In den USA gegründet suchen die Jews for Jesus eine Zukunft in Israel.
Dass Aaron Abramson aus Amerika stammt, wird deutlich, wenn er die Sprache seiner Wahlheimat anstimmt. Er hat Hebräisch als Teenager gelernt, nachdem seine Hippie-Eltern mit der Familie von Seattle nach Israel umgezogen waren und sich der Orthodoxie anschlossen. Sein Wehrdienst liess den Akzent zwar nicht verschwinden, festigte aber seine israelische Identität. Dies sollte ihm Jahrzehnte später beruflich zugutekommen, nachdem er Israel in Richtung London verlassen hatte. Im vorigen Sommer hat der 50-Jährige die Leitung von Jews for Jesus übernommen. Er ist der dritte Mann in dieser Position seit der Gründung der umstrittenen Organisation vor rund fünf Jahrzehnten in San Francisco. Abramson ist zudem der erste Israeli an der Spitze der Jews for Jesus. Die Organisation hat diesen Fakt bei seiner Ernennung betont.
Globale Organisation
Damit wurde Abramson zum Gesicht einer Missionsbewegung, die darauf abzielt, Juden zum Glauben an Jesus als den Messias zu bekehren. Im Ursprungsland Amerika ist es in letzter Zeit still geworden um die Jews for Jesus und das «messianische Judentum» generell. Zuletzt kam das Phänomen durch den Mord an Yaron Lischinsky und Sarah Milgrim in die Schlagzeilen, die im Mai nach einem Empfang für junge jüdische Diplomaten im Capital Jewish Museum in Washington von einem Antisemiten erschossen worden sind. Beide waren Angestellte der israelischen Botschaft in der amerikanischen Hauptstadt und hatten ihre Hochzeit geplant. Lischinsky gehörte der messianisch-jüdischen King of Kings-Gemeinde Israels an.
Am bekanntesten dürften die Jews for Jesus, die – weitgehend unbemerkt von der jüdischen Gemeinschaft – zu einer globalen Organisation mit einem Budget von rund 35 Millionen Dollar und rund 250 Mitarbeitern in 13 Ländern herangewachsen sind, auf internationaler Ebene sein. Jüdische Gemeinschaften halten den Glauben an Jesus durch die Bank nicht für vereinbar mit dem Judentum – ein seltener Konsens zwischen den verschiedenen Strömungen. Doch die «messianischen Juden» bestehen darauf, eine legitime Form jüdischer Identität zu repräsentieren, fast als ob sie ebenfalls eine eigene Gemeinschaft innerhalb des Glaubens wären.
Die Wahl eines Leiters mit israelischem Hintergrund ist symptomatisch für die Entwicklung der Jews for Jesus seit ihrer Entstehung als Teil der Gegenkultur der frühen 1970er-Jahre insgesamt. Gründer Moishe Rosen (1932–2010) war in Denver, Colorado, in einem jüdischen Elternhaus aufgewachsen, konvertierte 1953 zum Christentum und wandte sich bald als konservativer Baptistenprediger der Missionsarbeit unter jüdischen Gemeinden zu. Dies zunächst im Rahmen des «American Board of Missions to the Jews» (ABMJ), aus dem 1984 die von Evangelikalen geführten «Chosen People Ministries» hervorgingen. Rosen gründete 1970 noch unter dem Schirm der ABMJ die «Hinei Ministries», die er 1973 als Jews for Jesus in eigener Regie weiterführte. Die Organisation wurde bald für eine theatralische Strassenmission und die Verbreitung provokanter religiöser Literatur in New York und anderen amerikanischen Städten mit grossen jüdischen Gemeinden bekannt.
Evangelium mit Kaffee
Heute ist die grösste Gruppierung der Jews for Jesus mit 60 Beschäftigten in Israel zu finden. Die Mitarbeiter verteilen jedoch keine Traktate auf der Strasse, obwohl Missionierung in Israel legal ist, solange die Zielgruppe volljährig ist und Bekehrungen ohne finanzielle Anreize erfolgen. Stattdessen konzentriert sich die Organisation nach eigenen Angaben darauf, Bedürftigen zu helfen und Neuankömmlinge, Soldaten in Not, Opfer von Menschenhandel und Prostitution sowie Obdachlose zu unterstützen. Messianische Lehren werden nebenbei für Interessierte angeboten. Andere messianische Juden in Israel versuchen, das Evangelium über Kaffee und Gebäck zu verkünden.
