Wie Hannah Arendt von einer wichtigen Kolumnistin zur Zielscheibe massiver Kritik im «Aufbau» wurde – und sich wehrte.
In der «Aufbau»-Redaktion in Manhattan am 2121 Broadway stand bis zu deren Auflösung im August 2004 ein alter Rolodex aus Blech auf einem der schweren, mit grünem Linoleum bezogenen Schreibtische, die ebenfalls aus – allerdings ungleich stärkerem – Stahlblech konstruiert waren. Als besondere Attraktion für Besucher war darin eine handgeschriebene Karteikarte mit dem Namen und der Telefonnummer von Hannah Arendt in ihrem Apartment an der Upper West Side zu finden: ein handgreiflicher Beleg für die Beziehung Arendts zu der Zeitung. Allerdings hat die Forschung dazu bis anhin nur bruchstückhafte Informationen ermittelt. Arendt dürfte zumindest halbe Tage an einem Schreibtisch auf der Redaktion gearbeitet haben und bezog vermutlich ein festes Salär. Aber hat Chefredakteur Manfred George ihre Beiträge regelmässig redigiert – und wie kam die damals im Journalismus noch ungeübte Philosophin mit Ablieferungsterminen zurecht?
Ehemalige Studentin
So basiert dieser Beitrag zu ihr und der damals wöchentlich erscheinenden Zeitung auf der grundlegenden Biographie «Hannah Arendt. For Love of the World» ihrer ehemaligen Studentin Elisabeth Young-Bruehl aus dem Jahr 1982 und natürlich den Texten Arendts im «Aufbau». Fest steht, dass die damals 35-Jährige nach ihrer Flucht aus Portugal nach New York im Mai 1941 am 14. November jenes Jahres ihren ersten Beitrag im «Aufbau» veröffentlicht hat. Dieser trug den Titel «Die jüdische Armee – der Beginn einer jüdischen Politik?» und nahm damit ein Thema auf, zu dem sie immer wieder zurückkehren sollte.
Doch zunächst ist ein Blick auf die damalige Rolle und das Selbstverständnis des «Aufbau» geboten. Mit einer im Krieg zügig in Richtung 40 000 Exemplare wachsenden Auflage und der damit zunehmenden Bedeutung hatte die Redaktion am 16. Mai 1941 den Leitartikel «Die Politik des Aufbau» publiziert. Die Zeitung sollte den «Interessen aller Immigranten aus Mitteleuropa und ihrer Einreihung in das Leben und die Gesellschaft der amerikanischen Demokratie dienen». «Aufbau» sollte aber auch «die Traditionen des Judentums bewahren und die Verbundenheit des Einzelnen mit dem jüdischen Erbe, jüdischer Geschichte, Kultur und Religion vereinigen.» George selbst legte am 17. Juli 1941 nach und betonte die unabhängige und offene Haltung des «Aufbau», der keine «Begrenzung kennt, die ein orthodoxes, liberales, zionistisches, konservatives oder fortschrittliches Blatt in Europa hatte: … Wir machen eine jüdische Politik, das heisst eine Politik, die in jüdischen Fragen vom Interesse des Gesamtjudentums aus handelt und denkt.» Ziel sei eine Zeitung, «die ständig die Welt und ihr Geschehen in Beziehung zum Judentum setzt und versucht, in den Nebeln der Zeit den jüdischen Weg zu finden.» Darüber hinaus sei eine jüdische Zeitung nun «die einzige Möglichkeit der Verbindung der Versprengten und Verjagten: ein Leuchtturm in der Finsternis; …nicht nur Wegweiser, sondern auch Hoffnungsstrahl.»
Publizistische Heimat
Dass Arendt beim «Aufbau» knapp vier Jahre lang eine publizistische Heimat fand, kann als Beleg für die Ernsthaftigkeit dienen, mit der George und die Redaktion diese hehren Maximen von Offenheit und Unabhängigkeit umsetzten. Denn als Kolumnistin behandelte sie zwar durchaus Themen, die dem Blatt bereits am Herzen lagen. Arendt konnte aber auch eigene Noten setzen.
