Drei literarische Werke illustrieren den geradezu mythischen Status Hannah Arendts auch im 21. Jahrhundert. Deren Qualität ist indes durchaus unterschiedlich.
Ein halbes Jahrhundert nach ihrem Tod 1975 bleibt Hannah Arendt in der zeitgenössischen Kultur eine geradezu unheimlich vitale Präsenz. Die Schriftstellerin und Philosophin ist regelmässig Thema neuer Dokumentationen und Gegenstand revisionistischer Biografien, und nicht zuletzt begegnen wir ihr in literarischen Werken. Und doch genügt ein Blick auf Arendts erstaunlichen Lebensweg – von ihrer Geburt in eine assimilierte jüdische Familie 1906 im deutschen Kaiserreich bis zu ihren letzten Jahren als amerikanische Intellektuelle in ihrer Wohnung in der Upper West Side von Manhattan –, um diese Faszination zu verstehen. Hier soll es um drei literarische Projekte aus dem letzten Jahrzehnt zu Arendt gehen. Insgesamt veranschaulichen der aktuelle Bestseller «The Book of Records» der chinesisch-kanadischen Autorin Madeleine Thien, die grafische Biografie «Die drei Leben der Hannah Arendt» (2018) des Cartoonisten Ken Krimstein und der Einakter «Mrs. Stern Wanders the Prussian State Library» (2019) der Dramatikerin Jenny Lyn Bader den geradezu mythischen Status Arendts auch und gerade im 21. Jahrhundert.
Romanrätsel «Das Meer»
Thiens «The Book of Records» ist ein metaphysisches Romanrätsel, das in einer imaginären Enklave für Flüchtlinge namens «Das Meer» (im Original: The Sea) spielt. Da die Bewohner den Ort nur durch die Linse ihrer eigenen Geschichte beschreiben können, ist der Schauplatz weder in Zeit noch Raum verankert. Die Geschichte beginnt mit einem Vater und seiner Tochter, die nach einer hastigen Abreise vom chinesischen Festland dort landen. Sie konnten nur wenige Habseligkeiten retten. Aber darunter befinden sich drei schnell zusammengeklaubte Biografien aus einer 90-bändigen Reihe mit dem Titel «The Great Lives of Voyagers». Obwohl dieser Zufall die Leben des chinesischen Dichters Du Fu, des niederländischen Philosophen Baruch Spinoza und der deutschen Denkerin Hannah Arendt zusammengebracht hat, entdecken die Bewohner von «Das Meer» doch Gemeinsamkeiten.
Verletzbarkeit und Verpflichtung
Alle drei wurden in ihren Geburtsländern zu Aussenseitern gemacht, konnten aber schliesslich die ihnen gegenüber zunächst so feindselig eingestellten Gesellschaften beeinflussen (wenn auch zwei erst posthum). Doch während Du Fu und Spinoza zu ihrer Ausgrenzung in gewisser Hinsicht selbst beigetragen haben, hatte Arendt in dieser Hinsicht keine Wahl. Der grundlegende Fehler in Thiens Neuinterpretation von Arendt liegt darin, dass sie die grundlegende Rolle der jüdischen Herkunft Arendts für ihre Verfolgung durch die Nazis zugunsten ihrer politischen Haltung in den Hintergrund stellt.
Da Arendts Geschichte im Kontext des fantastischen Schauplatzes «Das Meer» erzählt wird, nimmt ihre Vita zwangsläufig den Charakter eines Volksmärchens an. Wir begegnen ihr zum ersten Mal im Alter von 18 Jahren im Jahr 1925, als sie eine Affäre mit ihrem Philosophieprofessor beginnt, dem 35-jährigen – und verheirateten – Martin Heidegger. Thien widmet den intimen Komplikationen ihrer Beziehung viele Seiten. Fünf Jahre später zieht Arendt nach Berlin, um Heidegger zu entkommen, und heiratet ihren Kommilitonen Günther Stern. In Thiens Erzählung kommt ihre jüdische Herkunft erst dann zum Tragen, als der Antisemitismus in Deutschland offizielle Politik wird und sie nicht nur ihre Verletzlichkeit, sondern auch ihre eigene Verpflichtung gegenüber den Opfern der antisemitischen «Rassengesetze» der Nazis erkennt. Erst jetzt nimmt ihre Identität als Jüdin festere Formen an, und sie beginnt dem Gerücht Glauben zu schenken, wonach Heidegger der NSDAP beigetreten ist.
