Schwerpunkt – hannah arendt 06. Okt 2025

Kulturtransfer für morgen

Die Bibliothek des jüdisch-theologischen Seminars in Breslau.

Die Auseinandersetzungen um die Nachkriegsverteilung der in Teilen geretteten Bibliothek des Breslauer Rabbinerseminars bieten einen guten Einblick in die Rolle Hannah Arendts als Executive Secretary der Jewish Cultural Reconstruction, Inc.

Hannah Arendt arbeitete von 1949 bis 1952 in New York als Geschäftsführerin (Exekutive Secretary) der Jewish Cultural Reconstruction, Inc. (JCR). Die während des Krieges in New York gegründete Organisation agierte als Treuhänderin der vom NS-Regime geraubten jüdischen Kulturgüter in der amerikanischen Zone. 1949 wurde die JCR zudem ermächtigt, herrenlose Objekte, die von der US-Militärverwaltung in den sogenannten Central Collecting Points gesammelt worden waren, an jüdische Gemeinden, Universitäten und kulturelle Organisationen weltweit zu verteilen. Unter der Leitung des Historikers Salo W. Baron gelang es, über eine halbe Million Kulturgüter zurück in jüdischen Besitz zu bringen. Prägend in diesem komplizierten Prozess vieler divergierender Interessen zwischen dem Anspruch Israels als privilegiertem Erben, den USA und den Briten als Siegermächten und den Gemeinden der Diaspora war Hannah Arendt, die schon seit 1944 die Forschungsarbeiten des JCR leitete und ab 1949 die Verteilung wichtiger Bestände zu bewältigen hatte.

In den drei Jahren ihrer Geschäftsführung arbeitete sie eng mit dem an der Hebrew University lehrenden Religionsphilosophen Gershom Scholem zusammen, mit dem sie seit den frühen Dreissigerjahren eine Korrespondenz führte. Scholem war Vice-President des JCR und vertrat im Präsidium die Auffassung, dass die an das jüdische Volk zu restituierenden Kulturgüter nur in Israel eine immerwährende Heimat finden könnten. Eine Haltung, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Judentum weit verbreitet war und im Beschluss des Jüdischen Weltkongresses im Sommer 1948 ihren Ausdruck darin fand, dass jüdisches Leben in Deutschland so schnell wie möglich abgewickelt werden sollte.

Lange Debatten
Diese Haltung spiegelt auch das Protokoll der Präsidiumssitzung der JCR vom 9. Oktober 1950 bei der Frage wider, wie bedeutende Bestände zu verteilen seien: »Was eine Aufteilung betrifft, berichtete Dr. Arendt, dass Prof. Scholem alle Judaica für die Hebräische Universität und die gesamte Sammlung nichtjüdischer Bücher mit Ausnahme von Zeitschriften für Israel beansprucht.» Nach langen Debatten – und auch «Entführungen» wertvoller Konvolute nach Israel, hatte man sich im Direktorium der JCR auf eine Faustregel verständigt: 40 Prozent USA, 40 Prozent Israel, 20 Prozent Rest der Welt. Oberste Priorität bei der Zuteilung einzelner Titel oder seltener Bestände, sogenannter Rara, sollten die Hebrew University und die Jewish National Library (beide in Jerusalem) haben. Restitutionen innerhalb Deutschlands oder an Empfänger im Ostblock waren damals undenkbar.

Im November 1949 reiste Hannah Arendt nach sechzehnjähriger Abwesenheit erstmals wieder nach Deutschland. Sie war als Repräsentantin des JRC in offizieller Goodwill- und Factfinding-Mission unterwegs, denn vier Jahre nach Kriegsende war nur noch wenig Bereitschaft spürbar, der Jewish Cultural Reconstruction, Inc. Bestände auszuhändigen oder bei Nachforschungen behilflich zu sein. Besonders die jüdischen «Rückkehrer» verweigerten eine Zusammenarbeit, da diese sich in der Absicht, nach ihrer Vertreibung wieder Fuss zu fassen, durch die Haltung des World Jewish Congress verraten fühlten. Zu dieser Zeit war auch Arendt der Überzeugung, dass es kein blühendes Jüdisches Leben in Deutschland, vielleicht sogar in ganz Westeuropa, mehr geben könne: «Das gesamte jüdische Kulturleben in Westeuropa beruht auf den Flüchtlingen aus Osteuropa und wird von ihnen getragen. Diese werden die Länder sicherlich in einigen Jahren verlassen», schreibt sie am 3. Dezember 1949 an ihren Präsidenten, den Historiker und Religionsgelehrten Salo Baron nach New York.

