Ist Judentum Religion? Felix Posen sagt nein und präsentiert eine Anthologie mit einem völlig neuenAnsatz – und vielleicht eine kleine Revolution.
2003 hatte Felix Posen eine kühne Idee. Als Unternehmer im Rohstoffhandel erfolgreich, hatte der Nazi-Flüchtling 1980 die «Posen Foundation» gegründet. Posen kam 1928 in Berlin zur Welt und wuchs nach der Flucht der Familie 1938 in einem modern-orthodoxen Haushalt im Kreis der Breuer-Gemeinde in Washington Heights auf. Nun fesselte ihn die Idee, Judentum als Kultur zu begreifen und durch eine Bildungsförderung mit Schwerpunkt auf jüdischer Geschichte, Philosophie und Kreativität auch säkulare Mitglieder der Gemeinschaft an die Tradition heranzuführen.
Säkulares Judentum
Nach der Jahrtausendwende beschloss Posen, eine Konferenz prominenter jüdischer Wissenschaftler und Intellektueller einzuberufen, um dieses Engagement auf eine nächste Ebene zu heben. Posen hatte nach dem Krieg die strikte Religiosität seiner Jugend aufgegeben. Dann, mit über fünfzig, begann er eine Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, der sein Leben bedroht hatte. «Ich lernte, ich hörte zu, ich besuchte Vorlesungen», so Posen im Rückblick. Dann stiess er auf die «säkular-humanistische Bewegung» des Judentums in Israel, der auch der Historiker Yehuda Bauer angehört hat. Diese Jahre des Lesens und Lernens veranlassten ihn schliesslich nicht nur zur Finanzierung einer Konferenz. Posen widmete sich zudem einem ehrgeizigen Projekt, das die jüdische Einheit in der Vielfalt der gemeinsamen Vergangenheit verankern sollte: «Jede Generation muss sich darum bemühen, ihr Erbe zu verstehen», so Posen.
Aus dieser ersten Konferenz entstand die Vision einer Anthologie jüdischer Kultur und Zivilisation, welche die immense Vielfalt des Judentums im Laufe der Jahrhunderte darstellen und weit über die Parameter der Posen aus seiner Jugend vertrauten Orthodoxie hinausgehen sollte. Gross gewachsen, nachdenklich, mit einem freundlichen Lächeln und scharfem Verstand ausgerüstet, hiess Posen ein breites Spektrum von Intellektuellen bei seinem ehrgeizigen Projekt willkommen. Ihm war klar, dass die Fachleute keineswegs alle einer Meinung sein würden. Aber er schätzte ihre leidenschaftlichen Debatten. Ich konnte bei Beginn der praktischen Arbeit an Treffen des Projekts in London teilnehmen und habe Felix für seine offensichtliche Freude an den Argumenten und Diskussionen bewundert.
Anthologie
Kurz gesagt teilte er ein Verständnis des Judentums, das der Bibelwissenschaftler Israel Friedländer vor hundert Jahren formuliert hatte. 1907 hatte dieser als jüngst aus Osteuropa in New York eingetroffener Immigrant festgestellt, dass amerikanische Juden die Möglichkeit hätten, zur «ursprünglichen Funktion des Judentums als Kultur, als Ausdruck des jüdischen Geistes und des gesamten Lebens der Gemeinschaft» zurückzukehren.
Die Idee einer Anthologie basiert auf einer langen und reichen jüdischen Geschichte, die bis zur Bibel selbst zurückreicht, der einflussreichsten aller jüdischen Anthologien. Dazu kamen klassische Texte wie Mischna und Talmud sowie das Gebetbuch und natürlich die Haggadah. Die Erstellung von Anthologien kann als typisch jüdische Praxis gelten, da sie den jüdischen Dialog in die Vergangenheit und Gegenwart erweitert. In die Vergangenheit, da die Tätigkeit das Lesen und Beurteilen jüdischer Texte aus früheren Epochen erfordert, wobei Fachleute einige auswählen und andere verwerfen. In kommende Zeiten, weil Verantwortliche für Anthologien neue Erkenntnisse schaffen wollen, um die jüdische Zukunft zu prägen und zu einem fortlaufenden Dialog beizutragen.
