurden in über 20 Sprachen übersetzt. Seine letzte Veröffentlichung ist sein Kriegstagebuch «Fenster ohne Aussicht», erschienen im Diogenes Verlag. Er lebt in Tel Aviv. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke.