jesus 11. Dez 2025

Götzendienst und grosser Bruder

Die Kuppeln der Grabeskirche in der Altstadt von Jeruslaem.

Die Figur Jesus’ im Spannungsfeld christlicher und jüdischer Debatten.

Welche Verbundenheit könnte zwischen zwei Religionen stärker sein als die fromme Zugehörigkeit des Gründers der einen zu dem älteren Glauben? Doch wie bei jeder Verbundenheit liegen eben darin Spannungen: Zu wem gehört Jesus, zu den Juden oder den Christen? Schliesslich berichtet das Matthäus-Evangelium, Jesus sei «Rabbiner» genannt worden und habe sich selbst nie als «Christ» bezeichnet. War er nun ein loyaler Jude oder Gründer der neuen Religion, des Christentums?

Das Judentum definiert Götzendienst als Zuschreibung von Göttlichkeit an ein von Menschenhand geschaffenes Objekt, als Leugnung des Monotheismus, als Anbetung eines Gottesbildes, als Verwechslung Gottes mit menschlichen Eigenschaften oder als die Zuschreibung von Eigenschaften an Gott, die der göttlichen Einheit und dem göttlichen Schöpfungsakt der Welt widersprechen, der Creatio ex nihilo. Christen nehmen für sich die Erfüllung der Verheissungen der hebräischen Bibel in Anspruch. Aber sie verstossen gegen die Bibel, indem sie ihre Religion auf heidnische Vorstellungen wie die Inkarnation gründen. Sie behaupten, ein Mensch, Jesus, sei göttlich gewesen.

Moralische Gesellschaft
Über Jahrhunderte hinweg betrachteten jüdische Philosophen das Christentum als Götzendienst und schränkten daher die finanziellen und sozialen Beziehungen von Juden zu Christen ein. Diese Einschränkungen warfen Schwierigkeiten auf, und im 13. Jahrhundert verkündete der berühmte Rabbiner Menachem HaMeiri: «Die Götzendiener unter uns sind keine Götzendiener.» Diese bewusst vage Formulierung unterschied die damaligen Christen von den im Talmud erwähnten Götzendienern. HaMeiri argumentierte, das Christentum könne kein Götzendienst sein. Denn es habe eine moralische Gesellschaft geschaffen. Und dies ermögliche Juden den Handel mit Christen.

In der Antike trat jüdisches Interesse an der Figur Jesus’ primär als Spott auf. Der berühmte Text «Toldot Yeshu», der in verschiedenen hebräischen und aramäischen Versionen kursierte, interpretierte die Evangeliengeschichte neu: Jesus wurde darin als Betrüger dargestellt, der seine Anhänger durch das Vorgaukeln von Wundern täuschte. Dann hätten gewisse Rabbiner die Gemeinde der Gläubigen unterwandert und sie vom Judentum abgebracht.

Obwohl rabbinische Autoritäten den Götzendienst des Christentums ablehnten, blieben Juden von christlichen Behauptungen fasziniert. Juden im christlichen Europa entwickelten eine zwiespältige Haltung: Sie verurteilten und verspotteten sogar die Vorstellung, dass Gott in einem menschlichen Körper Gestalt annehmen würde, waren aber gleichzeitig gfesselt von der Inkarnation, der Dreifaltigkeit, der Jungfrauengeburt und anderen grundlegenden Dogmen des Christentums. Christliche Mythen fanden auf subtile Weise Resonanz im Judentum, von klassischen rabbinischen Texten über die mittelalterliche Kabbala bis hin zum Chassidismus. Bemerkenswerterweise fesseln speziell jene christlichen Elemente Juden, die ihre eigene Lehre als «heidnisch» ablehnt.

Ton und Ausmass
So wurde der Begriff des Götzendienstes in jüdischen Schriften auf menschliches Denken und Handeln angewandt. Eine gute Tat aus eigennützigen Motiven zu vollbringen, gilt als Götzendienst (Bescht); Selbstliebe, die sich in Hochmut oder übermässiger Askese ausdrückt, ist ebenfalls Götzendienst (Kotzk); theologische Starrheit, die Verdrängung Gottes durch religiöses Gesetz oder der Glaube, dass religiöse «Wahrheit ausschliesslich in einer einzigen Erscheinungsform des Göttlichen existiert», stellen gleichermassen Götzendienst dar. Trinitarische Elemente finden sich in kabbalistischen Darstellungen der göttlichen Sefirot. Und die klassische Kabbala beschrieb die Schechina, die göttliche Gegenwart, in einer Bildsprache, die der christlichen Sprache über die Jungfrau Maria ähnelt.

