Ein längerer Arbeits- und Studienaufenthalt in Israel zertrümmert Überzeugungen einer Studienabgängerin. Die Auseinandersetzung mit dem Werk Hannah Arendts eröffnet tiefere Einsichten.
Im Mai 2024 habe ich mein Studium der Politikwissenschaften am Bard College abgeschlossen. Einen klaren Plan für die Zukunft hatte ich nicht. Der 7. Oktober 2023 hatte mein letztes Studienjahr völlig über den Haufen geworfen – Zeltlager auf dem Campus, Proteste und angespannte Freundschaften. Alle behaupteten, Gewissheit zu haben. Gleichzeitig schrieb ich meine Abschlussarbeit über «Ursprünge der Ideologie», basierend auf «Ideologie und Terror: Eine neue Regierungsform» von Hannah Arendt. Mich interessierte, warum sich Menschen an simple Wahrheiten klammern, wie Extremisten Fakten manipulieren und Nuancen ignorieren. Dann ging mir auf, dass Ideologien das tiefere Problem waren: eine abstrakte Linse, die uns trennt und gleichzeitig vorgibt, die Welt zu erklären.
Israeldebatten
Einen Monat vor meinem Abschluss beschloss ich, nach Israel zu gehen. Teilweise war die Entscheidung persönlich: Ich bin Jüdin, und das schwierige Jahr hinter mir hat mich gezwungen, mich einer Realität zu stellen, die Erfahrungen meiner Mutter und meiner Bubbe widerspiegelte. Meine Grossmutter mütterlicherseits war vor dem Krieg als kleines Mädchen nach Kanada gekommen und hatte dort als Jüdin alles andere als einen freundlichen Empfang erfahren. Die negative Erfahrung hat auch meine Mutter belastet. Ich war aber auch schlicht neugierig. Ich hatte genug von den Vereinfachungen allerorten – auf dem Campus, in den Nachrichten, auf sozialen Medien. Warum provoziert Israel all diese Debatten? Ging es dort wirklich so schlimm zu, wie behauptet wurde? Ich wollte das selbst sehen.
Über einen Bekannten kam ich auf Yahel, ein neunmonatiges Stipendium, das Teilnehmende zu Arbeiten und längeren Aufenthalten in Gemeinden bringt. Ich habe mich für Lod entschieden, eine gemischt jüdisch-palästinensische Stadt, wo ich Englisch an einer palästinensischen Schule unterrichtete, bei der NGO «Blend.Ar» (https://www.blendarabic.com/english-information) tätig war, die Israeli Arabisch beibringt, und an einem Landwirtschaftsprogramm teilnahm, das Schüler beider Gemeinschaften ausserhalb des Klassenzimmers zusammenbringt.
Weltbild erschüttert
Ich war neun Monate in Israel, habe gelernt, mit allen möglichen Leuten gesprochen und mich in unterschiedlichen Gemeinschaften engagiert. Eine Expertin für das Land, die Region und die Politik bin ich darüber nicht geworden; ich habe nur meine eigenen Erfahrungen und die Geschichten anderer mitgenommen. Diese Monate hier zu Papier zu bringen ist keine leichte Aufgabe und war viel schwieriger als erwartet. Ich wünschte, ich hätte genug Platz, um den Lesenden dieser Zeilen alle Menschen vorzustellen, die mein Herz berührt und mein Weltbild erschüttert haben. Aber ich möchte von zwei wichtigen Erfahrungen berichten, die nicht nur mein Denken und Verstehen, sondern auch mein Handeln in der Welt verändert haben.
Im letzten Monat meines Programms hatten wir ein einwöchiges Seminar in Jerusalem, bei dem wir das Westjordanland besuchten und mit einer Reihe von Einzelpersonen und Organisationen aus dem gesamten politischen und religiösen Spektrum zusammentrafen. Das Seminar bot Gelegenheit, die Folgen des Krieges von 1967 aus erster Hand zu hören und zu sehen und unsere eigenen Schlussfolgerungen über eine der umstrittensten Regionen und Epochen in der kurzen Geschichte Israels zu ziehen.
