Juden und israel 30. Mai 2025

Keine Zuflucht mehr

Die Instrumentalisierung des Antisemitismus für eine konservative Agenda in den USA und die Zerstörung Gazas durch die IDF bringen unsere Autorin zum Bruch mit lang gehegten Überzeugungen.

Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel im Oktober 2023 und dem anschliessenden Gazakrieg begann für amerikanische Juden eine verwirrende und beunruhigende Zeit. Rasch protestierten Studierende an zahlreichen Universitäten gegen die Kriegsführung der IDF und forderten die Aufgabe von Investitionen ihrer Lehranstalten in Israel und die Einstellung der Militärhilfe für den jüdischen Staat. Politiker beider Parteien warfen den Unterstützern Palästinas und den Universitäten, die sie zunächst gewähren liessen, Antisemitismus vor. Die Kritik an den Protesten diente wohl auch zur Ablenkung von den brutalen Angriffen Israels auf palästinensische Zivilisten und sollte einen wichtigen Verbündeten der USA in Schutz nehmen.

Kongress-Anhörungen zu Antisemitismus an Harvard und anderen Universitäten
Wie wirksam diese Antisemitismusvorwürfe sein konnten, zeigte sich nur zwei Monate später. Am 8. Dezember 2023 wurden die Präsidentinnen von Harvard, Pennsylvania University und MIT vor einen Kongressausschuss mit dem Titel «Campus-Führungen bei der Bekämpfung von Antisemitismus zur Verantwortung ziehen» geladen. Die republikanische Abgeordnete Elise Stefanik, die schon vor Trumps Wiederwahl eine seiner treuesten Anhängerinnen geworden war, hatte die Anhörung vorgeschlagen und verwandelte die Sitzung vor laufenden Kameras in ein Tribunal. Stefanik ging heftig auf die akademischen Führungskräfte los und verhörte sie nach Manier einer Staatsanwältin, obwohl die drei nicht vorgeladen worden und freiwillig erschienen waren.

Am Ende der Sitzung war Stefanik unzufrieden mit den vorsichtigen Reaktionen der Präsidentinnen auf ihre Vermutung, es habe bei den Protesten antisemitische Drohungen gegeben. Schliesslich forderte sie eine «Ja»- oder «Nein»-Antwort auf eine im Wesentlichen theoretische Frage. Diese verlagerte den Begriff Antisemitismus aus der zeitgenössischen Welt der Campus-Aufmärsche in die historische Dimension, was alle Einwände entkräften sollte. Stefanik fragte jede einzeln: «Hat ein Aufruf zum Völkermord an den Juden gegen den Verhaltenskodex Ihrer Schule in Bezug auf Mobbing oder Belästigung verstossen, ja oder nein?» Damit brachte Stefanik bei der Debatte über die weitgehend friedlichen Demonstrationen den Holocaust ins Spiel.

Da es an keiner der vertretenen Universitäten zu einem derart drastischen Aufruf gekommen war, antworteten die Führungskräfte ebenso theoretisch und bestanden darauf, zunächst den Kontext zu untersuchen. Unzufrieden mit dieser Zweideutigkeit stellte Stefanik eine weitere, ebenso dubiose Frage: Könnte die von einigen Campus-Demonstranten verwendete Parole «Intifada», der arabische Begriff für einen Protest oder Aufstand, nicht als Forderung nach Völkermord an Juden verstanden werden?

Eigentlich hätte diese rhetorische Eskalation eine weitere Diskussion erfordert. Doch das hat Stefanik mit ihrer Forderung nach einem Ja-oder-Nein bewusst verhindert. Als die drei Präsidentinnen erneut zögerlich reagierten, bezeichnete die Abgeordnete die Antworten als «entmenschlichend» gegenüber jüdischen Studierenden und forderte anschliessend ihren Rücktritt. Und tatsächlich taten dies alle drei in den folgenden Wochen.

Im Namen der Antisemitismusbekämpfung
Mehr als ein Jahr später, im Rahmen ihrer Ernennung durch Präsident Trump zur US-Vertreterin bei den Vereinten Nationen (die inzwischen widerrufen wurde, um die knappe republikanische Mehrheit im Kongress zu wahren), hielt Stefanik auf der Jahrestagung der Anti-Defamation League eine feurige Rede im gleichen Stil. Ihr Podium trug das auf den Holocaust bezogene Motto des Treffens «Niemals ist jetzt», und Stefanik fühlte sich davon ermutigt, diesen Bezug freier zu nutzen. Um ihre Rolle als Vorkämpferin gegen Antisemitismus zu unterstreichen, verglich sie sich zunächst mit Simon Wiesenthal, dem Überlebenden, der sein Leben der Verfolgung von Nazi-Tätern widmete. In dieser überspitzten Version ihres Aufrufs zu den Waffen gab es kaum einen Unterschied zwischen Bedrohungen für Israel, das jüdische Volk im Allgemeinen und die USA.

Am beunruhigendsten war vielleicht ihre Enthüllung darüber, wie weit die Trump-Regierung unter dem Banner der Antisemitismusbekämpfung zu gehen bereit war. «Ausländischen Studierenden, die antisemitische Handlungen begehen» würden laut Stefanik «ihre Visa entzogen, und sie werden sofort abgeschoben». Tatsächlich verhafteten Agenten der Grenzpolizei ICE zwei Tage später Mahmoud Khalil in dessen Apartmenthaus in Manhattan. Khalil hält sich legal in den USA auf, hat eine Green Card und war 2024 als Sprecher pro-palästinensischer Demonstranten an der Columbia University bekannt geworden. Khalil befindet sich weiter in Abschiebehaft in Louisiana.