Ab dem späten 18. Jahrhundert veränderten sich jedoch Ton und Ausmass der jüdischen Debatten über Jesus. Gleiches gilt für Erörterungen unter Christen. Sie verlagerten ihren Fokus von dogmatischen Fragen hin zur Konstruktion der historischen Figur Jesus’, seines Lebens und seiner Lehren im Kontext ihrer Zeit.

Der liberale Protestantismus verlagerte den Fokus vom christlichen Dogma auf die historische Gestalt Jesus’. Seit dem 19. Jahrhundert definierten Christen und Juden Theologie als die Anwendung historischer Methoden zur Erforschung der Ursprünge und Entwicklung ihrer Religion. Der Historismus wurde ein Werkzeug, ja sogar die Grundlage des Glaubens. Adolf Hilgenfeld schrieb 1858: «Die historische Frage nach der ursprünglichen Form und Entwicklung des Christentums ist nach wie vor die Kernfrage unserer Theologie.» Die Hinwendung zur historischen Erforschung der christlichen Ursprünge eröffnete der jüdischen Gelehrsamkeit neue Perspektiven. Eine Auslotung der Geschichte bedeutete, dass die Evangelien im Kontext des Judentums der Zeit des Zweiten Tempels betrachtet werden mussten. Jüdische Gelehrte nahmen diese Aufgabe an.

Jüdische Strömungen
Der bedeutendste unter ihnen war Abraham Geiger (1810–1874), der seine Geschichte des Judentums der Zeit des Zweiten Tempels auf die Evangelien ausdehnte und Jesus im jüdischen Kontext neu interpretierte. In seinem Hauptwerk, der 1857 erschienenen «Urschrift und Übersetzungen der Bibel», definierte Geiger auf Grundlage philologischen Analysen hebräischer, aramäischer, griechischer und syrischer Bibelübersetzungen zwei Strömungen im frühen Judentum: die pharisäische und die sadduzäische – eine liberale sowie eine konservative. Die Pharisäer erschienen hier keineswegs als die im Neuen Testament dargestellten heuchlerischen Gestalten. Sie unternahmen vielmehr eine Liberalisierung und Demokratisierung der Halacha, um die Anwendung des jüdischen Religionsgesetzes zu erleichtern. Die Sadduzäer repräsentierten als Priester des Tempels in Jerusalem hingegen die beschränkten Interessen der priesterlichen Aristokratie, die ihre Privilegien durch eine konservative Auslegung des jüdischen Gesetzes bewahren wollte. Laut Geiger gehörte Jesus der liberalen, pharisäischen Bewegung seiner Zeit an und war nicht der Gründer einer neuen Religion. Laut Geiger wurde das Christentum nicht von Jesus, sondern von Paulus gegründet. Dieser trug demnach den von Jesus gelehrten jüdischen Monotheismus in die heidnische Welt, wo er durch heidnisches Gedankengut verfälscht wurde und nichtjüdische Lehren wie die Trinität und die Inkarnation annahm. Das Christentum war nicht die Religion Jesus’, sondern ein um Jesus herum konstruierter Glaube. Geiger schrieb: «Er [Jesus] war ein Jude, ein pharisäischer Jude mit galiläischen Wurzeln – ein Mann, der die Hoffnungen seiner Zeit teilte und glaubte, dass sich diese Hoffnungen in ihm erfüllten. Er verkündete keinen neuen Gedanken und überwand auch nicht die Grenzen der Nationalität. […] Er schaffte keinen Teil des Judentums ab; er war ein Pharisäer, der den Weg Hillels ging.»