Der Literaturwissenschaftler David Roskies nennt diese jüdische Neigung «die anthologische Vorstellungskraft». David Stern, Herausgeber von «The Anthology in Jewish Literature», vertritt die Ansicht, die Anthologie sei in der jüdischen Literatur – ihrer wohl ältesten literarischen Gattung – allgegenwärtig. Jüdische Literatur spiegelt wider, was Stern als «anthologische Gewohnheit» bezeichnet: die Tendenz, eigenständige und manchmal widersprüchliche Geschichten oder Traditionen einzusammeln. Die «Posen Library of Jewish Culture and Civilization» ist sowohl von «Fantasie» als auch von «Gewohnheit» geprägt. Ursprünglich als zehnbändiges Werk bei der Yale University Press konzipiert, ist sie nun kostenlos online unter posenlibrary.com verfügbar und spiegelt diese Imagination wider.
Beiträge von Frauen
Obwohl die Posen Library als Anthologie eine lange und ehrwürdige Tradition teilt, gehört das Projekt doch seiner eigenen Zeit an: ein Produkt des 21. Jahrhunderts und der Blütezeit säkularer, akademischer jüdischer Studien in Israel, den USA und weltweit. Ihre Herangehensweise an jüdische Kultur und Zivilisation spiegelt eine neue Wertschätzung jüdischer Vielfalt wider, die insbesondere Frauen einschliesst. Anders als die Mehrzahl früherer Anthologien ihrer Art erkennt die Posen Library an, dass sowohl Frauen als auch Männer die jüdische Kultur geprägt haben, auch wenn die Beiträge von Frauen bis in die letzte Zeit weitgehend unbeachtet geblieben sind.
Die Erstellung einer Anthologie ist ein anspruchsvolles Unterfangen. Dabei ist nicht allein eine Fülle historischer, philosophischer, religiöser, juristischer, literarischer, exegetischer, politischer, folkloristischer, populärer und künstlerischer Dokumente, Bilder und Artefakte zu sichten, aus denen Beiträge ausgewählt und extrahiert werden könnten. Darüberhinaus erfordert ein solches Projekt die Konzeptualisierung zentraler Themen, die jeweils für eine Periode charakteristisch sind. Dieser Prozess wirft Fragen zur Produktion jüdischer Kultur und Zivilisation auf. Ist jüdische Kultur global oder ein Aggregat vieler lokaler Kulturen, die jeweils in der Interaktion zwischen jüdischen und umgebenden nichtjüdischen Kulturen geformt und definiert wurden? Gibt es wesentliche jüdische Eigenschaften dieser Kultur oder ist jüdische Kultur selbst ein Spannungsfeld zwischen «Anpassung und Widerstand gegenüber umgebenden nichtjüdischen Kulturen», wie der HistorikerDavid Biale vorgeschlagen hat? Oder ist jüdische Kultur als Phänomen zu betrachten, das grösstenteils in Beziehung zu sich selbst entsteht?
Völker pflegen Kulturen
Die Posen Library baut auf der Blütezeit jüdischer Forschung an Universitäten seit dem 20. Jahrhundert auf, insbesondere in Israel und den USA. Das Projekt ist Erbe der Debatten über die Bedeutung jüdischer Kultur und jüdischer Zivilisation. In diesen Debatten wurde Kultur oft als weiblich und Zivilisation als männlich dargestellt. Zivilisation evoziert also Maschinen, Arbeit, Politik und Technologie. Kultur suggeriert Ausdrucksformen wie Kunst, persönliche Weiterentwicklung, formale Hochschulbildung und Religion. Nationen brachten Zivilisationen hervor, Völker pflegten Kulturen. Indem der Name der Posen Library sowohl auf Kultur als auch auf Zivilisation verweist, signalisiert er bereits Aspekte dieser binären Formulierung. «Jewish Culture and Civilization» spiegelt das Bewusstsein wider, dass Juden oft um die Anerkennung ihrer Zivilisation durch andere kämpfen mussten. Zudem setzt der Titel ein gewisses Wechselspiel zwischen Kultur und Zivilisation voraus.
Das Posen-Anthologie-Projekt strebt nach Inklusivität und Pluralismus. «Zivilisation» beschwört politische, wirtschaftliche und soziale Dimensionen jüdischen Lebens herauf. «Kultur», sowohl im anthropologischen als auch im literarischen Sinne verstanden, bezieht sich auf Produkte des Alltagslebens sowie auf religiöse und elitäre, künstlerische und philosophische Werke. Die Posen-Bibliothek vertritt eine weniger hierarchische, als vielmehr egalitärere Perspektive, die verschiedene Standpunkte einbezieht.