Stadt Montauban
Dann geht der Roman der Geschichte ihrer Fluchten nach. Das erste Entkommen führt Arendt aus Nazi-Deutschland über Prag nach Paris. Ihre vorangegangene Inhaftierung durch die Gestapo in Berlin ist Thien indes kaum der Erwähnung wert. Die spätere Flucht aus Vichy-Frankreich nach Lissabon ermöglicht Arendt die Passage auf dem Schiff, das sie nach Amerika retten sollte. Dieser Abschnitt bietet zahlreiche Details. Doch allzuoft lenken diese von den extremen Gefahren ab, die Arendt 1940/41 als Jüdin ohne Papiere dort nach der Niederlage Frankreichs zu bestehen hatte. So stattet Thien beispielsweise die Frauen, die Arendt auf ihrer Flucht aus dem Gefangenenlager Gurs in die angeblich «sichere» Stadt Montauban begleiten, mit amüsanten Spitznamen aus. Auch hier wird einer Romanze – diesmal mit dem ebenfalls vor den deutschen Besatzern fliehenden Heinrich Blücher – allzu viel Raum gewährt. Der Kommunist wurde Arendts zweiter Ehemann. Doch unterm Strich wird die Fantasiewelt in «The Book of Records» den tatsächlichen Leidenserfahrungen Arendts als Jüdin nicht gerecht.
Einstein im Kafkaland
Wie geht demgegenüber Ken Krimsteins «Die drei Leben der Hannah Arendt» mit der Protagonistin um? Als Cartoonist beim «New Yorker», Kreativdirektor in der Werbebranche und Lehrer an der DePaul University, der «School of the Art Institute of Chicago» und dem «YIVO Institute for Jewish Research» hat Krimstein bislang auch vier Graphic Novels geschaffen, zuletzt «Einstein in Kafkaland: How Albert Fell Down the Rabbit Hole and Came Up with the Universe» (2024). Wie sein Titel «Die drei Leben der Hannah Arendt» verspricht, hat sich Krimstein hier einiges vorgenommen. Das Buch will nicht allein die gesamte Biografie seiner Heldin, sondern auch ihre Entwicklung als Philosophin und politische Denkerin erzählen. Dazu bildet Krimstein zahlreiche ihrer Zeitgenossen in Europa und den USA ab.
Dieses Wagnis gelingt Krimstein auch. Er stellt ihre Vita und die intensiven Beziehungen Arendts in Wort und Bild treffend dar. Seit Art Spiegelman mit seinem bahnbrechenden Buch «Maus» (1991) eine Graphic Novel über den Holocaust gewagt hat, haben Cartoonisten die Herausforderung einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dieser Thematik in ihrem Medium aufgenommen. Krimstein zeichnet die Ereignisse aus Arendts Leben in Schwarzweiss. Nur ihre Figur erscheint in Grün, ihrer Lieblingsfarbe. «Die drei Leben der Hannah Arendt» bieten Variationen im Format. So gehen ganzseitige Bilder ihren Denkprozessen nach. In dieser Form nähert sich Krimstein auch den Ideen, die Arendt schliesslich zu «The Origins of Totalitarianism» führen. Diese Seite ist durchaus als übersichtliche Einführung in dieses erste grosse, englischsprachige Werk Arendts für Studierende und Interessierte jeder Art geeignet. Im Gegensatz dazu verwendet Krimstein das traditionelle Comic-Format zur Darstellung von Gesprächspartnern und macht Arendts lebhaften Austausch mit Freunden und Kollegen auf dramatische Weise anschaulich.
Figur in Grün
Krimstein stellt ein Schlüsselereignis in Arendts Leben dar, das im Zentrum von Jenny Lynn Baders «Mrs. Stern Wanders the Prussian State Library» steht, nämlich ihre geschickte Manipulation des jungen Gestapo-Offiziers, der sie im Frühjahr 1933 inhaftierte. Dies geschah, nachdem ein Bibliothekar der Preussischen Staatsbibliothek sie beim Sammeln und Vervielfältigen sogenannter «Horror-Propaganda» ertappt hatte, also Presseberichten über den Antisemitismus der Nazis. Arendt war seinerzeit eine regelmässige Besucherin der Bibliothek gewesen und hatte diesen riskanten Auftrag für eine zionistische Organisation unternommen, die entsprechende Materialien auf dem im Sommer 1933 in Prag stattfindenden Zionistenkongress präsentieren wollte.