Der grosse Bruder
Geigers Thesen wurden bald zu einem gängigen Narrativ unter Juden. So veröffentlichte der aus einer angesehenen litauischen Rabbinerfamilie stammende Elias Soloweyczyk (1801–1885) 1869 eine hebräische Übersetzung des Matthäus-Evangeliums, die später ins Französische, Deutsche und Englische übertragen wurde. Er stellte Vers für Vers Parallelen zwischen den Evangelien und der rabbinischen Literatur dar und verkündete: «Jesus hatte kein anderes Ziel vor Augen, als die Menschen im Glauben an den einen Gott zu erwecken und sie zur Ausübung aller Nächstenliebe und zur Liebe zu allen Menschen, selbst zu seinen Feinden, anzuspornen. Möge Gott uns allen, Juden wie Christen, die Gnade schenken, der Lehre Jesus’ und seinem leuchtenden Beispiel zu folgen, zu unserem Wohl in dieser Welt und zu unserem Heil im Jenseits.»

Im Laufe des 19. Jahrhunderts beanspruchten Juden die Evangelien als jüdische Texte und Jesus als ihren jüdischen Glaubensgenossen. Der österreichische Bibelwissenschaftler und Zionist Hirsch Perez Chajes schrieb 1919: «Man muss ein rabbinischer Jude sein, den Midrasch kennen, wenn man den Geist des Christentums in seinen Anfängen ergründen will. Vor allem muss man die Evangelien in der hebräischen Übersetzung lesen.» Martin Buber verkündete: «Von meiner Jugend an habe ich in Jesus meinen grossen Bruder gefunden.» Der amerikanische Reformrabbiner Stephen Wise erklärte: «Jesus war Jude, ein Hebräer von Hebräern. […] Jesus lehrte keine neue Religion und wollte auch keine lehren.»

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwandelten jüdische Intellektuelle und Künstler Jesus von einem Symbol des Christentums in ein Wahrzeichen jüdischer Erfahrung, eine Gestalt, für die Juden das beste Verständnis hervorbringen konnten. Ein gutes Beispiel dafür ist Sholem Aschs jiddische Erzählung «In einer Karnevalsnacht» von 1909, wo bei einer päpstlichen Prozession im Rom des 16. Jahrhunderts acht Juden geschlagen werden. Doch dann steigt Jesus im Petersdom vom Kreuz herab und wird selbst zum Märtyrer. Die Jungfrau Maria hilft Mutter Rachel beim Nähen der Leichentücher: Jesus hat seine jüdischen Wurzeln nicht vergessen, auch wenn die Christen davon nichts mehr wissen wollen.

Marc Chagall malte häufig Kreuzigungsszenen. Doch sein berühmtestes Werk, die «Weisse Kreuzigung» von 1938, nutzt das Motiv als Symbol jüdischer Katastrophe und zeigt Jesus in einen jüdischen Gebetsschal gehüllt ans Kreuz genagelt. Um ihn herum sind kleine Figuren in Szenen der Zerstörung zu sehen: Kommunistische Revolutionäre greifen an, eine Synagoge brennt, Juden fliehen zu Fuss und in einem Boot, eine Thora-Rolle steht in Flammen, ein alter Jude weint, eine Mutter hält ihr Baby fest. Jesus’ Tod beendet das Leid nicht nur nicht, sondern ist sogar dessen Ursache. Da wird ein machtloser Sohn und ein abwesender Vatergott dargestellt. 1944 zeigt Chagalls Gemälde «Der Gekreuzigte» ein Dorf, in dem voll bekleidete Juden an Kreuzen hängen: Der Holocaust ist die Kreuzigung, und die Kreuzigung ist ein Massenmord.

Das Abendmahl
Die Ausstellung «Behold the Man» im Israel-Museum in Jerusalem (2016/17) präsentierte jüdische und israelische Jesusbilder verschiedenster Künstler in unterschiedlichen Medien. Reuven Rubin beispielsweise stellte Jesus als Symbol für das Exil dar, das die Juden hinter sich lassen mussten, um Selbstverwirklichung und Erneuerung zu erlangen – und als Bild zionistischer Wiedergeburt. Adi Nes’ Fotografie «Das letzte Abendmahl» zeigt israelische Soldaten an einer langen Tafel und macht die ikonische christliche Szene so zu einer politischen Botschaft über das Engagement und die Opferbereitschaft der israelischen Bevölkerung: Soldaten, die nicht wissen, ob sie bald im Kampf fallen werden, ob dies tatsächlich ihr letztes Abendmahl sein könnte – Israeli als Christusfiguren.

