Juden und israel 30. Mai 2025

Israel, die Diaspora und der Gazakrieg

José Brunner zündet im Kindergarten an der Lavaterstrasse Chanukkakerzen an.

Wie tief ist die jüdische Diaspora mit Israel verstrickt – psychologisch, politisch, moralisch? Der israelische Historiker José Brunner zeichnet in seinem essayistischen Rückblick die Entwicklung dieser Beziehung seit 1967 nach und ruft angesichts des Gazakriegs zu einer neuen, wertebasierten Haltung auf.

Ich wuchs im jüdisch-orthodoxen Milieu Zürichs der frühen Sechziger des letzten Jahrhunderts auf. Schabbat-Morgen und die Feiertage verbrachte ich im Erdgeschoss der Agudas-Achim-Gemeinde an der Erikastrasse, in einer Bet- und Lernstube alten Stils, deren Mitglieder vor allem zu Familien gehörten, die ursprünglich aus Osteuropa, primär Polen, stammten. An einem der Feiertage kam Yosef Burg, damals nationalreligiöser Minister in der israelischen Regierung, auf Besuch und wollte dort am Gebet teilnehmen. Junge Hitzköpfe, die von der Jeschiwa nach Hause gekommen waren, verwehrten ihm den Eintritt. Ihre Aufregung hatte irgendetwas mit der Position der Nationalreligiösen in der damaligen israelischen Regierungskoalition zu tun. Was genau den Anstoss dazu gab, weiss ich nicht mehr; vielleicht verstand ich es auch damals nicht wirklich. Letzten Endes ging Burg in die erste Etage hinauf, wo ihm in der moderneren, zwar etwas förmlicheren, aber auch toleranteren Synagoge Einlass gewährt wurde.

Nicht-zionistische Tradition
Dies ein kleines Beispiel, das die kritische Einstellung der nicht-zionistischen, traditionellen Orthodoxie in der Diaspora gegenüber Israel illustriert, die bis heute anhält. Was in Israel passiert, wird aufmerksam verfolgt. Israel ist ein Bezugspunkt, aber einer, dem man mit Vorsicht, oft auch mit Misstrauen begegnet. Man prüft, ob und inwieweit das Verhalten der israelischen Regierung und der an ihr teilnehmenden Parteien den Normen und Werten der traditionellen Orthodoxie entspricht. Hier kann man nicht von Verstrickung reden.

Ein paar Jahre später, noch bevor ich im Sommer 1967 Bar Mizwa wurde, begann ich meine Schabbat-Nachmittage im Bne-Akiva zu verbringen, einem zionistischen, nationalreligiösen Jugendbund, der mich in vieler Hinsicht prägte, was auch dazu führte, dass ich mit 19 für ein Jahr in eine Jeschiwa in Jerusalem ging. Aus Sicht der Nationalreligiösen war Israel das Zentrum des jüdischen Lebens der Welt. Was dort geschah und entschieden wurde, sollte auch für die Diaspora wegweisend sein. Die nationalreligiöse Diaspora orientierte sich an Israel, aber die psychologische Wirkung des israelischen Siegs im sogenannten Sechstagekrieg von Juni 1967 ging weit über die Grenzen der religiösen Diaspora hinaus. Ganz allgemein erfüllte dieser militärische Triumph die jüdische Diaspora mit Stolz. Für mich, aber nicht nur für mich, hiess dies praktisch, dass ich nun statt am Schabbat einen Hut und während der Woche eine Kappe aufzusetzen, eine Kippa trug. Der neue Stil war der nationalreligiösen israelischen Orthodoxie abgeschaut, aus der ein paar Jahre später die religiöse Siedlerbewegung entstehen sollte.

Arabische Nachbarn
Im Sommer 1969 kam meine erste Israelreise mit dem Jugendbund. Die Mädchen verliebten sich in den jungen israelischen Begleiter, der im Krieg gedient hatte. Uns Jungen faszinierten die Uniformen und die Insignien der israelischen Armeeeinheiten. Ich kaufte alle, die ich in den entsprechenden Läden finden konnte. Andere kauften sich Uniformhemden und -hosen. So fühlten wir uns ein bisschen, als ob wir den Sieg über die arabischen Armeen errungen hätten. Israel erschien sich selbst überaus stark und unangreifbar. Das färbte auch auf uns ab. Zufrieden lächelnd quittierten wir Bemerkungen von Schweizer Politikern, die die Wehrhaftigkeit der Schweiz im Zweiten Weltkrieg mit der Israels gegenüber seinen arabischen Nachbarn verglichen. Wir lebten nicht mehr nur im Schatten des Holocaust, der zwar weiterhin viel in unserem Selbstverständnis und unseren Sensibilitäten beeinflusste. Wir sonnten uns auch im israelischen Heldentum.

Die Forschungsliteratur belegt, dass was ich hier erzähle mehr als eine persönliche Vignette ist. Der 1967er Krieg stellt eine Zäsur im Selbstverständnis der westlichen jüdischen Diaspora dar und markiert auch jenseits des religiösen Judentums den Anfang ihrer signifikanten Verstrickung mit dem Schicksal des jüdischen Staates. Insbesondere in den USA führte der Krieg zu einem deutlich pro-israelischen Engagement der jüdischen Gemeinden, das zu einer wichtigen Komponente der jüdischen Identität in der Diaspora wurde.