Bleibende Sentimentalität
Am 14. Dezember schreibt sie ihrem deutschen Ehemann Heinrich Blücher nach New York: «Weisst Du eigentlich, wie recht Du hattest, nie wieder zurückzuwollen? Die Sentimentalität bleibt einem im Halse stecken, nachdem sie einem erst in die Kehle gestiegen ist. Die Deutschen leben von der Lebenslüge und der Dummheit. Letztere stinkt zum Himmel.» Die Weihnachtstage 1949 verbringt Hannah Arendt bei ihrem Mentor Karl Jaspers in Basel.

Von dort geht ein weiterer Brief mit Eindrücken ihrer Reise an Blücher ab: «Ich habe mit den meisten noch guten Kontakt, sie haben Vertrauen zu mir, ich spreche noch ihre Sprache. Schrecklich sind nur die sog. deutschen Juden, die Gemeinden sind Raubgemeinschaften, alles verwildert und in äusserster Vulgarität und Gemeinheit. Wenn ich nicht mehr kann, flüchte ich mich zu den amerikanischen jüdischen Organisationen.» Wenige Wochen später berichtet sie in einem Field Report aus Hamburg über die Schwierigkeiten, verschollenen Museumsexponaten auf die Spur zu kommen: «…, weil die deutsch-jüdischen Gemeinden häufig eine bedauerliche Tendenz zeigen, gemeinsame Sache mit der deutschen Regierung gegen die internationalen jüdischen Organisationen zu machen.»

Lösung Schweiz
Eine frühe Verabredung auf ihrer Europareise hatte Hannah Arendt am 19. Dezember 1949 in Zürich, um sich dort mit Rabbiner Zwi Taubes und Vertretern des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG) zu treffen. Anlass dafür war ein Schreiben des SIG-Vizepräsidenten Alfred Goetschel an Salo Baron vom 4. Mai gewesen, das den Wunsch des Gemeindebundes um Berücksichtigung bei der Verteilung von Beständen äusserte: «Die Berücksichtigung der Schweiz würde nicht nur im Hinblick auf die politisch und wirtschaftlich stabilen Verhältnisse Gewähr für eine zuverlässige und dauernde Bewahrung dieser Kulturgüter bieten, sondern sie würde auch eine überaus wertvolle Befruchtung des geistig-religiösen Judentums in unserem Land bedeuten.» Der SIG beteuerte, dafür zu haften, dass die übergebenen Bücher nicht verkauft und nicht an Private verschenkt würden, sondern der jüdischen Öffentlichkeit des Landes stets zur Verfügung stünden.

In aller Eile, da erst spät auf den Zug aufgesprungen, verfasste der SIG eine Liste von Desideraten, die aber von der JCR nicht erfüllt werden konnte, da die betreffenden Bestände bereits verteilt waren. Nächste Lieferungen aus dem Central Collection Point in Wiesbaden – so die ernüchternde Antwort – wären erst in zwei Jahren zu erwarten. Der Zürcher Rabbiner Zvi Taubes, der in Wien am Jüdischen Pädagogium den Vorlesungen von Salo Baron gefolgt war, intervenierte in New York. Auch Saly Meyer, dessen Verdienste bei der Aufnahme jüdischer Flüchtlinge in der Schweiz Gewicht hatten, unterstützte das Begehren. Der Erfolg blieb nicht aus. Am 19. Oktober 1949 teilte Hannah Arendt dem SIG mit:

«I am glad to tell you that an official decision has confirmed the inclusion of Switzerland in the re-al-location plan for recovered books. In this connection it has been proposed, but not yet decided, to allocate to Switzerland the remnants of the Breslau Seminary Library, Fraenckel‘sche Stiftung.» Arendt schreibt: «Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass eine offizielle Entscheidung die Einbeziehung der Schweiz in den Neuverteilungsplan für wiederbeschaffte Bücher bestätigt hat. In diesem Zusammenhang wurde vorgeschlagen, aber noch nicht beschlossen, der Schweiz die Überreste der Breslauer Seminarbibliothek, Fraenckel‘sche Stiftung zuzuweisen.»

