Schwerpunkt – Hoffnung 04. Aug 2025

«Ibi Lenin, ubi Jerusalem»

Paul Klees Aquarell «Angelus Novus» von 1920 im Bode-Museum in Berlin während der Austellung «Der Engel der Geschichte. Walter Benjamin, Paul Klee und die Berliner Engel 80 Jahre nach Kriegsende» von…

Ernst Bloch, Walter Benjamin und die jüdische Politik der Hoffnung.

Das Haus des bedeutenden Soziologen Max Weber in Heidelberg wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf ebenso bedeutsame wie überraschende Weise ein Labor radikalen jüdischen Denkens. Weber lud an Sonntagnachmittagen vor und während des Ersten Weltkriegs zu einer bekannten Diskussionsrunde, an der regelmässig seine Fachkollegen Georg Simmel, Werner Sombart und Ferdinand Tönnies teilnahmen. Zwei der bedeutendsten jüdischen Intellektuellen des frühen 20. Jahrhunderts, Georg Lukács (1885–1971) und Ernst Bloch (1885–1977), gehörten ebenfalls diesem «Heidelberger Kreis» an und lernten einander dort 1910 kennen. Während die bahnbrechenden Soziologen das Judentum auf eine jeweils eigene Weise mit dem Rationalismus verbanden, lehnten die Jüngeren dies ab. Lukács und Bloch schlossen in Heidelberg eine enge intellektuelle Freundschaft, beflügelt durch ihr gemeinsames Interesse an mystischem und messianischem Denken. Ein Schwerpunkt war das Judentum, aber ihre Recherchen und Diskussionen gingen darüber weit hinaus.

Sozial- und Literaturtheorie
Beide waren Bewunderer der neueren Schriften Martin Bubers über den Chassidismus und teilten ein Interesse an christlichen Mystikern des Mittelalters wie Meister Eckhart und Joachim von Fiore. Auch politisch einte sie ihre Ablehnung von Militarismus und Imperialismus. Sie gingen daher 1914 bei Kriegsbeginn auf Distanz zu dem Patriotismus, mit dem Weber und die anderen prominenten Soziologen das Kaiserreich unterstützten. Lukács kehrte bald darauf in seine Heimatstadt Budapest zurück, wo er nach dem Krieg die Leitung des Bildungswesens in der kurzlebigen ungarischen Räterepublik von 1919 übernahm. Juden spielten dabei insgesamt eine führende Rolle. Überschattet von seinem formalen Bekenntnis zur marxistischen Orthodoxie bewahrte Lukács’ späteres Hauptwerk zur Sozial- und Literaturtheorie gleichwohl subtile Spuren seines früheren Interesses am jüdischen Messianismus.

Für Bloch blieb diese frühe Faszination jedoch zentral für seine weitere politische Entwicklung. Christliche, jüdische und auch aussereuropäische Traditionen der Mystik flossen in seine Antwort auf die Vorsicht und Konventionalität der Soziologen des Heidelberger Kreises ein. Diese intellektuelle Kampfansage wurde durch die Anspielung auf Webers «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus» im Titel seines ersten Buches «Geist der Utopie» (1918) deutlich.

Revolutionäre Romantik
In diesem oft undurchdringlichen und andeutungsreichen, aber mitreissend leidenschaftlichen Text beschwor Bloch ein messianisches Gefühl emanzipatorischer Transformation als spirituelle Essenz radikaler Politik herauf. Eine intensive Stimmung revolutionärer Romantik und apokalyptischer Erwartung durchdringt das Buch, in dem Marxismus und Kulturanalyse mit Verweisen auf die Bibel, mittelalterliche Mystiker und andere eklektische Quellen verwoben sind. In der ersten Ausgabe enthielt «Geist der Utopie» zahlreiche Verweise auf die Kabbala und den Chassidismus. Ausserdem wurde den Juden neben den revolutionären Russen und (seiner Meinung nach) den ebenfalls vor einer Revolution stehenden Deutschen ausdrücklich eine besondere Rolle bei der Herbeiführung einer messianischen Utopie zugeschrieben. Bloch hat diese Bezüge in der weiter verbreiteten zweiten Auflage des Buches von 1923 deutlich abgeschwächt.