Diesen Ansatz verfolgen die Jews for Jesus auch in den USA, wo die Mitarbeiter nach Holocaustüberlebenden in Not suchen, und in Europa, wo sie sich inmitten der massiven Vertreibung auch von Mitgliedern jüdischer Gemeinden an Hilfsmassnahmen in der Ukraine beteiligen. Dort sind auch andere messianische Gruppen aktiv. In einem Zoom-Interview berichtet Abramson: «Vor zehn bis fünfzehn Jahren begannen wir, uns vom Kampagnenmodell abzuwenden.» Er räumt ein, dass dieses Vorgehen Widerstände ausgelöst hat: «Aber deshalb stellen wir unsere Arbeit nicht ein. Wir wollten vielmehr Möglichkeiten für jüdische Menschen schaffen, darüber ins Gespräch zu kommen, wer Jesus ist und was es bedeutet, ein Nachfolger Jesus’ zu sein.» Laut Abramson hat die Organisation im vergangenen Jahr mit rund 40 000 Juden über Jesus gesprochen und weiss von rund 250 Menschen, die «jüdische Nachfolger Jesus’» geworden sind. Seine Bewegung bevorzugt diesen Begriff gegenüber Formulierungen wie «Judenchristen» oder «zum Christentum konvertierte Juden». Die Gruppe liefert zudem jeden Monat 100 bis 150 Exemplare des Neuen Testaments in hebräischer Sprache an Menschen, die diese online anfordern, so Abramson.
Missverständnisse unter Christen
Die Jews for Jesus betreiben keine eigenen Gemeinden. Stattdessen vermittelt die Organisation Konvertiten an traditionelle Kirchen und Gotteshäuser, die der grösseren messianisch-jüdischen Bewegung angehören. Abramson und seine Familie leben momentan in London und besuchen dort eine anglikanische Kirche.
Parallel zur direkten Kontaktaufnahme mit Juden hält die Gruppe auch Vorträge in Kirchen über Juden und das Judentum. Laut Abramson sollen damit Missverständnisse unter Christen ausgeräumt und der Kampf gegen Antisemitismus unterstützt werden. Evangelikale Christen unterstützen die Gruppe ihrerseits grosszügig mit Spenden und haben so deren Wachstum gefördert. Die Finanzberichte von Jews for Jesus weisen Jahresbudgets von rund 35 Millionen Dollar aus. Dies entspricht etwa dem Dreifachen des Budgets des Dachverbandes United Synagogue of Conservative Judaism in den USA, der eine ganze jüdische Strömung vertritt.
Widerstand gegen Jews for Jesus und die messianische Bewegung insgesamt war für jüdische Führungspersönlichkeiten ein wichtiges Anliegen, als die Gruppe noch provokative öffentliche Kampagnen führte. Umso grösser war die Aufregung 2023, als die Jewish Telegraphic Agency einen Artikel veröffentlichte, der auf neu aufgetauchten FBI-Akten basierte und belegte, dass jüdische Führungspersönlichkeiten heimlich mit der messianischen Bewegung zusammengearbeitet hatten. Dies blieb jedoch eine Episode im San Francisco der 1970er Jahre, als Leiter jüdischer Organisationen mit Moishe Rosen bei Demonstrationen für Ausreisebewilligung für Juden aus der Sowjetunion kooperierten. Mitglieder der Jews for Jesus nahmen an Protesten teil und vergrösserten so deren Umfang und Wirkung.
Irreführende Methoden
Dennoch bleiben Aktivisten über eine auf Juden zugeschnittene christliche Missionsarbeit empört: «Jews for Jesus ist die bekannteste Organisation, die Juden weltweit auf eine typisch jüdische Art und Weise anspricht», erklärt Shannon Nuszen, eine ehemalige christliche Missionarin, die zum Judentum konvertierte und anschliessend die Anti-Missions-Gruppe Beyneynu in Israel gegründet hat: «Ihre Methoden sind irreführend und zielen darauf ab, Juden mithilfe jüdischer Traditionen, Symbole und Ikonen zu ködern – Juden, die sich einer direkten und ehrlichen Darstellung der Missionsziele sonst widersetzen würden». Der aus den USA nach Israel eingewanderte amerikanisch-jüdische Rabbiner Tovia Singer beobachtet die Bewegung seit über 40 Jahren. Seine Gruppe «Outreach Judaism» bekämpft messianische Narrative auf Social-Media-Kanälen. Er sieht die Hinwendung von Jews for Jesus zu humanitärer Arbeit als opportunistisch und schädlich an: «Jews for Jesus sind immer noch nur ein Feigenblatt für die christliche Mission unter den Juden. Sie nutzen humanitäre Hilfe, um die bedürftigsten Mitglieder der jüdischen Gemeinde zu erreichen.» Denn die Organisation habe sehr wohl erkannt, «dass die Verteilung von Traktaten in New York zwar Geld einbrachte, aber nicht effektiv zur Evangelisierung der Juden beitrug.»