Unter Militärverwaltung
Die Existenz und das Schicksal der Palästinenser, die 1948 mit der Staatsgründung israelische Bürger geworden waren und seither einen Fünftel der israelischen Bevölkerung ausmachen, hatten in dieser Verstrickung keinen Platz. Dass die arabischen Bürger Israels 1948 weitgehend enteignet worden waren und bis 1966 einer Militärverwaltung unterstanden, die ihre Freiheiten zwei Jahrzehnte lang drastisch einschränkte, war uns nicht bekannt. Dar-über wurde im Jugendbund nicht geredet. Die Probleme, die aus der israelischen Militärbesatzung des Westjordanlands und des Gazastreifens entstanden, in denen Millionen von Palästinensern lebten, die rechtlos blieben, konnten wir damals noch nicht abschätzen. Wir verstanden auch nicht, dass dadurch, dass die Auffassung, ganz Eretz Israel sei die historische Heimat der Juden – und nur der Juden –, nun eine politische Bedeutung erhielt, durch die Palästinenser zu Fremden in ihrem eigenen Land gemacht wurden. Im Rückblick ist erstaunlich, wie reibungslos diese Umkehrung funktionierte, indem die Juden, die aus der Diaspora nach Israel kamen, zumindest in ihren eigenen Augen zu Einheimischen wurden, sobald sie ihren Wohnsitz nach Israel verlegten, während die eigentlich Einheimischen, die Palästinenser, zu Störenfrieden degradiert wurden.

Dies ist nicht die einzige Umkehrung, die man untersuchen muss, um die Verstrickung Israels und der Diaspora zu verstehen. Das Bild Israels als ein für die Juden sicherer Zufluchtsort und der westlichen Diaspora als einer Welt, die für Juden unsicher ist, beruht seit 1948, seit es den jüdischen Staat gibt, auf einer weiteren Umkehrung. In ihrer persönlichen Heimat mögen die Juden der Diaspora vielfachen und vielschichtigen Formen des Antisemitismus ausgesetzt sein, im Extremfall müssen sie sogar körperliche Angriffe in Kauf nehmen, was nicht einfach ist. Lebensgefahr hingegen lauert ihnen, im Vergleich zu Israel, nur ganz selten. Doch gilt Israel als für die Juden sicher und die Diaspora als unsicher. Wobei eindeutig ist: Wer aus dem Westen nach Israel auswandert, begibt sich in Lebensgefahr. Seit 1948 starben in keinem Land auch nur annähernd so viele Juden an Gewalt wie im jüdischen Staat. Aus zionistischer und israelischer Sicht ist es jedoch notwendig, die jüdische Diaspora als einen bedrohlichen Ort und Israel, weil es eine Armee hat, die fähig sein soll, alle Gefahren zu meistern, als schützenden Hafen für Juden aus aller Welt zu imaginieren.

Ultimative Beschützer
So führt Israel nicht nur in seinem eigenen Namen Krieg gegen seine Nachbarn. Es versteht die arabische Feindschaft und insbesondere den Konflikt mit den Palästinensern auch als Folge von Antisemitismus. Dies befreit Israel davon, sich mit seiner eigenen Gewalt auseinandersetzen zu müssen, macht es aber blind gegenüber ihren Folgen und dem dadurch verursachten Leiden der anderen. Stattdessen kann es sich ausschliesslich als ultimatives Opfer und ultimativer Beschützer aller Juden gegen antisemitische Bedrohungen verstehen. Auch diese Verstrickung mit der Diaspora nimmt vielfältige praktische Formen an. Ein kleines Beispiel: Oft sind es israelische Sicherheitsbeamte, die jüdische Institutionen wie Kindergärten, Schulen, Synagogen und Gemeindezentren in Deutschland, Frankreich, England und der Schweiz bewachen.

Diese doppelte Rhetorik von Opfer und Schützer charakterisierte den Austausch Israels mit der Diaspora bis zum 7. Oktober 2023. Die Attacke der Hamas weckte in Israel Erinnerungen an den Holocaust. Da die Regierung in ihrer Aufgabe versagt hatte, ihre Bürger vor der tödlichen Gewalt einer radikalen islamistischen Terrororganisation zu schützen, instrumentalisierte sie diese Erinnerungen und die damit verbundenen Ängste. Sie begann die Hamas als kontemporäre Nazis und Israel als Opfer eines antisemitischen Überfalls zu stilisieren. Im Krieg mit Nazis ist alles erlaubt. Wie Ministerpräsident Netanyahu es ausführte: Wenn die Engländer im Krieg mit Nazi-Deutschland aus Versehen deutsche Kinder töteten, sprach niemand von Kriegsverbrechen. Mit Vorwänden wie diesem weigert sich Israel seit dem 7. Oktober, Verantwortung für die unmenschliche Gewalt zu übernehmen, mit der es den Gazastreifen dem Erdboden gleichmacht, Krankenhäuser und medizinische Betreuung lahmlegt, eine Hungersnot initiiert und zehntausende von Frauen und Kindern tötet. Jegliche Kritik an dieser Grausamkeit wird als antisemitisch zurückgewiesen – wobei immer wieder beteuert wird, Kritik an Israel sei legitim, nur gerade nicht die, die geübt werde, oder nicht so, wie sie zum Ausdruck komme.