Erst Tage später lieferte US-Aussenminister Marco Rubio in einem Memo die Begründung für diese willkürliche Festnahme nach. Nun wurde klar, wie weitgehend die Trump-Regierung Antisemitismusvorwürfe als nützliches rhetorisches Instrument erkannt und ergriffen hatte. Rubio räumte ein, Khalils Aktivitäten seien «ansonsten rechtmässig» gewesen, aber er habe «die US-Politik zur Bekämpfung des Antisemitismus weltweit und in den USA sowie die Bemühungen zum Schutz jüdischer Studierender vor Belästigung und Gewalt in den USA untergraben». Khalil wurde bis heute nicht vor einem Gericht angeklagt. Die Art und Weise, mit der die Regierung diese Kampagne im Namen der Bekämpfung von Antisemitismus führt, bereitet mir enormes Unbehagen. Ich ärgere mich über die Freiheit, mit der die Regierung den Holocaust instrumentalisiert. Ich bezweifle ihre Behauptung, dass alle Juden zwangsläufig Opfer pro-palästinensischen Aktivismus sind. Gleichzeitig bin ich tief betrübt über die mangelnde Anerkennung der Tatsache in der Politik und der Öffentlichkeit hierzulande, dass Israel in Gaza mehr als 50 000 Zivilisten getötet und die Häuser und Lebensgrundlagen der Lebenden weitgehend zerstört hat. Und ich bin bestürzt darüber, dass Antisemitismus als Vorwand benutzt wird, um Demonstranten ohne Beweise oder ordnungsgemässes Verfahren zu verhaften oder die Universitäten zu bestrafen, auf denen sie ihr Recht auf freie Meinungsäusserung ausübten.

Der Schatten des Holocaust
Und doch kann ich eine gewisse Ambivalenz gegenüber dem Vorgehen Israels verstehen, ein Reflex, die Beweise für die Zerstörung Gazas nicht wahrzunehmen. Denn als eine noch während des Krieges in London geborene Tochter von Nazi-Flüchtlingen aus Mitteleuropa sind mir diese Reflexe in den Denkweisen der Kinder von Überlebenden bekannt. Zwei fiktionale Auseinandersetzungen mit dem Gazakrieg machen deutlich, wie sehr der Holocaust noch immer die Wahrnehmung meiner Generation belastet. In der «New York Review of Books» vom 27. Februar haben die preisgekrönten Cartoonisten Joe Sacco und Art Spiegelman gemeinsam eine illustrierte Erzählung unter dem Titel «Nie wieder!» verfasst (der Titel wird wie ein in weite Ferne fortlaufendes Echo gezeichnet).

Sacco stellt seit Jahren die palästinensische Sichtweise dar und Spiegelman wurde als Schöpfer der Holocaustmemoiren «Maus» bekannt. Hier nimmt er einmal mehr die Identität des Maus-Erzählers an und erklärt: «Ich möchte nicht, dass Maus jemals als Rekrutierungsplakat für die israelische Armee verwendet wird.» Das zugrunde liegende Trauma selbst eines weitgehend in die amerikanische Gesellschaft assimilierten Juden wird deutlich, wenn Spiegelman behauptet: «Ich bin ein wurzelloser, kosmopolitischer Diasporist wie viele meiner Freunde – überall und nirgends zu Hause.» «Für assimilierte Juden lief es im Zweiten Weltkrieg nicht so gut», antwortet Sacco. «Das steht fest», seufzt Spiegelman.

Entfremdete Familie
Die Kurzgeschichte «From, To» von David Bezmogzis ist am 14. April im «New Yorker» erschienen und spielt im Hier und Jetzt. Die jüdischen Rituale rund um den Tod – die Einzelheiten einer Trauerfeier, Bestattung und der Schiwa – bringen zwei entfremdete Familienmitglieder kurzzeitig zusammen. Es geht um Vadik, einen erfolgreichen Immobilienanwalt mittleren Alters, dessen Mutter gerade gestorben ist, und Mila, seine Tochter, eine Studienanfängerin, die an einem propalästinensischen Protestdorf auf dem Campus ihrer Hochschule teilnimmt. Die detaillierte Beschreibung der Trauerrituale vermittelt den Lesern ein lebendiges Gefühl für das gemeinsame religiöse Erbe der beiden. Vadik jedoch gehört zur jüngsten Diaspora von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion und hat das Gefühl, dass seine Tochter den Schmerz dieser Vergangenheit irgendwie verrät. Schliesslich kann er es sich nicht verkneifen, diese früheren Gräueltaten zur Sprache zu bringen – in einem vergeblichen Versuch, sie von ihrem eigenen Engagement für die Tragödie in Gaza abzubringen.

Ich selbst war nie Zionistin in dem Sinne, dass ich Israel als Teil meiner jüdischen Identität betrachtet hätte. Ich glaube auch nicht, dass Israel eine religiöse Bedeutung zukommen sollte. Dennoch habe ich Israel lange als Zufluchtsort betrachtet, sollte ich einmal als Jüdin fliehen und Schutz suchen müssen wie meine Eltern. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ob dieser Gedanke noch Gültigkeit hat. Nach den drastischen Racheakten der IDF in Gaza, die beim Abschluss dieses Beitrags eine neue Zerstörungskraft erreichen, wird die Feindseligkeit der Nachbarländer niemals ein friedliches Leben in Israel zulassen.

Die langjährige aufbau-Mitarbeiterin Monica Strauss lebt als Kunsthistorikerin und Autorin in Northampton, Massachusetts.

Monica Strauss