Balanceakt
In der Vergangenheit hätten messianische Missionare auf die Vorwürfe Singers mit einer Verteidigung ihres Glaubens reagiert. Doch laut dem britischen Jews-for-Jesus-Insider Richard Harvey geht die Organisation heute auf eine neue Art und Weise mit Kritikern um: «Jews for Jesus begann als einfacher Protest: Man kann Jude sein und an Jesus glauben.» Anhänger seien weder «einer Gehirnwäsche unterzogen, erpresst oder bestochen worden. Nein, wir haben eine echte spirituelle Erfahrung gemacht.» Harvey betrachtet die Skepsis, die Mitgliedern von Jews for Jesus zunächst entgegenschlug, als Relikt historischer Spannungen im christlich-jüdischen Verhältnis. Diese seien inzwischen weitgehend verschwunden: «Wir haben uns wirklich weiterentwickelt. Heute gibt es weniger ein Wir-gegen-die-Gefühl zwischen den christlichen und jüdischen Gemeinden, weil die jüdischen Gemeinden ohnehin so pluralistisch und vielfältig sind. Und gleichzeitig haben viele Christen ihr Verständnis des jüdischen Volkes grundlegend überdacht und verändert.»
Abramson hat als junger Mann am All Nations Christian College in Grossbritannien bei Harvey studiert und erzählt von einer Lebensgeschichte, die anschaulich macht, wie fliessend die Grenzen religiöser Identität sein können. Sein Vater stammte aus einer liberalen jüdischen Familie in Detroit, entfernte sich aber von der Tradition und wurde zusammen mit Abramsons katholisch erzogener Mutter zum Hippie. Abramson ist der Älteste von sechs Kindern und beschreibt seine Familie als nur am Rande am jüdischen Leben beteiligt. Er habe eigentlich eine säkulare Kindheit erlebt.
Als er sich dem Bar-Mizwa-Alter näherte, diskutierte die Familie, wie sie diesen Übergangsritus begehen sollte. Seine Mutter bestand darauf, dass ihre religiöse Tradition vertreten sein sollte. Deshalb entschied die Familie, das Ritual in einer nahegelegenen messianischen Gemeinde zu feiern, die Jesus als Messias verehrte und gleichzeitig jüdische Feiertage und Gottesdienste beging. Seine Eltern waren letztlich nicht am Messianismus interessiert. Ihre spirituelle Suche führte sie stattdessen in eine andere Richtung. Sie unternahmen eine Reise nach Israel und beschlossen 1990, mit der Familie dorthin zu ziehen und orthodoxe Juden zu werden. (Seine Mutter konvertierte zu dieser Zeit zum Judentum.) Sie lebten in der Siedlung Halamish im Westjordanland und meldeten Abramson an einer Jeschiwa an. Anschliessend diente er während der israelischen Besetzung des Südlibanons in der IDF in einer nicht-kämpfenden Funktion jenseits der Grenze.
Extrem intensiv
Die Jahre nach seinem Umzug nach Israel, insbesondere seine Zeit in der Jeschiwa, liessen Abramson an seiner Identität und seinem Erbe zweifeln: «Ich dachte mir: ‹Was mache ich hier eigentlich? Warum bleibe ich in Israel? Das ist doch verrückt!›», erinnerte er sich. «Die Leute in der Jeschiwa wirkten auf mich extrem und intensiv. Ausserdem blieben durch diese Erfahrung einige meiner tiefsten Fragen unbeantwortet: Was bedeutet es, Jude zu sein? Warum will Gott, dass wir all diese Gesetze halten? Was wird er mit den anderen sechs Milliarden Menschen auf der Welt tun, die nicht jüdisch sind?»