Diese Zeit begann im September 1941, als Arendt eine Veranstaltung des «New World Club» (der Exilanten-Verein und Herausgeber des «Aufbau») mit Kurt Blumenfeld (1884–1963) besuchte. Der bedeutende Zionist gilt als Mentor und wichtiger Freund Arendts (zumindest bis zur Debatte um ihr Eichmann-Buch zwei Jahrzehnte später). Sie war seinerzeit keineswegs eine gefeierte Intellektuelle, aber durch ihre Studie über Rachel Varnhagen und Arbeit für jüdische Organisationen in Berlin und dann ab 1933 in Paris doch eine bekannte Grösse zumindest in Exilantenkreisen. Bald nach der Veranstaltung sandte Arendt einen ausführlichen Brief zu einem «Aufbau»-Beitrag des im amerikanischen Exil weilenden PEN-Präsidenten Jules Romains an die Redaktion. Dieser hatte von Juden «Dankbarkeit» für seine vorhergegangene Unterstützung jüdischer Nazi-Flüchtlinge in Frankreich eingefordert. Arendt reagierte darauf mit Ironie und Schärfe, betonte aber auch die zentrale Bedeutung von Solidarität und Gleichberechtigung unter den Gegnern der Nazis. Der Text erschien am 24. Oktober 1941.
Bereits am 14. November folgte in der Ausgabe 47/1941 Arendts erster Beitrag als Kolumnistin. Manfred George war von beiden Stücken so beeindruckt, dass er ihr eine feste, zweiwöchentliche Kolumne anbot. Er sprach Arendt als Autorin «die Stärke und die Standfestigkeit eines Mannes» zu – heute sicherlich ein Affront. Aber Arendt blieb als Frau eine Ausnahmeerscheinung auf der Redaktion und wohl auch im politischen Journalismus dieser Epoche generell. Bis zum April 1945 schrieb sie knapp 50 Kolumnen für «Aufbau» nicht zuletzt zu Zionismus und dem Massenmord der Nazis an den Juden in ihrem Machtbereich, gefolgt von dem zweiteiligen Essay «Gestern waren sie noch Kommunisten…» im Juli/August 1953 und abschliessend einer Erwiderung auf die gewaltige Welle von Kritik an ihrem «Eichmann in Jerusalem» im Dezember 1963.
Historisches Subjekt
Arendts Engagement für eine jüdische Armee lag eindeutig auf der Linie des Blattes. George hatte nach einem ungezeichneten Text auf der Frontseite der Ausgabe 42/1941 (17. Oktober 1941) zur «Frage einer jüdischen Armee» in der nächsten Ausgabe am 24. Oktober 1941 selbst in einem Leitartikel für die Schaffung von aus Freiwilligen in Palästina zu rekrutierenden Einheiten plädiert und damit eine Forderung der Jewish Agency dort aufgenommen. Arendt blieb dem zentralen Argument treu. Durch eigene, unter britischem oder alliiertem Oberkommando kämpfende Einheiten würden Juden die «Wiege und Zukunft ihres Volkes verteidigen können». Dies war aufgrund der Präsenz deutscher Truppen im östlichen Mittelmeerraum und vorübergehend auch in Syrien seit dem Sommer 1940 – und ein Jahr vor der Niederlage des Afrika-Korps an den Toren Ägyptens – ein brennend aktuelles Problem. Gleichzeitig aber betonten George und dann auch Arendt die grundsätzlichere Notwendigkeit für Juden, von Objekten der Verfolgung wieder zu handelnden – also kämpfenden – historischen Subjekten zu werden.
Arendts Engagement für eine jüdische Armee nahm jedoch zunehmend eigene Formen an. Sie fand darin zumindest einen Gleichgesinnten bei dem Redakteur Joseph Maier (1911–2002). Der Rabbinersohn aus Leipzig mit einem Abschluss an der Columbia University wurde 1947 Soziologieprofessor an der Rutgers University in New Jersey und diente zuvor bei den Nürnberger Prozessen als Übersetzer. Im Mai 1942 nahmen Maier und Arendt an der Zionistenkonferenz im New Yorker Biltmore Hotel teil. Diese brachte den entscheidenden Durchbruch für die Linie David Ben-Gurions und seiner Verbündeten, nämlich die Forderung nach der Gründung eines jüdischen Staates im britischen Palästina-Mandat.