Gewalttätige Attacken
Am ersten Tag des Seminars besuchten wir Bat Ayin, wörtlich übersetzt «Tochter des Auges», eine kleine, ländliche jüdische Siedlung in Gusch Etzion zwischen Jerusalem und Hebron: Ein wunderschöner und ruhiger Ort inmitten der Berge, aber auch bekannt für gewalttätige Attacken der dortigen Siedler auf palästinensische Dörfer in der Umgebung. Davon wussten wir alle. Wir hatten dazu wenige Minuten vor unserer Ankunft noch im Bus auf unseren Handys nachgeschaut. Dort angekommen trafen wir den Rabbiner des Dorfes. Rabbi Daniel Cohen war die Quintessenz landläufiger Vorstellungen eines mystischen, kabbalistischen Juden. Er hatte einen dieser langen Bärte, und seine Stimme war von einem tiefen Atem getragen, der am Ende von Sätzen wie die Spitzen seines Barts dünner wurde.
Wir sassen alle in einem Halbkreis, er in der Mitte mit Blick auf die Berge von Judäa. Doch bevor wir ihm Fragen stellen konnten, spielte er auf seiner Flöte. Er wollte uns einen kleinen Vorgeschmack auf seine Arbeit geben und was ihn persönlich dazu brachte. Ich sass die ganze Zeit da, wippte ungeduldig mit dem Fuss und notierte mir Fragen. Ich konnte nicht zuhören; peinlicherweise war das Echo des Wikipedia-Artikels über Bat Ayin, den ich gerade noch im Bus konsumiert hatte, zu laut in meinem Kopf. Dann stellten wir ihm all die zu erwartenden Fragen: Warum hatte er sich entschieden, an einem so turbulenten und politisch angespannten Ort zu leben? Was wusste er über die gewalttätigen Siedlerangriffe in der Gegend? Wir brachten sämtliche Variationen desselben Themas vor: das grosse «Warum?» Für uns, mich und weite Teile des Westens gelten Siedlungen als Kern und als Ausgangspunkt für ein Verständnis des Konflikts zwischen Juden und Arabern in Palästina.
Vertraute Vorstellungen
Viele seiner Ausführungen entsprachen genau vertrauten Vorstellungen von Siedlern oder übertrafen diese noch. Er war mit seiner Frau nach Bat Ayin gezogen, um dem Stadtleben zu entfliehen und eine Gemeinschaft aufzubauen, die er die «Liebhaber Gottes» nannte. Er sagte Dinge wie «Das Land ist für mich sehr real, und die Präsenz im Land und bei Gott ist eine einfache Verbindung.» Nach dem Konflikt und möglichen Lösungen gefragt, gab er zurück: «Zwei Völker können nicht am selben Ort existieren.» Doch im selben Atemzug fügte er hinzu: «Ich finde es gut, das Land zu teilen, aber solange die anderen wissen, dass das Land mir gehört. So einfach ist das.» Er sagte, er habe Mitgefühl für die anderen, «Trauer um die Menschen», aber deshalb müsse er nicht seine Koffer packen und weggehen. Er hatte eine seltsame Art, Fragen auszuweichen und gleichzeitig brutal ehrlich zu sein. Er benutzte den Ausdruck «so einfach ist das» öfter, als ich zählen kann. Einmal zitierte er sogar Mark Twain: «Zu Beginn eines Wandels ist der Patriot ein einsamer Mann, mutig, gehasst und verachtet. Wenn seine Sache Erfolg hat, schliessen sich ihm die Ängstlichen an, denn dann kostet es nichts, ein Patriot zu sein.»
Ideen und Ideologen
Am Ende habe ich aus dieser konkreten Erfahrung einige Lektionen mitgenommen, und ich kehre immer wieder dazu zurück. Die meiste Zeit meines Lebens dachte ich – nein, ich war davon überzeugt –, dass es wichtig ist, den Stimmen von Extremisten zuzuhören und sie zu verstehen. Ich wollte mit Stift und Papier in der Hand in einen Raum mit den Schlimmsten der Schlimmsten geworfen werden: von Führern totalitärer Regime und Verschwörungstheoretikern bis hin zu Aktivisten jeder Art und den Anhängern, die ihnen blind folgen. Was auch immer bei unseren Leserinnen und Lesern Alarmsignale auslöst – ich war geradezu besessen davon, mich mit solchen Ideen und Ideologen auseinanderzusetzen.
In der sechsten Klasse schrieb ich Tagebucheinträge aus der Perspektive Hitlers. Ich war geradezu verzweifelt bemüht, in seinen Kopf hineinzusehen, zu verstehen, was jemanden dazu bewegt, solche Gewalt anzuwenden. Vielleicht, weil ich nicht akzeptieren konnte, dass Menschen so durch und durch böse sein können, dass davor irgendetwas geschehen sein musste oder mehr hinter der Geschichte steckt.