Nach seinem Militärdienst packte Abramson seine Sachen und kehrte in die USA zurück. Dort lebte er wie ein Vagabund, reiste mit Freunden umher und machte Musik. Er las viel über Spiritualität, die Hare-Krishna-Bewegung und New-Age-Philosophien. Dann empfahl ihm jemand, im Neuen Testament zu lesen: «Es hat mich sofort angesprochen und erschien mir wahr. Ich hatte sogar das Gefühl, eine übernatürliche Erfahrung gemacht zu haben.» Dies habe ihm zur Überwindung seiner damaligen «inneren Zerrissenheit» verholfen und führte Abramson schliesslich zurück nach Israel, wo er sich einer damals noch sehr kleinen messianischen Gemeinde anschloss: «Das Neue Testament hat mir die Liebe zum jüdischen Volk und sogar zur orthodoxen Gemeinde zurückgegeben. Auf merkwürdigen Umwegen hat mir das Neue Testament meine jüdische Identität wieder bewusst gemacht.»
Juden-Mission
Genaue Statistiken über die Anzahl israelischer Juden in der Bewegung fehlen. Aber Anhänger geben sich überzeugt, dass sie immer grösseres Interesse in Israel finden. Eine vielzitierte Schätzung geht von insgesamt 30 000 Menschen im messianischen Judentum aus, verteilt auf mehrere hundert Gemeinden. Ähnlich wie andere kleine Gemeinschaften, die im jüdischen Staat als marginalisiert und fehl am Platz gelten – beispielsweise die afrikanisch-hebräischen Israeliten –, konnten sich die messianischen Gläubigen zumindest ein Stück weit in die israelische Gesellschaft integrieren, indem sie ihre Kinder zum Militärdienst schicken. Kurz nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober tauchte ein Video eines israelischen Soldaten auf, der sich als jüdischer Missionar vorstellt, der Jesus liebt und vor der Kamera erklärt, er sei mit der Absicht, das Evangelium zu verkünden, auf seiner Basis präsent.
Gegner der Judenmission sehen Videos dieser Art nicht als Anzeichen einer friedlichen Integration, sondern sind über die Allgegenwart einer gefährlichen christlichen Propaganda gerade auf Militärstützpunkten, in Bunkern und Hotels alarmiert, in denen Evakuierte des 7. Oktober untergebracht worden sind: «Missionare prahlen damit, dass dies der perfekte Zeitpunkt sei, um Juden zu erreichen», ist Nuszen empört: «Juden sehen Christen, die Hilfspakete und Ausrüstung verteilen – ein schönes und herzerwärmendes Bild. Doch Juden bekommen selten die Videos zu sehen, die in die christliche Welt geschickt werden und in denen offen darüber gesprochen wird, wie diese Unterstützung dazu beiträgt, Menschen zu Jesus zuführen.»
Neuorientierung
Abramson hält auf Distanz zu diesen Methoden. Er will am Vorgehen seiner Bewegung während der letzten Jahre festhalten. Schliesslich war er als operativer Leiter der Jews for Jesus unter seinem Vorgänger David Brickner massgeblich an der Neuorientierung der Organisation beteiligt. Zukünftig sollen die Jews for Jesus die Sensibilisierung von Christen für den zunehmenden Antisemitismus noch weiter in den Vordergrund stellen: «Wir können uns für das jüdische Volk und für Israel einsetzen und Verbündete im Kampf gegen Antisemitismus gewinnen. Denn christliche Glaubensorganisationen sind sich des Ausmasses des Antisemitismus manchmal nicht bewusst.»
Daneben beobachtet Abramson demographische Veränderungen wie die Migration von Juden aus der Ukraine nach Israel und von israelischen Juden in die USA sowie die Vielfalt innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, um die Effektivität von Jews for Jesus zu mehren: «Wir haben uns von einem Einheitsansatz verabschiedet. Wir werden künftig verstärkt massgeschneiderten Ansätzen folgen, die auf die Bedürfnisse einzelner Gemeinschaften zugeschnitten sind.»
Asaf Elia-Shalev ist ein leitender Reporter bei der JTA mit Wohnsitz Los Angeles. Er hat 2024 bei UC Press die Studie «Israel‘s Black Panthers: The Radicals Who Punctured a Nation´s Founding Myth» publiziert.