Juden und israel 30. Mai 2025

Ich bin nicht euer Werkzeug

Donald Trump und Rabbi Yehuda Kaploun zünden am 7. Oktober 2024 während einer Gedenkveranstaltung im Trump National Doral Golf Club in Doral, Florida, eine Kerze an.

Die Predigt der prominenten Rabbinerin Sharon Brous aus Los Angeles zu Purim 5785 Anfang März 2025 hat in den USA breite Aufmerksamkeit gefunden und kann bereits als historisches Dokument gelten – eine jüdische Stimme gegen den Missbrauch von Antisemitismus durch die neue Regierung kurz nach dem Amtsantritt von Donald Trump.

In wenigen Tagen werden sich Juden weltweit zu Purim versammeln und aus der Megillat Esther lesen, einer Erzählung, die als Parodie getarnt ist. Es ist die Geschichte des nachsichtigen, narzisstischen Königs Ahasveros, eines Mannes mit grenzenloser Macht und Reichtum. Er ist unbesonnen und rücksichtslos und von Beratern mit egoistischen und finsteren Motiven abhängig. So hat ein Berater – Haman – unverdiente Macht und Privilegien am Königshof. Dieser Mann hat einem Gelehrten zufolge «ein unbändiges Bedürfnis, diejenigen zu bestrafen, die ihn seiner Meinung nach durch mangelhafte Unterwürfigkeit geschmäht haben.» Eines Tages lässt der Jude Mordechai es Haman gegenüber an Ehrerbietung mangeln. Haman sieht sich von einem Juden beleidigt und beschliesst Rache an dessen ganzem Volk, denn so funktioniert Rassismus (Esther 3,6). Die Folgen sind verheerend.

Die Lehren der Megillat Esther
Der Text ist witzig, sarkastisch und spannend. Er ist literarisch reichhaltig und unterhaltsam, ganz klar. Aber man achte auf Rambam in Hilchot Megillat v’Chanukka 2,18: «Das Lesen der Megillat hat Vorrang vor buchstäblich jeder anderen Mitzwa (…)» Und die Themen und Fragen der Megillat Esther sind in der Tat unvergänglich. Erstens: Wenn wir von der Verletzlichkeit der Juden von Schuschan lesen, müssen wir fragen, was das Schicksal der Juden in der Diaspora ist und welche Gefahren die jüdische Machtlosigkeit birgt. Zweitens: Wenn wir die Rachefantasie in Kapitel 9 lesen, in der die Juden 75 811 Menschen töten, stehen wir vor einer weiteren kritischen, zeitlosen Frage, und zwar der, welche Gefahren jüdische Macht birgt.

Die Megillat Esther enthält noch weitere zeitlose Weisheiten. Sie lehrt, dass das Leben launisch und instabil ist. Katastrophen sind immer möglich. Alles kann sich im Handumdrehen ins Gegenteil verkehren. Aber auch Erlösung ist immer möglich. Man weiss nie, wie die eigene Geschichte enden könnte. Eine der tiefgründigen Wahrheiten in diesem Text liegt für mich in einem Wendepunkt, als Haman dem König eine obszöne Summe Geld für das Recht bietet, alle Juden des Königreichs zu vernichten: «Es gibt ein Volk, das lebt zerstreut und abgesondert unter allen Völkern in allen Provinzen deines Königreichs, und ihre Gesetze sind anders als die aller Völker, und sie befolgen die Gesetze des Königs nicht, sodass es dem König nicht geziemt, sie gewähren zu lassen!» (Esther 3,8).

Sie erinnern sich vielleicht: Für das Recht, diesen mörderischen Amoklauf durch das Königreich zu führen, bietet Haman 10 000 Talente Silber an, was heute etwa 226 Millionen Dollar entspricht. Die Rabbiner vermuten, dass diese Zahlung mehr als nur ein Anreiz für den König war, seinem unanständigen Angebot zuzustimmen. Haman erkannte, dass tote Juden keine Steuern zahlen können – dieser Völkermord würde der Staatskasse also teuer zu stehen kommen. Seine Zahlung dient der Entschädigung des Königs für diesen Verlust. Umso erstaunlicher ist die Antwort des Königs: «Das Silber sei dir geschenkt, und das Volk dazu, dass du mit ihm tust, was dir gefällt!» (Megillat Esther 3,10-11).