Wie reagieren die grösstenteils säkularen Sprecher der jüdischen Diaspora? Zwar weigern sich viele von ihnen, die extremsten Mitglieder des israelischen Kabinetts, z.B. den nationalen Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir, auf ihren raren Auslandreisen zu empfangen, doch erklären sie sich solidarisch mit Israel, versuchen kritische jüdische Stimmen zum Schweigen zu bringen, prangern pro-palästinensische Proteste als ignorant und antisemitisch an und schweigen zur brutalen Kriegsführung des jüdischen Staats oder nehmen sie gegen Anschuldigungen in Schutz.

Bedingungslose Solidarität
Die bedingungslose Solidarität der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden mit Israel macht sie zu indirekten Handlangern israelischer Gewalt und verstrickt sie nolens volens in israelische Kriegsverbrechen, in dem Sinn, in dem Michael Rothberg den Begriff der Verstrickung in seinem 2019 erschienen Buch «The Implicated Subject» (deutsch: Das verstrickte Subjekt) gebraucht. Bei Rothberg bedeutet Verstrickung, dass man, ohne als Opfer, Täter oder Mitläufer direkt in Gewalttaten involviert zu sein, indirekt dazu beiträgt, Strukturen der Gewalt und der Ungleichheit zu bewahren. Dies tun die jüdischen Gemeindevorsitzenden und führenden Figuren in den jüdischen Organisationen der Diaspora durch ihren vorbehaltlosen Einsatz für Israel. Dieser dient schon seit Jahren dazu, das israelische Apartheidregime im Westjordanland weisszuwaschen und zielt nun darauf ab, die Aufmerksamkeit von den Untaten Israels in Gaza auf den vermeintlichen oder tatsächlichen Antisemitismus seiner Kritiker zu lenken.

Die gegenwärtige politische Verstrickung der offiziellen Diaspora mit der israelischen Kriegführung in Gaza ist ein Resultat der langjährigen psychologischen Verstrickung, die, wie oben erläutert, ihren Ursprung in einem früheren Krieg hat. Gerade als psychologische Nutzniesser der militärischen Stärke des jüdischen Staates ist es die moralische Pflicht der jüdischen Diaspora, ihre Beziehung zu Israel angesichts des Gazakriegs neu zu definieren. Genauso wie 1967 ein Wendepunkt in den Israel-Diaspora-Beziehungen darstellte, so sollte der jetzige Krieg einen weiteren Wendepunkt markieren. Vorbild dazu ist die Art, in der, wie anfangs erwähnt, die traditionelle Orthodoxie ihr Verhältnis zu Israel seit eh und je auf ihre eigenen jüdischen Normen und Werten stützt, statt diese von Israel zu übernehmen.

Angesichts der israelischen Untaten in Gaza ist es an der Zeit, dass, statt sich weiterhin rückhaltlos in die die israelische Politik zu verstricken, sich das säkulare und moderne religiöse Diasporajudentum seiner traditionellen jüdischen Werte besinnt und diese sowohl in seinen Dialog mit Israel als auch mit dem jeweiligen lokalen nicht jüdischen Umfeld einbringt. Um nicht «verstrickte Subjekte« im Sinne Rothbergs zu sein, sollten die Sprecher der jüdischen Diaspora und ihrer Organisationen klarstellen, dass Israel nicht mehr vorgeben kann, seine Kriegsverbrechen im Namen aller Juden zu begehen. Statt brutaler Gewalt, die in Israel auch von nationalreligiösen Rabbinern legitimiert wird, sollten diese die Notwendigkeit von Gerechtigkeit und das Verständnis, das alle Menschen im Antlitz Gottes geschaffen werden, das heisst dass allen Menschen Würde gebührt, unterstreichen. Darüber hinaus könnten sie zum Schutz von Armen, Schwachen und Fremden und zu Tikkun Olam aufrufen, das heisst zu Taten, die, statt die Welt zu zerstören, dazu dienen, diese zu reparieren und zu verbessern. Diese Grundsätze sind sowohl in den Büchern der Propheten als auch in den Schriften herausragender moderner jüdischer Denker wie Walter Benjamin, Martin Buber, Abraham Joshua Heschel, Hannah Arendt und Gerschom Scholem zu finden.

José Brunner ist ein ursprünglich aus Zürich stammender israelischer Wissenschaftshistoriker und Politologe, der seit 2018 als Professor von der Universität Tel Aviv emeritiert ist. Vor kurzem erschien bei Ullstein sein neuestes Buch «Brutale Nachbarn. Wie Emotionen den Nahostkonflikt antreiben – und entschärfen können», in dem er sich intensiv mit den psychologischen Aspekten des Nahostkonflikts auseinandersetzt.

José Brunner