Föderale Lösung
Arendt erkannte darin eine «Krise des Zionismus», die sie zunächst in der zornigen Kolumne «Die ‹sogenannte Jüdische Armee›» (vgl.Seite 58) und Wochen später in einem dreiteiligen Essay geisselte. Ihre Agitation kulminierte in dem zweiteiligen, im Dezember 1943 gedruckten Beitrag «Can the Jewish-Arab Question be solved?» Arendt plädierte hier für eine föderale Lösung in Palästina nach Vorbild des britischen Commonwealth ohne dominante Ethnien oder Minderheiten. Sie kritisierte zudem auch die kleine Fraktion um Judah Magnes, die sich einen binationalen Bundesstaat mit einer arabischen Majorität vorstellen konnte. Arendt manövrierte sich damit unter Zionisten laut Young-Bruehl endgültig in eine radikale Aussenseiter- oder sogar Paria-Position, die ihr jeden Einfluss auf die Entwicklung in Palästina genommen habe.
George hatte dem Essay eine ungewöhnliche Note vorangestellt: «Ohne im Detail mit Frau Arendt übereinzustimmen, verlangt die tragische und schwierige Lage des jüdischen Volkes doch, dass sämtlichen Positionen dazu Raum gegeben wird, sofern diese ehrlich sind und auf einer vernünftigen Argumentation beruhen.» Des Leserinteresses gewiss, platzierte er die explosiven Texte in bewährter Journalistenmanier gleichwohl auf der Frontseite. Die Zusammenarbeit mit Arendt lief indes bis zum Frühjahr 1945 weiter, als sie sich in Europa für die «Commission on European Jewish Cultural Reconstruction» neuen Aufgaben zuwandte.
Die Verbindung zur Redaktion dauerte anscheinend fort. Eine Untersuchung der Rezeption ihres ersten grossen Werkes «The Origins of Totalitarianism» von 1951 im «Aufbau» würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Aber Arendt und George lagen angesichts der nun über die USA hereinbrechenden Kommunistenjagd unter Senator Joe McCarthy so weitgehend auf einer Linie, dass die Zeitung im Sommer 1953 ein zweiteiliges Essay rund um diese Thematik abdruckte (s.u.). Ein Jahrzehnt später bereitete George am 29. März 1963 dem «Sturm um Hannah Arendts ‹Eichmann›» auf drei Seiten eine Bühne. In einer kurzen Einleitung wird eine «Erregung, die in vielen Briefen aus Leserkreisen deutlich» werde, notiert. Den Auftakt macht eine Erklärung der Exilantenorganisation «Council of Jews from Germany», der Arendts Artikel-Serie im «New Yorker» zum Eichmann-Prozess in Jerusalem vor allem eine gravierende Fehldarstellung der Rolle und des Verhaltens von Judenräten als angeblichen Handlangern der Nazis bei der Vernichtung der europäischen Juden vorwirft.
Gefasster Ton
Anrührend lesen sich Beiträge von Zeitzeugen wie Dr. Adolf Leschnitzer (1899–1980), Rabbiner Hugo Hahn (1893–1967) und (im Juli 1963) Dr. Friedrich Brodnitz (1900–1996), der nach dem Krieg ein international renommierter Pionier auf dem Gebiet der Kehlkopfmedizin und eine erste Adresse für Mimen und Opernsänger mit Stimmproblemen wurde. Sie hatten unter Lebensgefahr im Hitler-Reich ausgeharrt und mit Rabbiner Leo Baeck oder für die «Reichsvertretung der deutschen Juden» gearbeitet. Aus diesen Beiträgen spricht eine tiefe Verwundung – hier werden Arendt nicht allein Geschichtsfälschungen vorgeworfen, sondern diese auch aus eigenen Erlebnissen belegt: In höchster Not geschaffen, hätten jüdische Organisationen zehn-, wenn nicht hunderttausende Leben gerettet. Gerade Arendts Darstellung von Leo Baeck als «jüdischer Führer» wurde rasch als Verleumdung und Verfälschung einer Aussage des Eichmann-Adjutanten Dieter Wisliceny entlarvt. Bei aller Empörung blieb der Ton dieser Texte dennoch gefasst.