Das ist schockierend: Warum sollte der König – der in unserer Geschichte bisher keinen Groll gegen die Juden gezeigt hat – so erpicht auf ihre Vernichtung sein, dass er auf eine derart grosszügige Zahlung verzichtet? Wir fragen uns: Ist dieser König dumm oder böse? Die Rabbiner erklären dies (Megillat 14a) anhand der Geschichte zweier Nachbarn. Der eine hat einen riesigen Erdhaufen, der in seinem Garten Platz wegnimmt. Er würde ihn gerne loswerden. Der andere hat einen riesigen Graben in seinem Garten, den er gerne zuschütten würde. Eines Tages wendet sich der mit dem Graben an seinen Nachbarn und fragt: «Würdest du mir etwas von deiner Erde verkaufen, damit ich mein Loch zuschütten kann?» Und der Besitzer, der den überschüssigen Dreck auf seinem Grundstück unbedingt loswerden will, antwortet: «Halavai! Meinst du das ernst? Ich gebe es dir umsonst!»

Drecksarbeit von Haman
Auch Ahasveros muss die Fantasie vom Verschwinden der Juden gehegt haben. Der Midrasch (Esther Rabba 7,20) deutet darauf hin, dass der König die Juden noch mehr hasste, als es der böse Haman tat. Und so kam in dem Moment, als ihm Haman die Drecksarbeit abnehmen wollte, die unterschwellige Fantasie des Königs ans Tageslicht. Deshalb nahm er kein Geld von Haman an. Die beiden taten sich gegenseitig einen Gefallen.

Mir ist schon vor Jahren aufgegangen: Der Hass eines Mannes auf Mordechai und die Juden allein reichte nicht aus, um die Voraussetzungen für deren Vernichtung zu schaffen. Erst als Hamans Hass auf den subtileren Hass im Herzen des Königs traf, geriet das Leben der Juden wirklich in Gefahr. Hier enthüllt die Megilla – getarnt als Parodie, als Geschichte von Festen und Fantasie – eine wichtige, vielleicht kontra-intuitive Wahrheit über die Manifestation von Antisemitismus in der Welt.

Die Normalisierung des Antisemitismus
Es ist sinnlos, Formen von Antisemitismus gegeneinander abzuwägen und zu versuchen, die schlimmste Bedrohung zu definieren. Die wahre Gefahr liegt im Aufblühen des Antisemitismus. Dieser Text veränderte mein Denken und machte mir die Absurdität, Sinnlosigkeit und Gefahr eines Diskurses bewusst, der die Verbreitung von Antisemitismus von links leugnet und ihn von rechts anprangert – eine Standardposition so vieler in unseren Bewegungen für Gerechtigkeit. Das Versäumnis in diesem Lager, die eigenen Leute zur Verantwortung zu ziehen, ist nicht nur persönlich schmerzhaft, sondern untergräbt auch alle Ansprüche auf eine gerechte und befreiende Zukunft.

Und ja – dieser Text weist auf die Gefahr einer ganzen Industrie von Antisemitismus-Organisationen und -Experten hin, die Antisemiten von rechts lautstark verteidigen und gleichzeitig jeden, der sich für die Rechte der Palästinenser einsetzt, als gefährlichen Judenhasser verunglimpfen. Für mich ist klar: Die Bedrohung geht nicht vom Antisemitismus von links oder rechts aus. Dass Antisemitismus allgegenwärtig ist und von mehreren Seiten gleichzeitig normalisiert wird – das ist die eigentliche Gefahr für uns alle.

Und es geht weiter. Schon wieder ein Jahr, schon wieder eine Reihe von Anhörungen im Kongress, die angeblich versuchen, Universitäten für einen zunehmend gewalttätigen und extremen Antisemitismus zur Rechenschaft zu ziehen. Begrüsse ich diese Bemühungen nicht? Seit 17 Monaten stecken die Universitäten in einem selbstverschuldeten moralischen Sumpf, da sie es nicht schaffen, klare Richtlinien und Protokolle bereitzustellen, die das Recht auf Protest und freie Meinungsäusserung wahren und gleichzeitig die Sicherheit aller Studierenden gewährleisten würden. 17 Monate lang wurden mein Kind, ihre jüdischen Freunde und im weiteren Sinne auch ich von wohlmeinenden Menschen manipuliert, deren Weltanschauung darauf zu beruhen scheint, die Realität des Antisemitismus an der Universität zu bagatellisieren oder zu leugnen, weil sie mit ihrer starren Weltanschauung und Leidenshierarchie kollidiert.

Keine Rettung von rechts
Als ob nicht mehrere Dinge gleichzeitig wahr sein könnten. Ich habe von Freunden, Kollegen und Eltern gehört, die ermutigt sind, dass endlich, endlich jemand sagt, dass es nicht richtig ist, dass jüdische Studierende bedroht und ausgegrenzt und aus Clubs an ihren Universitäten geworfen werden. Endlich! Jemand, der sich gegen Störungen des Unterrichts und gegen Flugblätter mit Schaftstiefeln wehrt, die auf jüdische Sterne treten, und gegen Bilder von Maschinengewehren mit der Aufschrift «Der Feind wird beseitigt» in Wohnheimen. Endlich jemand, der Studierende in die Schranken weist, die junge Jüdinnen und Juden auf dem Weg vom Schabbat-Abendessen mit «Geht zurück nach Polen!» schmähen.