Extremismus zu konfrontieren ist viel schwieriger, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich habe dafür noch nicht lange genug gelebt oder die schützende Blase des Colleges hinter mir gelassen. So konnte ich mir noch kein dickes Fell zulegen, um der unerbittlichen Grobheit von Menschen und einer verhärteten Welt trotzen zu können, ohne zu zerbrechen. Mein Verständnis der Welt war eng mit mir selbst verbunden. In diesen Momenten in Rabbi Cohens Haus in den Bergen und auch die meiste Zeit danach interpretierte ich Dinge hauptsächlich nach der Art und Weise, in der sie mich persönlich berührten. Mich überkam nach dieser Begegnung eine Angst, dass eine Stimme die ganze Geschichte repräsentieren könnte – in diesem Moment brach eine theoretische Einsicht aus dem Erlebten heraus.
Fakten oder Erfahrung
In «Entstehung und Ursprünge totaler Herrschaft» warnt uns Hannah Arendt vor der Macht der Ideen. Arendt definiert Ideologie als die «Logik einer Idee»: Sie nimmt eine Idee (wie Klassenkampf oder Rassenreinheit) und behandelt diese als Schlüssel zur Erklärung aller Dinge in der Welt für deren Gefolgschaft. Ideologen gehen nicht von Fakten oder Erfahrungen aus, sondern von einer «axiomatisch akzeptierten Prämisse», und leiten davon die gesamte Realität ab. In Bat Ayin ertappte ich mich dabei, ideologisch zu denken, ohne es zunächst zu merken. Rabbi Cohens Worte – «so einfach ist das» – hallten in meinem Kopf wider. Sie wurden zu meinem festen Ausgangspunkt, zur axiomatisch akzeptierten Prämisse, anhand derer ich jeden Siedler interpretierte, den wir fortan trafen. Ich nahm Rabbi Cohens Glaube, wonach ein allmächtiger Gott ihm das Land gegeben habe, als Grundlage für die Denkweise der Siedler.
Jemanden als «Siedler» zu bezeichnen ist an sich schon abwertend. Dies jetzt zu sagen, mutet seltsam an. Denn die nächste Person, die wir trafen, war der Onkel einer meiner Freunde und lebte in Efrat in Gusch Etzion. Efrat ist ein sandfarbener Ort, wie ein Grossteil Israels, aber heller und neuer. Die Gebäude stehen dicht an dicht in gleichmässigen Reihen vor den Bergen und sehen alle gleich aus, so als wäre ich in einen der Vororte von San Diego versetzt worden.
Noch ein Halbkreis, nur diesmal mit Bourekas, Babka und Rugelach – den Grundnahrungsmitteln – und einem knusprigen Schokoladenreis, der aus Amerika eingeschmuggelt worden sein musste. Joshua ist ein herzlicher Mann mit einem breiten Lächeln und einer der ersten amerikanisch-israelischen Einwanderer, die ich traf, der durch und durch israelisch aussieht und sich auch so fühlt. Vom weissen Business-Casual-Hemd, das er in die Hose gesteckt hatte, und den Khakihosen bis hin zu den Teva-Sandalen, die er wahrscheinlich das ganze Jahr über trug. Joshua hatte als 18-Jähriger Alija gemacht und landete schlicht deshalb in Efrat, weil ihn die Immigrationsbehörden dorthin geschickt hatten. Er ist keine Karikatur oder ein politisches Symbol, sondern ein ganz normaler Typ mit Familie. Für ihn ist die Siedlung Heimat. Dennoch fiel es mir schwer, ihn als etwas anderes als einen kleinen Punkt im grossen Ganzen der Siedlerbewegung zu verstehen.
«Warum»-Frage
Aber Joshua sprach nicht in abstrakten Begriffen oder Ideen. Er erzählte seine Geschichte anhand von Ereignissen und Erfahrungen – ein deutlicher Kontrast zur träumerischen Ausdrucksweise von Rabbi Cohen. Er sprach von seiner Angst um die Sicherheit seiner Kinder und davon, dass es in der Gegend Entführungen und Morde gegeben hatte, als sie aufwuchsen. Er erwähnte die Räumung der Siedlungen in Gaza im Jahr 2005 und die Folgen. Für ihn, wie für viele Siedler, dienen ihre Kommunen als Puffer gegen mögliche Angriffe auf Israel aus den Bergen. Dennoch ertappte ich mich dabei, seine Aussagen durch die Überzeugungen von Rabbi Cohen zu filtern, als verkörpere auch der Onkel meines Freundes diese einzigartige «Wahrheit» der gesamten Siedlerbewegung. Gegen Ende des Gesprächs stellte ich schliesslich die grosse «Warum»-Frage, weil ich dringend eine politische oder moralische rote Linie haben wollte, eine klare, definitive Antwort, die mir eine Entscheidung ermöglichen würde. Stattdessen war seine Antwort viel einfacher, und schwerer einzuordnen: Für ihn ist Efrat einfach nur Heimat. Ich wusste nicht, wohin ich das packen sollte.