Grundlage des Judentums
Das Breslauer Jüdisch-Theologische Seminar Fraenckel‘sche Stiftung war die einflussreichste jüdische Bildungsstätte im Zeitalter der beginnenden Moderne. 1854 durch den kinderlosen Mäzen Jonas Fraenckel ins Leben gerufen, entsprach das Rabbinerseminar dem wachsenden Bedürfnis einer religiösen wie auch weltlich geprägten Ausbildung. Das Seminar bot auf der Grundlage des Judentums eine uneingeschränkte Freiheit der Forschung. Grundlage und Abbild der Breslauer Schule war die Bibliothek des Seminars, die dank der generösen Ausstattung durch ihren Stifter auch frühe Drucke, seltene Handschriften sowie Erstausgaben vieler grundlegender Texte und Kommentare anschaffen konnte. Insgesamt verfügte die Bibliothek des Breslauer Seminars am Vorabend ihrer Zerstörung im November 1938 über 40 000 Bücher und Druckschriften. Dazu Hannah Arendt: «This was the most valuable Jewish-owned collection in Germany for ancient literature, Judaica and Orientalia.» Die Historikerin Anna Holzer-Kawałko, die das Schicksal der Breslauer Bibliothek erforscht hat, vermutet, dass der Breslauer Bücherraub dem Reichssicherheitshauptamt übereignet worden war, das 1939 Teile davon nach Frankfurt zum Institut zur Erforschung der Judenfrage verschob, das sich aus einer radikal antisemitischen Perspektive mit der Geschichte des Judentums beschäftigte.

In einer Statistik von 1949 wird der in Wiesbaden gelagerte Restbestand des Jüdisch-Theologischen Seminars von Breslau noch mit 11 412 Objekten angegeben. Auch wenn dies nur noch etwa einem Viertel der berühmten Breslauer Bibliothek entsprach, waren die Bücher wegen ihrer Qualität und Sammlungshistorie von herausragender Bedeutung und sollten deshalb vereinigt bleiben.

Bücher für Gemeinden
Deshalb wurde am 19. Oktober 1949 im Direktorium der JCR der Beschluss gefasst, historisch gewachsene Bibliotheken und Sammlungen als Einheit zu respektieren, womit dem SIG der gesamte Breslauer Bestand zugesprochen werden könnte. Dazu das Protokoll: «Es wurde beschlossen, den wiederholten Anträgen der Schweiz auf Verteilung von Büchern an die jüdischen Gemeinden in der Schweiz stattzugeben. Der Restbestand der Franckel’schen Stiftung sollte der Schweiz aber nur unter der Bedingung zugewiesen werden, dass die Sammlung dort intakt bleiben würde und nicht – wie vom SIG geplant – unter die jüdischen Gemeinden in der Schweiz verteilt wird.»

Der vehemente Protest gegen diesen Beschluss lässt nicht lange auf sich warten. Der nach Wiesbaden entsandte Vertreter der Hebrew University, Shlomo Shunami, forderte postwendend eine gewichtige Auswahl von Breslauer Büchern für Israel. Gershom Scholem unterstützte ihn dabei nach Kräften. Am 2. November 1949 schreibt Shunami an Hannah Arendt: «Für die etwa 20 000 Juden der Schweiz, die über keine höheren Bildungseinrichtungen verfügen, würde diese Sammlung, die eine hochstehende Forschungsbibliothek der jüdischen Welt darstellt, ein ‹Embarras de Richesse› bedeuten, und ich frage mich, ob sie dies bewältigen können.» Die Interventionen der Israel-Lobby hatte Folgen. Am 21. November schreibt Hannah Arendt dem Präsidenten des SIG Georges Brunschvig: «Die Zuteilung der Breslauer-Sammlung ist noch nicht entschieden.» Arendt will Zeit gewinnen, um die Wogen zu glätten, denn im Direktorium des JCR rumorte es. Eine neuerliche Abstimmung über die umstrittene Zuteilung und eine anschliessende Sondersitzung legten fest, dass sich die Hebrew University als privilegierte Nutzniesserin 2500 Bücher aus dem Breslauer Bestand sichern dürfe. Vom verbleibenden Rest solle dann je die Hälfte in die Schweiz und nach Argentinien abgehen. Doch auch diese Regelung hielt dem Drängen der Hebrew University nicht stand.

Im Protokoll der JCR-Exekutive vom April 1950 wurde die de facto Verteilung der Breslauer Bücher nachträglich festgehalten: «Etwa 5000 (nicht, wie ursprünglich geplant, 2500) Bücher wurden von Shlomo Shunami für die Hebrew University ausgesucht.» «The remainder will go to Switzerland» – was übrig blieb wird in die Schweiz gehen. Am 8. Dezember, Hannah Arendt war mittlerweile in Deutschland eingetroffen, lässt sie den SIG aus Wiesbaden wissen: «Ich habe inzwischen die Reste der Breslauer Bibliothek — denn um mehr handelt es sich leider nicht — selbst gesehen und befürchte, dass Ihnen wenig damit gedient wäre, wenn wir sie Ihnen so wie es ist, mit vielfach inkompletten Sätzen etc., übergeben würden.» Sie bietet an, die Angelegenheit in Zürich zu besprechen.