Aber nein, ich bin nicht ermutigt. Es sind keine Retter für uns erschienen. Konservative Politiker wie US-Senator Ted Cruz sind nicht unsere Königin Esther. Die Bemühungen Washingtons haben die Juden nicht sicherer gemacht – darunter die Verweigerung von 400 Millionen Dollar an meine Alma Mater (Anm. der Red.: die Columbia University in New York) – das Epizentrum einiger der dümmsten und schockierendsten Fälle von offenem Antisemitismus. Dazu kamen Drohungen und dann auch Versuche, an Protesten beteiligte Studierende abzuschieben. All diese Massnahmen entspringen keineswegs einem aufrichtigen Wunsch, unsere Kinder – oder irgendjemanden – sicherer zu machen. Diese Bemühungen werden vielmehr von politischen Aktivisten vorangetrieben, die angeblich dafür sorgen wollen, dass mit Bundesmitteln unterstützte Institutionen auch die föderalen Antidiskriminierungsgesetze einhalten.

Das ist eine Lüge. Ihr Interesse besteht eindeutig nicht darin, irgendjemanden vor Diskriminierung zu schützen – es sind dieselben Übeltäter in der Politik, die staatlichen Behörden für die Einhaltung von Bürgerrechten und Gleichstellung in Alltag und Berufen die Mittel entziehen oder diese auflösen. Ebenso wenig liegt ihr Interesse darin, Antisemitismus zu bekämpfen. Woher ich das weiss? Weil dieselben Personen den reichsten und mächtigsten Mann der Welt umschmeicheln, seine Unterstützung der Neonazi-Partei in Deutschland und seinen wiederholten Hitlergruss verteidigen (jedes Kind kennt den Unterschied zwischen einem «Heil Hitler» und einer «ungeschickten Geste». Leider scheinen einige der Koryphäen und selbsternannten Anführer der jüdischen Gemeinde dies vergessen zu haben). Dieselben «Kämpfer gegen Antisemitismus» bieten weiterhin antisemitischen, rechtsextremen Influencern eine Plattform und unterstützen sie. Sie halten das von den Nazis propagierte Bild des jüdischen Milliardärs und Marionettenspielers aufrecht, der die öffentlichen Hände kontrolliert – und stützen sich dabei auf genau dieselben Bilder und Verschwörungstheorien wie einige der protestierenden Studenten, denen sie nun mit Abschiebung drohen.

Instrumentalisierte Juden
Diese Anhörungen, die Streichung von Geldern, die Drohungen mit militarisierten Campussen und umgeschriebenen Lehrplänen – das sind extreme Handlungen, die jüdischen Gemeinden womöglich Trost spenden: Endlich hört jemand zu. Aber bitte hören auch Sie mir zu: Diese Handlungen selbst stellen eine Form von Antisemitismus dar. Was sich heute wie eine willkommene Umarmung anfühlen mag, bringt uns in Wirklichkeit in noch grössere Gefahr. Wir, die Juden, werden instrumentalisiert, um eine politische Agenda voranzutreiben, die das soziale Gefüge und ebenjene Institutionen, die am besten zum Schutz von Juden und aller Minderheiten geeignet sind, schwer beschädigen wird. Wir werden instrumentalisiert. Unser Schmerz, unser Trauma werden instrumentalisiert, um den Traum einer multiethnischen Demokratie zu zerstören und gleichzeitig das Ziel einer weissen christlichen Nation voranzutreiben.

Ein altes Spielbuch
Und diese Taktik – Juden als Sündenböcke, um unsere Gesellschaft zu spalten und demokratische Institutionen zu schwächen – ist nicht neu. Links- und rechtsextreme Gewaltherrscher haben sie im Laufe der Geschichte gleichermassen angewandt. Und wer auf immer Spaltung säen, repressive Politik rechtfertigen und eine Bevölkerung von einer wahrhaft schändlichen und gierigen Agenda ablenken will – der greift auf die Instrumentalisierung von Juden zurück.

Hannah Arendt hat genau davor in «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» gewarnt: «Antisemitismus war die ideologische Waffe zur Zerstörung der alten Ordnung; er diente dazu, die neuen Bewegungen von jeglicher Verantwortung für [die von ihnen hervorgerufenen Umwälzungen] freizusprechen.» Totalitäre Führer nutzten Antisemitismus, um von der Schuld ihrer eigenen destruktiven Politik abzulenken, und machten letztlich die Juden für das von ihrer eigenen repressiven Politik verursachte Leid verantwortlich.