Bedürfnis nach Übersetzung
Heterogen und pluralistisch, präsentiert die Posen Library jüdische Kultur und Zivilisation zudem in englischer Sprache, der Lingua franca unserer Zeit. Das bedeutet, dass sie nicht nur eine Übung im Anthologisieren jüdischer Texte, sondern auch eine Übung im Übersetzen ist. Wie das Anthologisieren hat auch das Übersetzen eine lange und bedeutende jüdische Geschichte als Mittel, heilige und weltliche Texte an Generationen zu vermitteln, die mit ihren ursprünglichen Sprachen nicht vertraut sind. Die Literaturwissenschaftlerin Anita Norich hat dazu bemerkt: «Das Bedürfnis nach Übersetzung in der westlichen Kultur und unter Juden wird gemeinhin auf die bekannte Geschichte vom Turmbau zu Babel zurückgeführt, das heisst auf den menschlichen Wunsch zu verstehen und zu interpretieren – und die damit verbundene Hybris.»
Übersetzungen haben jüdische Traditionen lebendig gehalten, während Juden in den verschiedenen Weltteilen, in denen sie lebten, neue Sprachen erlernten. Im zwölften Jahrhundert schrieb der grosse Gelehrte Maimonides in einem Brief an seinen Übersetzer Samuel Ibn Tibbon: «Wer übersetzen möchte und vorgibt, jedes Wort wörtlich wiederzugeben und sich gleichzeitig sklavisch an die Wort- und Satzstellung des Originals zu halten, wird auf grosse Schwierigkeiten stossen. Dies ist nicht die richtige Methode.» Vielmehr «sollte der Übersetzer zunächst versuchen, den Sinn des Themas vollständig zu erfassen und das Thema dann mit vollkommener Klarheit in der anderen Sprache darzulegen …» Die Erstellung einer jüdischen Anthologie im Englischen erfordert daher eine Auseinandersetzung mit den Effekten der Übersetzung jüdischer Quellen aus Dutzenden von Sprachen – von Amharisch bis Jiddisch – in die heutige Universalsprache.
Kultur für alle
Welche strategischen Ziele verfolgen dieses Bemühen, in einer zehnbändigen Anthologie und auf einer Webseite all das zu sammeln, was unsere Generation als jüdische Kultur und Zivilisation erachtet? Erstens versucht die Posen Library, das Bewusstsein für die Vielfalt und den Reichtum jüdischer Kultur und Zivilisation in vielen Ländern über viele Jahrhunderte hinweg wiederherzustellen. Zweitens zielt sie darauf ab, jüdisches Wissen zu demokratisieren und den Lesern die Begegnung mit vielfältigen Texten jüdischer Denker, Schriftsteller und Künstler in Dutzenden von Sprachen weltweit zu ermöglichen. Drittens zeigt die Posen-Bibliothek implizit, dass nationale und Diaspora-Kulturen aus mehreren, oft konkurrierenden Subkulturen bestehen.
Identität und Tradition
So wie Juden sich in Kulturen weltweit ausdrücken, an ihnen teilhaben und mit ihnen interagieren und so wie diese Sphären von jüdischer Kultur und Erfahrung geprägt sind, so prägen auch viele dieser anderen Kulturen die jüdische Kultur und Zivilisation. Jüdische Literatur und Poesie, religiöses Denken und talmudische Kommentare sowie Abhandlungen darüber, was jüdische Kultur ausmacht, wurden in vielen Weltsprachen verfasst – Englisch, Arabisch, Französisch, Deutsch, Russisch, Spanisch, Italienisch und Persisch – sowie Hebräisch, Jiddisch, Ladino, Aramäisch und Judäo-Arabisch. Jüdische Kultur und Zivilisation leben in diesen kulturellen und sprachlichen Kontexten und werden von ihnen geprägt.
Letztlich bietet die Posen-Bibliothek ansonsten desillusionierten und an ihrer Tradition nicht interessierten Juden, wie Felix Posen einst selbst einer war, die Möglichkeit, ihre kulturelle Identität als Juden wiederherzustellen. Das Projekt zeigt, dass Juden ihre Kultur nicht nur durch die Annahme der Religion, sondern auch durch die Auseinandersetzung mit jüdischer Identität und Tradition hervorbrachten.
Die Verfasserin ist Frederick G.L. Huetwell Professor of History and Judaic Studies an der University of Michigan in Ann Arbor und Chefredaktorin der Posen Library of Jewish Culture and Civilization. Deborah Dash Moore hat in einer fruchtbaren Karriere als Historikerin und Herausgeberin in Werken wie «Jewish New York. The Remarkable Story of a City and a People» (2017) und «Walkers in the City. Jewish Street Photographers of Midcentury New York» (2023) nicht zuletzt New York City thematisiert.