Heikles Thema
Diese Revisionen waren zweifellos durch den starken Eindruck der damaligen revolutionären Ereignisse in Budapest und München motiviert. Dort hatten Juden ebenfalls eine massgebliche Rolle in dem ebenso kurzlebigen Bayerischen Freistaat gespielt, der im Mai 1919 von rechten Freikorps niedergeschlagen wurde. Die Jüdischkeit radikaler Politik wurde im Zuge dieser Ereignisse ein heikles Thema. Bloch entschied sich wenig überraschend dafür, ihr Gewicht in seinen Schriften zu reduzieren. Er entfernte diese Aspekte jedoch nicht vollständig. Vereinzelte Bezüge zur jüdischen Mystik finden sich auch in der zweiten Fassung von «Geist der Utopie», darunter Anspielungen auf das esoterische Wissen um die messianische Zukunft im Zohar und andere kabbalistische Quellen. Politische Hoffnung war für Bloch eng mit diesen Kerntexten der jüdischen Mystik verbunden.

In seinem nächsten Buch, «Thomas Müntzer als Theologe der Revolution» (1921), nahm Bloch einen ewigen Helden der deutschen Linken in den Blick: den radikalen Anführer des Bauernaufstands von 1525. Während er die visionäre Bedeutung dieser Ikone der Populärkultur betonte, verknüpfte Bloch seinen Protagonisten mit einer umfassenderen und bis anhin verborgenen Geschichte des revolutionären Millenarismus, die mittelalterliche Persönlichkeiten wie Joachim von Fiore sowie den Kreis von Kabbalisten um Isaak Luria im 16. Jahrhundert umfasste. Müntzers Bedeutung für Bloch lag vor allem in der Unmittelbarkeit seines revolutionären Handelns und seiner utopischen Erwartung. Bloch war 1921 überzeugt, dass dieser Moment der revolutionären Erfüllung unmittelbar bevorstand – sowohl in Russland als auch in Deutschland.

Au dem Höhepunkt seines Buches formulierte er dies in jüdischen Begriffen und schrieb, dass die «Prinzessin Sabbath» im Begriff sei, zu erscheinen und «den Geist unverstellter Utopie» in die Welt tragen werde. Bloch strebte vor allem danach, die revolutionäre Hoffnung und das Engagement seiner Leser zu stärken. Er hatte kein Interesse daran, sich speziell an Juden zu wenden. Nach 1919 schien es ihm strategisch geboten, in seinem Schreiben christliche deutsche Vorbilder in den Vordergrund zu rücken. Der jüdisch-messianische Strang in Blochs Denken blieb evident und liess sich nicht unterdrücken. Es sind nicht zuletzt diese Aspekte, die seinem Werk eine transformative Dringlichkeit verleihen.

Allgegenwärtigkeit der Hoffnung
Bloch hat sein Hauptwerk, das dreibändige «Das Prinzip Hoffnung», im amerikanischen Exil geschrieben, hat den Text jedoch in den 1950er Jahren in der Deutschen Demokratischen Republik überarbeitet und veröffentlicht. Er hatte dort an der Universität Leipzig von 1949 bis zu seiner Ausreise in den Westen 1961 einen Lehrstuhl für Philosophie inne. Dieses weitläufige Werk ist stellenweise mindestens ebenso rätselhaft wie «Geist der Utopie». Es ist jedoch die mit Abstand ambitionierteste Auseinandersetzung mit Hoffnung in der marxistischen Tradition. Blochs Beharren auf der Allgegenwärtigkeit der Hoffnung als unauslöschliche Präsenz im menschlichen Bewusstsein steht im Gegensatz zur wissenschaftlichen Ernsthaftigkeit vieler marxistischer Schriften, insbesondere in der angespannten Atmosphäre des Kalten Krieges der 1950er Jahre.

Seine Auseinandersetzung mit menschlichen Hoffnungen und Träumen von einer besseren Welt reicht weit über die Geschichte hinaus. Sein Spektrum an Verbindungen und Bezügen in diesem Bereich ist enorm. Bloch verbindet die biblischen Quellen optimistischen und utopischen Denkens im Alten und Neuen Testament mit der Wiederbelebung dieser Ideale bei mittelalterlichen Mystikern, frühneuzeitlichen Theoretikern wie Thomas Morus und Pionieren des Sozialismus wie Robert Owen und den Saint-Simonisten.