Letztendlich, so Arendts Schlussfolgerung, wurden die Juden für die Zerstörung aller nationalen Strukturen verantwortlich gemacht. In einer Zeit, in der die alte Weltordnung vor unseren Augen neu gestaltet wird, tun wir gut daran, diese Warnung ernst zu nehmen: Juden werden paradoxerweise sowohl für die Proteste als auch für die repressiven Reaktionen darauf verantwortlich gemacht, für Globalismus und Nationalismus und schon lange für Kapitalismus und Kommunismus. Juden bleiben der perfekte, bequeme Keil für diejenigen, die unsere Demokratie auflösen und zerstören wollen.

Hier nur ein kleiner Beweis: Kürzlich veröffentlichte der rechtsgerichtete, für das «Project 2025» verantwortliche Think Tank eine «Nationale Strategie zur Bekämpfung des Antisemitismus» (Anm. der Red.: das «Project 2025» dient als Vorlage der Trump-Regierung für die Demontage von Behörden und der Gewaltenteilung in den USA). Dieses Konzept wurde nicht von Juden, sondern von christlichen Zionisten verfasst. Meine Freunde Rabbi Amichai Lau Lavie und Julie Dorf beschreiben es als grotesken Missbrauch, der den Kampf gegen echten Antisemitismus unter Menschen guten Willens instrumentalisiert, um alle Andersdenkenden und die liberale Zivilgesellschaft in den Vereinigten Staaten zu Fall zu bringen. Es ist ein Affront gegen Juden und gefährlich für Amerika. Der Plan trägt den unverständlichen Namen «Projekt Esther». Dies ist nicht nur eine beleidigende Aneignung unserer heiligen Tradition. Es ist eine bösartige Täuschung. Wir dürfen uns nicht täuschen lassen.

Die Geschichte ist noch nicht zu Ende
Jedoch ist nicht alles verloren: Die Megillat scheint ein glückliches Ende zu haben. Nach der beinahe vollständigen Vernichtung sind die Juden gerettet. Sie erleben den Wandel von Verwüstung zu Hochgefühl, von Trauer zu Fest. Sie veranstalten ein Festmahl, schicken einander süsse Geschenke und kümmern sich um die Armen. Sie haben überlebt (Esther 9,22)! Aber diese Geschichte sollte uns eine Warnung sein. Der Kern der Erzählung ist, dass das Leben launisch und unsicher ist, dass die ganze Welt immer wieder auf den Kopf gestellt wird. Man muss sich vorstellen, wie die Juden in Kapitel 9 ihre Rachepläne schmieden. Die Geschichte endet hier nicht.

Politische Umwälzungen, so scheint uns die Megillat zu warnen, sind ein Zustand der Diaspora. Die relative Ruhe der letzten Jahrzehnte für Juden in Amerika war die Ausnahme. Die Regel sind Tumult und Unsicherheit. Unser Überleben hängt davon ab, dass wir lernen, damit umzugehen. Ich stelle mir immer wieder vor, wie wir in einem hinfälligen Boot eine stürmische See durchqueren. Mit jeder Welle werden wir nach rechts und links geworfen. Ich spüre einen Ruf – tief in meiner Seele –, einen Anker zu werfen, zu kämpfen, diesem Sturm standzuhalten, ohne mein Herz oder meinen Verstand zu verlieren. Dazu müssen Sie und ich uns den feinseligen Ideen und Stürmen widersetzen, indem wir uns in der Gemeinschaft verankern. Verankern wir uns in unseren Werten. Verankern wir uns in unserem Mut und stärken wir unsere Widerstandsfähigkeit. So wie Königin Esther es tat, aber nicht die vereinnahmte Esther aus der verkehrten Welt des weissen christlichen Nationalismus. Sondern im Geiste der wahren Esther, der schönen, mutigen persisch-jüdischen Königin unserer alten heiligen Geschichte.

Sharon Brous ist Oberrabbinerin und Mitgründerin der überkonfessionellen Gemeinde IKAR (hebr.: «Essenz») in Los Angeles. Brous zählt zu den bekanntesten jüdischen Geistlichen der USA und hat 2013 Präsident Barack Obama und Vizepräsident Joe Biden beim ersten nationalen Gebetsgottesdienst gesegnet. Sie ist Dozentin am Hartman Institute-North America, Senior Fellow am Auburn Theological Seminary und wirkt neben anderen Aufgaben am New Israel Fund und dem rabbinischen Beirat des American Jewish World Service mit. Brous wurde 2001 vom Jewish Theological Seminary ordiniert und erhielt einen Masterabschluss in Menschenrechten von der Columbia University. Vor ihrem Umzug nach Los Angeles diente sie als Rabbinic Fellow bei der Congregation B’nai Jeshurun ​​in New York City (https://ikar.org/).

Rabbinerin Sharon Brous