Nüchtern klang Robert Kempner (1899–1993), der als Stellvertreter des amerikanischen Chefanklägers Robert H. Jackson an den Nürnberger Prozessen tiefe Einblicke in das System des von den Nazis verübten Völkermords an den Juden hatte sammeln können. Er gab Verwunderung darüber kund, dass sich Arendt als «Soziologin von Rang von faustdicken Lügen eines Adolf Eichmann bluffen» liess. Gemeint ist etwa Eichmanns Behauptung, Intrigen in Nazi-Behörden hätten ihn soweit in Anspruch genommen, dass er zur Organisation eines Völkermords gar keine Zeit gefunden habe (etliche Beiträge zu der Debatte sind 1964 in dem von F.A. Krummacher edierten Sammelband «Die Kontroverse. Hannah Arendt, Eichmann und die Juden» erschienen).
Die Debatte lief fort und errichte neue Höhepunkte, als nach den Artikeln das Buch «Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil» erschien. George legte indes im Sommer eine Pause bei der Kontroverse ein. Erst am 20. Dezember folgten in der Ausgabe 1963/51 eine abschliessende Übersicht mit einem Beitrag von Martin Buber und dazu ein Austausch zwischen Gershon Scholem («Wir waren beide nicht dabei. Die Grenze zwischen Opfern und Verfolgern ist nicht verwischt») und Arendt («Sie haben mich missverstanden»). Doch unter all den kritischen Stimmen liess George auch ihren alten Weggefährten Joseph Maier zu Wort kommen. Der warf Arendts Widersachern ein «Kesseltreiben» gegen sie vor und lobte ihr Eichmann-Buch als historisch fundierte und notwendige Kritik an einem «jüdischen Establishment».
Die letzte Verbindung
Arendt war seinerzeit laut ihrer Biographin Young-Brühl immerhin noch so gut mit der deutsch-jüdischen Gemeinschaft in New York verbunden, dass sie zwei – namentlich nicht genannte – ihrem Eichmann-Buch gegenüber besonders kritische «Aufbau»-Autoren der Zeitung in einem Brief als «Kotzbrocken» und «Idiot» abgetan hat. Aber ihre Erwiderung auf das harte Urteil Scholems erschien auszugsweise als Reprint aus der NZZ. Was blieb, war ihre Telefonnummer in dem Rolodesk aus Blech. Wann George oder andere Redaktionsmitglieder die Verbindung zum letzten Mal wählten, ist zumindest beim Abschluss dieser Ausgabe nicht nachvollziehbar.
Bedeutender bleiben indes die Texte Arendts im «Aufbau». So erscheint eine auf von Linksradikalen zu Konservativen mutierte Zeitgenossen gemünzte Passage aus «Gestern waren sie noch Kommunisten…» vom 7. August 1953 aktueller den je: «Das Ziel der Ex-Kommunisten, nun aus der Demokratie oder Amerika oder der Republik eine Sache zu machen, der sie dienen können, widerspricht den Regeln und Gesetzen, nach denen wir leben und leben lassen. Amerika, … die demokratische Gesellschaft, in der wir leben, ist eine lebendige Angelegenheit, die von niemandem hergestellt werden kann und die nicht als eine Idee begriffen oder ergriffen werden kann. Sie ist nicht vollkommen und wird nie vollkommen sein, weil der Massstab der Vollkommenheit hier nicht am Platze ist. Dies Lebendige umfasst eine ausserordentliche Vielfalt von Meinungen und Haltungen. Konformismus ist ohnehin seine grösste Gefahr. Die Grenzen dieser Pluralität liegen in der Verfassung und der Erklärung der Menschenrechte (Bill of Rights) und nirgendwo sonst. Wer immer versucht, Amerika amerikanischer zu machen oder unamerikanische Handlungen zu definieren oder die Vereinigten Staaten zu einer Sache zu machen, der man dienen muss, kann all dies nur zerstören.»
Andreas Mink ist US-Korrespondent der JM Jüdische Medien AG, lebt in Connecticut und war 1997–2004 Redaktor und zuletzt geschäftsführender Chefredaktor beim «Aufbau» in Manhattan.