Nationalistisch-utopisches Denken
Das Leipzig der 1950er Jahre war kein freundliches Umfeld für die Diskussion des jüdischen Utopismus. Bloch scheute sich jedoch nicht, den Zionismus in seine Geschichte der utopischen Vorstellungskraft einzubeziehen. Moses Hess’ proto-zionistisches Werk «Rom und Jerusalem» (1862) war für ihn «das ergreifendste zionistische Traumbuch», inspiriert von moralischen und prophetischen Idealen. Zu Blochs Bedauern hatte Herzl diese in eine bürgerliche, politische Vision transformiert, die seit 1917 vom britischen Imperialismus gefördert und zuletzt in eine auf der Invasion arabischer Gebiete basierende Staatsideologie verwandelt worden war. Das frühe nationalistisch-utopische Denken der Juden ähnele, so Bloch, den Hoffnungsbekundungen anderer Völker wie der Tschechen, Polen oder auch der Deutschen.

Doch er wandte sich auch gegen diese Normalisierung und Gleichsetzung, indem er zudem auf ein einzigartiges Merkmal des jüdischen Utopismus hinwies: die damit verbundene Verpflichtung, im Einklang mit der Absicht der Propheten zu handeln. Diese höhere Berufung überstieg alle nationalistischen Partikularismen und verlangte von den Juden, sich, wo immer sie lebten, mit fortschrittlichen Kräften zu verbünden. Bloch goss diesen dem Judentum auf tiefste Weise entsprechenden Weg in eine eigene Heimat in die Parole: «ubi Lenin, ibi Jerusalem».

Der wichtigste Denker eines jüdischen radikalen Messianismus des 20. Jahrhunderts, Walter Benjamin (1892–1940), wurde von Bloch beeinflusst und war ab 1919 eng mit ihm befreundet. Angeregt durch Blochs radikale Kritik an Weber argumentierte Benjamin in seinem Fragment «Kapitalismus als Religion» (1921), der Kapitalismus sei nicht, wie Weber es darstellen wollte, eine kalt-rationale Ideologie, sondern selbst eine einzigartig gnadenlose Religion, die von ihren ängstlichen Anhängern täglich kultische Verehrung verlange: «Das Christentum zur Reformationszeit hat nicht das Aufkommen des Kapitalismus begünstigt, sondern es hat sich in den Kapitalismus verwandelt.» Anders als Bloch lehnte Benjamin jedoch die Befreiungstheologie innerhalb des radikalen Christentums eines Thomas Müntzer als Modell ab. Er setzte seine Hoffnungen vielmehr auf eine politisch widerborstigere und philosophisch mysteriösere Form des jüdischen Messianismus.

Benjamins Gegenüberstellung eines jüdischen Messianismus mit einem zum Kapitalismus geratenen Christentum war nicht nur eine Reaktion auf die grundsätzliche analytische Kälte der Weberschen «wertfreien» Soziologie, sondern auch auf Sombarts Verbindung des Judentums mit dem Kapitalismus im Zuge von Karl Marx. Aufgewachsen in einem stark assimilierten bürgerlichen Umfeld in Berlin hatte das Judentum für Benjamin bis ins frühe Erwachsenenalter kaum Bedeutung. 1912 jedoch, als die Debatten über Sombarts Werk und die Beziehung zwischen deutscher und jüdischer Kultur ihren Höhepunkt erreichten, hinterliess die Begegnung mit einem zionistischen Jugendführer einen starken Eindruck auf ihn. Benjamin lehnte den Zionismus bald ab.

Doch die Faszination für die kulturelle und spirituelle Bedeutung der jüdischen Esoterik geriet von diesem Zeitpunkt an zu einem zentralen Strang seines Denkens. Durch seine intensive Freundschaft mit Gershom Scholem wurde Benjamin ab 1915 der gegen bestehende Verhältnisse anstürmende Geist des Sabbatianismus, Frankismus und anderer Episoden in der Geschichte des jüdischen Messianismus bewusst. Diese theologische und politische Disruptivität war für ihn äusserst überzeugend und wurde zu einem wichtigen Impuls für sein Umdenken in Bezug auf das Wesen der Zeit selbst.