Jüdische Darstellungen Jesus’ als Jude haben Kontroversen ausgelöst, insbesondere im Europa des 19. Jahrhunderts. Ein öffentlicher Skandal entbrannte 1879 in Deutschland, als der jüdische Künstler Max Liebermann sein Ölgemälde «Der zwölfjährige Jesus im Tempel» in der Hamburger Kunsthalle ausstellte. Liebermann wurde vorgeworfen, Jesus als «jüdischen Strassenjungen» darzustellen, der mit jüdischen Gelehrten disputiert; ein Kritiker nannte ihn «den hässlichsten und unverschämtesten jüdischen Jungen, den man sich vorstellen kann». Daraufhin übermalte Liebermann das Bild, entfernte Jesus’ Schläfenlocken, liess ihn ein längeres Gewand und Sandalen tragen und aufrecht stehen. Als der moderne Antisemitismus während der 1880er Jahre in Deutschland Furore machte, wurden künstlerische Darstellungen Jesus’ dort laut der Kunsthistorikerin Eva-Maria Kaffanke immer wieder als «zu jüdisch» kritisiert. Künstler suchten daher nach «orientalischen» Vorbildern und wählten zunächst Muslime und später Deutsche als Modelle.

Ku-Klux-Klan und Jesus
Mit dem Aufkommen der wissenschaftlich und differenziert auftretenden Rassentheorie griffen einige Theologen diese Argumente für die Behauptung auf, Jesus sei kein Jude, sondern ein Arier gewesen. Der deutsche Theoretiker des Antisemitismus Paul de Lagarde bezeichnete Paulus als «Pharisäer durch und durch» und warf dem Apostel vor, die Lehren des arischen Jesus zu judaisieren und dadurch zu verfälschen. Dies gipfelte in Houston Stewart Chamberlains populärer antisemitischer Hetzschrift «Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts»: «Dass Christus keinen Tropfen jüdischen Blutes in seinen Adern hatte […] ist nahezu sicher.»

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts forderten protestantische Pastoren und Theologen eine «Reinigung» des Christentums von jüdischen Elementen. All dies begann vor Hitlers Machtergreifung. Doch nach 1933 unternahmen protestantische Nazis Anstrengungen, das Alte Testament aus der Bibel zu streichen, die Evangelien umzuschreiben und das Johannes-Evangelium an die Stelle der Paulus-Briefe zu setzen. Jesus sei Arier gewesen, behaupteten sie, doch dasselbe konnten sie nicht über Paulus behaupten.

In den USA identifizierten sich rassistische Gruppen wie der Ku-Klux-Klan mit Jesus und riefen ihre Mitglieder dazu auf, diesem nachzueifern. Denn Jesus sei «ein Klansmann» gewesen. Die weisse Kutte des Klans sollte die Gerechtigkeit Christi repräsentieren. In der Zeit vor dem Bürgerkrieg 1861–65 heuerten weisse Sklavenhalter weisse Prediger an, die versklavten Schwarzen predigten, sie sollten den Worten der Paulus-Briefe folgen und ihren Herren gehorchen. Stattdessen sangen die Sklaven Lieder über einen Jesus, der ihnen sehr nahe war und sie verstand. Sein Dulden am Kreuz war ihr eigenes Leiden. Wie Moses und die Propheten war Jesus eins mit den Sklaven und würde sie befreien, so wie Moses die Israeliten befreit hatte. Für den schwarzen Theologen James Cone ist Gott schwarz, weil er schwarzen Gemeinschaften, die «inmitten weisser, rassistischer Gesellschaften ums Überleben kämpfen», eine befreiende Gegenwart schenkt.

Theologen der afroamerikanisch-christlichen Tradition in den USA interessieren sich weniger für die Inkarnation Gottes in Jesus als vielmehr für Gottes mitfühlendes Leiden mit den Menschen. Gerade Gottes Wahl des versklavten Israel zu seinem auserwählten Volk zeugt von seinem Charakter, so Cone: «Hätte Gott die ägyptischen Sklavenhalter anstelle der israelitischen Sklaven zu seinem heiligen Volk erwählt, wäre ein völlig anderer Gott offenbart worden.» Eine Bibelauslegung, die Sklaverei oder ihr Gegenstück im Patriarchat rechtfertigt, widerspricht demnach unserem Verständnis von Gottes Wesen.