Wie versteht man zwei widersprüchliche Realitäten innerhalb ungleicher Machtverhältnisse? Zieht man moralische rote Linien? Zieht man eine Linie genau in der Mitte oder zieht man irgendwo dazwischen winzige Linien?
Ein anderer Seminarteilnehmer hatte sich gegen eine Reise ins Westjordanland entschieden, weil er die dortige Situation nicht legitimieren wollte und überzeugt war, bereits alles zu wissen, was er wissen musste. Ein anderer war so entsetzt über die Aussagen von Rabbi Cohen, dass er sich weigerte, an der nächsten Sitzung teilzunehmen.
Vielzahl von Perspektiven
Mein erster Monat in Israel war unglaublich peinvoll und anstrengend. Ich habe in diesen ersten Wochen jeden Tag weinend meine Eltern angerufen. Ich war wütend auf mich selbst, weil ich diese Warnsignale ignoriert hatte. Ich wollte einen Schlussstrich ziehen, nach Hause gehen und das Problem hinter mir lassen: Wie konnte ich nur so falsch, so engstirnig, so ahnungslos denken? Ich war immer stolz auf meine Fähigkeit gewesen, zu verstehen, fair zu urteilen und offen für eine Vielzahl von Perspektiven zu sein. Aber meine Erlebnisse und Reaktionen darauf haben diese Selbstwahrnehmung in keinster Weise reflektiert. Ungefähr zu dieser Zeit schrieb ich eine E-Mail an einen meiner Lieblingsprofessoren: «Dieser Konflikt ist erschöpfend, zyklisch und endlos. Es ist schwer, ihn zu verstehen, ohne alles zu verurteilen, doch ihn als Völkermord oder Apartheid zu vereinfachen, fühlt sich ebenso falsch an. Es gibt hier eine unbestreitbare Teilung, aber diese Begriffe erfassen nicht den Schmerz, die Angst und die Komplexität, die ich auf beiden Seiten sehe. Ich kämpfe wohl damit, meine veränderte Perspektive mit meinen früheren Werten in Einklang zu bringen. Mein Weltbild fühlt sich zerbrochen an.»
Zweck des Verstehens
Für Arendt ist das Verstehen etwas anderes als das Wissen um eine Ansammlung von Fakten, es ist vielmehr eine «unendliche Aktivität», die ständig fortläuft und nie auf der Stelle bleibt. Verstehen ist ein Ort zwischen Handeln und Denken. Der Zweck des Verstehens besteht darin, «mit der Realität klarzukommen und uns mit ihr zu versöhnen». Das ist die Welt, in der wir leben: hart, widersprüchlich und unbequem. Verstehen bedeutet oft nicht, das Bestehende zu entschuldigen oder zu rechtfertigen; es geht darum, anzuerkennen, dass dies der einzige Boden ist, auf dem wir stehen können, und dass alles, was darauf existiert, hier bleiben wird. So beginnen wir, uns in der Welt «zu Hause» zu fühlen.
Am Ende habe ich aufgehört, nach eigenen Schlussfolgerungen und einfachen Antworten zu suchen. Stattdessen habe ich beschlossen, mich mit diesem Unbehagen auseinanderzusetzen und die Realität zu verstehen, in der ich tagtäglich lebte. Mir wurde klar, dass das Erfassen der Geschichten anderer und die Akzeptanz der diesen innewohnenden Komplexität bedeutet, damit klarzukommen, dass diese Geschichten eben manchmal nicht in eine Schublade passen, manchmal nicht mit meinem Weltbild übereinstimmen und es manchmal sogar sprengen. Ich habe gelernt, dass es in Ordnung ist, Widersprüche offen einzugestehen. Bis jetzt bin ich einem Verständnis noch nicht näher gekommen – ein unvollendeter, fortlaufender Prozess, der mich weiter begleiten wird.
Eve Campbell hat vor einem Jahr mit einem BA in Politologie am Bard College abgeschlossen und arbeitet an einer Kongress-Kampagne für den 17. Bezirk von New York State mit.