Tote wecken
Benjamin bringt seine messianische Zeitauffassung am anschaulichsten in dem Aufsatz «Über den Begriff der Geschichte» (1940) zum Ausdruck. Hier stellt er seinen berühmten «Engel der Geschichte» vor, welcher der Vergangenheit mit ausgebreiteten Flügeln gegenübersteht:

«Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schliessen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.»

Benjamin kontrastiert dann das konventionelle Zeitverständnis – «homogene und leere Zeit», fortschreitend sequentiell, ein Prozess – mit der messianischen Fülle der «Jetztzeit». Diese in die Vergangenheit gerichtete Perspektive ist dennoch eine der Hoffnung. Benjamin führt diese hoffnungsvolle Aussicht erst in den letzten Zeilen des Aufsatzes ein und stellt dort seinen Engel ausdrücklich mit dem Judentum in Verbindung:

«Bekanntlich war es den Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen. Die Thora und das Gebet unterweisen sie dagegen im Eindenken. Dies entzaubere ihnen die Zukunft, die verfallen sind, die sich bei den Wahrsagern Auskunft holen. Den Juden wurde die Zukunft aber darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.»

Hoffen auf Engel
Benjamin bringt den hoffnungsvollen Gehalt des Engels der Geschichte direkt mit dessen unverrückbarer Ausrichtung auf die Vergangenheit zusammen. Die Ankunft des Messias kann nicht vorhergesagt, geplant oder vorhergesehen werden – aber sie ist in jedem Moment eine Möglichkeit, unabhängig davon, wie trostlos die sich türmenden Trümmer der Geschichte erscheinen mögen. Benjamin stellt diese jüdische Messias-Hoffnung den vergeblichen Bemühungen der «Wahrsager» gegenüber, welche die Zukunft vorherzusagen versuchen. Er verachtet ihre falschen Versprechungen. Er deutet an, dass diese Kritik auf die dominierenden Quellen der Hoffnung seiner Zeit zutrifft: Marxismus, Christentum und klassische Soziologie – um die nicht jüdischen Denksysteme zu nennen, mit denen er hauptsächlich im Dialog stand. Jüdische Hoffnung, so Benjamin, bietet einen Ausweg aus den Wahnvorstellungen und Enttäuschungen, zu denen diese Spekulationen allzu leicht führen. Sie bietet auch einen widerstandsfähigeren Schutz gegen Verzweiflung, denn die Hoffnung auf die Zukunft ist ewig und völlig losgelöst vom Erbe der Vergangenheit.

Am 26. September 1940 verlor Benjamin in der spanischen Grenzstadt Portbou die Hoffnung für sich selbst, wenn auch scheinbar nicht für die Welt. Er wollte aus Nazi-Europa mit der Absicht fliehen, von Lissabon in die USA zu reisen, wurde aber kurz nach der Überquerung der Pyrenäen von spanischen Grenzbeamten gestoppt. In der Erwartung, erneut der Gestapo übergeben zu werden, nahm sich Benjamin offenbar das Leben. Zuvor hatte er nach Kräften versucht, ein wertvolles und inzwischen verlorenes Manuskript sicher verwahren zu lassen, das er in einer Aktentasche mit sich trug.

85 Jahre später liegen politisch-progressive Hoffnungen auf eine glücklichere und gerechtere Welt scheinbar erneut in Trümmern. Das jüdisch-messianische Denken von Ernst Bloch und Walter Benjamin, das in dunklen Zeiten geprägt und bewahrt wurde, bleibt indes eine wertvolle Ressource für Menschen, die einmal mehr Hoffnungen auf eine utopische Zukunft aufbauen wollen.

Adam Sutcliffe ist Professor für Europäische Geschichte am King’s College London. Zuletzt veröffentlichte er «What Are Jews For? History, Peoplehood, and Purpose» (Princeton University Press, 2020).

Adam Sutcliffe