Krimstein eröffnet die Episode mit einer ganzseitigen Zeichnung der Bibliothek und stellt Arendt darin als kleine Figur in Grün in eine Ecke, die misstrauische Blicke auf zwei Bibliotheksangestellte wirft. Eine grosse Uhr über dem Kopf trägt die Aufschrift «Veritas!» (Man beachte das Ausrufezeichen.) Der Nazi-Beamte, der Arendt und ihre Mutter Martha aus seinem Auto heraus auf der Strasse festgenommen hatte, gesteht naiv, dass er neu im Job sei. Indem Krimstein ihren Weg ins Gefängnis mit expressionistischer Übertreibung zeichnet, deutet er Hannahs Gefühle an, als sie auf Fahrt durch vertraute Strassen ihrer Freiheit beraubt wird. Danach trägt der Dialog zwischen dem Jungbürokraten und der listigen Philosophiestudentin die von Arendt erhofften Früchte – der Flirt führt zu ihrer Freilassung. Die nächste Seite zeigt sie auf einem legendären Fluchtweg durch ein Haus an der tschechischen Grenze. Sie gehen als Deutsche durch die Vordertür hinein und verlassen das Haus durch die Hintertür in die Tschechoslowakei als Staatenlose - aber frei.
In Baders Einakter spielt sich die gesamte Handlung in der Gefängniszelle ab. Mit Ausnahme des kurzen Auftritts eines Anwalts besteht das Drama nur aus dem ausgeklügelten verbalen Katz-und-Maus-Spiel zwischen der 26-jährigen Gefangenen und dem 25-jährigen Offizier Karl, der gerade erst mit der Untersuchung eines neuen Typs von «Verbrecher» beauftragt worden ist. Ihre Wortwechsel enthüllen nach und nach die Mechanismen, die so kurz nach Hitlers Machtübernahme in Gang gesetzt wurden, angefangen mit der Infragestellung von Arendts «deutscher» Herkunft. Das ganze Arsenal des Polizeistaats wird offengelegt, von der Beschlagnahmung aller persönlichen Besitztümer bis zur Durchsuchung von Arendts Wohnung.
Politischer Aktivismus
Schliesslich wird sie durch die rückwirkende Anwendung von Gesetzen des neuen Verbrechens des «politischen Aktivismus» angeklagt. Bei Bader ist es Karl, der ihr die gravierenden Folgen seiner Verhaftung vor Augen führt: Selbst wenn sie so unschuldig sei, wie sie behaupte, sei sie doch als Verdächtige gebrandmarkt und würde in Deutschland nie wieder völlig sicher sein. Da er weiss, dass er sie staatenlos gemacht hat, eröffnet ihr Karl auch die einzige ihr nunmehr verbleibende Möglichkeit von Widerstand, indem er wie beiläufig das berühmte Haus an der tschechischen Grenze erwähnt.
Imaginäre Dialoge
Bemerkenswert bleibt, dass Martin Heidegger sowohl in der Graphic Novel als auch im Einakter figuriert. Krimstein widmet ganze Passagen imaginären Dialogen mit Arendts ehemaligem Geliebten. Bader lässt Karl inmitten der eindringlichen Auseinandersetzungen in der Haftkulisse nach Heidegger fragen: Könnte ihr amtlich bekannter Kontakt mit dem berühmten, inzwischen offiziell zum Nazi gewordenen Professor irgendwie von Nutzen für die Gefangene sein?
So bleiben diese zuerst 1982 von Elisabeth Young-Bruehl in ihrer Biographie «Hannah Arendt. For Love of Life» enthüllte Liebesaffäre – und der schmerzhafte Verrat Heideggers – auch in diesen neueren Darstellungen ihrer aussergewöhnlichen Vita ein zentrales Dilemma Arendts.
Die Kunsthistorikerin Monica Strauss ist in Massachusetts als Autorin, Journalistin und Forscherin tätig. Ihrer Familiengeschichte widmet sie den Blog «Refugee Tales»: https://refugeetales.com.