Ende des Kreislaufs
Esau McCaulleys jüngstes Buch «Reading While Black» lenkt die Aufmerksamkeit auf die emotionalen Dimensionen des Rassismus – von Wut bis Hoffnung –, die in den Worten der Bibel zum Ausdruck kommen. Der afroamerikanische Theologe schreibt: «Ich argumentiere, dass Israels Schmerz und Zorn, wie sie in den Propheten und im Psalter aufgezeichnet sind, einen Weg zur Verarbeitung schwarzer Trauer bieten. […] Das Kreuz markiert das Ende des Kreislaufs von Rache und Tod, und es ist ein Ort, an dem Gott in unseren Schmerz eintritt.»

In ihrem kürzlich erschienenen Buch betont Barbara Meyer, dass es nicht allein darauf ankommt, dass Jesus als Jude geboren wurde, sondern dass er ein jüdisches Leben führte. Die Dozentin an der Universität Tel Aviv schliesst daraus, dass Jesus in die kalendarischen und kulturellen Rhythmen des Judentums eingebunden war, in die Art und Weise, wie die Halacha das Leben eines jüdischen Mannes strukturiert. Jesus lebte ein jüdisches Leben, und gerade diese im Judentum verankerte Lebensspanne ist für Meyer der entscheidende Punkt. Denn sie holt Jesus aus der Vergangenheit heraus und stellt ihn in Kontinuität mit dem Judentum der Gegenwart.

Für viele Christen ist Jesus heute weniger eine zu verehrende Figur als vielmehr eine Gestalt, die es darzustellen gilt und die inspiriert: Er ist der Leidende und Befreiende. Schwarze Theologen sowie jüdische Denker und Künstler verleihen über Jesus historischen, politischen und religiösen Erfahrungen Ausdruck. Die Identifizierung Jesus’ als frommen Juden und nicht als Gründer des Christentums weckte das jüdische Interesse an Jesus als Symbol des Judentums und der jüdischen Erfahrung. Chagall machte die Kreuzigung zum Symbol für das jüdische Leid in Pogromen und der Schoah, den von Christen im Namen Christi verübten Gräueltaten.

Leid als Merkmal
Heute hat sich die Symbolik erneut gewandelt. Dem Zorn auf Israel während des Gaza-Kriegs unter Studenten und Intellektuellen der Linken liegt unabhängig von religiösen oder auch atheistischen Überzeugungen ein wiederauflebender Christusmythos zugrunde. Die besondere Leidenschaft für Gaza ungeachtet zahlreicher entsetzlicher Beispiele von Krieg und Leid weltweit beinhaltet eine implizite Gleichsetzung von Gaza mit Christus am Kreuz. Für diese leidenschaftlichen Protestierenden hat Gaza, wie die Kreuzigung, eine doppelte Bedeutung: Wie Jesus verkörpert Gaza das grösstmögliche Leid, die Passion Christi. Und diejenigen, die sich mit diesem Leid identifizieren, erheben sich zu christusähnlichen Gestalten. So wie Christus am Kreuz die Sünden der Menschen sühnt, machen sich diejenigen, die sich mit Gaza identifizieren, zu den höchsten moralischen Autoritäten der Gesellschaft, absolut sicher, dass die Hamas keine Verantwortung für den Krieg trägt und dass Israel so für die Morde und Gräueltaten des 7. Oktober verantwortlich ist, wie die Juden zweitausend Jahre lang für die Kreuzigung verantwortlich gemacht worden sind.

Susannah Heschel lehrt als Eli M. Black Distinguished Professor am Dartmouth College Jüdische Studien und hat sich in viel beachteten Publikationen mit der Gestalt Jesus’ auseinandergesetzt. Dazu zählen «Der jüdische Jesus und das Christentum: Abraham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie» und «The Aryan Jesus: Christian Theologians and the Bible in Nazi Germany». Darüber hinaus hat Heschel «Jüdischer Islam. Islam und jüdisch-deutsche Selbstbestimmung» sowie «The Woman Question in Jewish Studies» (mit Sarah Imhoff) vorgelegt.

Susannah Heschel