Ernüchterung und Prestige
Am 19. Dezember 1949 – Hannah Arendt ist auf dem Weg zu Karl Jaspers – trifft sie dort ein, um Rabbiner Taubes und der Geschäftsleitung des SIG das ernüchternde Resultat zu erläutern. Zwei Tage darauf unternimmt der Präsident des SIG Georges Brunschvig, für den die Schweizer Tranche der Breslauer Bücher auch ein persönliches Prestige bedeutet, einen letzten Versuch, um bei Salo Baron zu retten, was noch zu retten ist: «In kultureller Hinsicht würden wir es allerdings bedauern, wenn die durch den Naziterror und die Kriegswirren bereits auf ein Drittel des ursprünglichen Bestandes zusammengeschmolzene Breslauer Seminarbibliothek nochmals unterteilt würde und in ihren wertvollsten Partien Europa verloren ginge. Es wäre wohl richtig, diese wissenschaftliche Spezialbibliothek in Europa zu belassen, damit die hier lebenden Forscher die benötigten Bücher nicht aus Israel oder USA beziehen müssen.»

Doch da waren die Würfel längst gefallen. Der SIG musste sich mit seiner Rolle am Katzentisch begnügen. Obwohl man sich im Klaren darüber ist, «dass die Restbestände nicht mehr so wertvoll waren», kam ein Rückzieher nicht in Frage. Man agierte konziliant: «Entsprechend dem Wunsch von Frau Dr. Arendt bestätigen wir gerne, dass wir bereit sind, auch einen Teil der Breslauer Seminarbibliothek in unserem Land zu übernehmen. Wir würden sie dann voraussichtlich unter den drei grössten jüdischen Bibliotheken [Zürich, Basel, Genf] aufteilen» lässt er New York wissen. An die Verpflichtung, den Bestand in der Schweiz nicht weiter zu verteilen, will man sich – trotz wiederholtem Protest von Hannah Arendt – nicht mehr halten.

6000 Bücher
Der «Rest» mit etwa 6000 Breslauer Büchern traf Anfang Mai 1950 in Genf ein. «Sobald die Zollformalitäten erledigt sein werden, beginnen wir mit der Katalogisierung der Bestände, und wir werden gerne später Gelegenheit nehmen, dem Board der Jewish Cultural Reconstruction, Inc. zu berichten und vor allem unseren Dank abzustatten», schreibt Brunschvig am 5. Mai 1950 an Hannah Arendt. Von da an beginnt der lange Leidensweg der Bestände aus dem Breslauer Rabbinerseminar unter der Obhut des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds. Schon vor dem Eintreffen der Lieferungen hatten sich die drei Gemeinden über die Verteilung heillos zerstritten. Trotz rabbinischer Vermittlungsversuche sollte die Suche nach Kompromissen bis 1953 andauern und über Jahrzehnte hinweg ein Zankapfel bleiben, dem der SIG nicht gewachsen war. Es wird beinahe 75 Jahre dauern, bis der unterdessen stark in Mitleidenschaft geratene und auch willkürlich dezimierte Schweizer Buchbestand des Breslauer Rabbinerseminars Fraenckel‘sche Stiftung in der Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) zu Ruhe und Würde gelangen sollte.

Ein Brief von Gershom Scholem an «Liebe Hannah» vom 20. September 1950 liest sich nachträglich prophetisch: «Beträchtliche psychologische Schwierigkeiten hat uns die Nachricht von der Übergabe der Breslauer Bestände an den Schweizer Gemeindebund gemacht, die hier einige Leute verbittert hat. Man kam immer wieder damit heraus. Da in der Tat die Bücher in der Schweiz – soweit ich verstehe – zweifellos vermodern werden (ich habe mit dem einen der Mitglieder der Schweizer Verteilungskommission darüber schon ein trauriges Gespräch gehabt), habe ich auch hierüber Zweifel, ob wir da sehr weise verfahren sind. Meinen Sie, dass sich da noch etwas machen lässt?»

Gabriel Heim ist Journalist, Autor und Regisseur und lebt in Basel.

Gabriel Heim