Durch die Staatsgründung Israels im Mai 1948 veränderte sich die Beziehung zwischen Juden inner- und ausserhalb Israels grundlegend. Zum ersten Mal können Jüdinnen und Juden souverän politisch handeln, Macht ausüben und müssen gleichzeitig für die Handlungen und Unterlassungen ihres Staates Verantwortung übernehmen. Das Dilemma in der Realität.
Ich möchte diesen Essay mit einer autobiographischen Notiz beginnen. Seit 1974 lebe ich nicht mehr in Deutschland. Ich habe einen anderen jüdischen Weg eingeschlagen, den der jüdischen Selbstbestimmung, auch Zionismus genannt. Ich wollte kein Jude in der Diaspora, sondern ein souveräner jüdisch-israelischer Staatsbürger sein. Der Staat Israel existiert und Zionismus ist nicht mehr nur Idee, sondern gelebte Praxis. Ich verstehe nur allzu gut, universell, europäisch, progressiv, inkludierend zu denken und zu fühlen. Diese Versuchung ist mir nicht fremd. Gleichzeitig verstehe ich auch allzu gut, die Welt partikular und jüdisch zu betrachten. Auch diese Versuchung ist mir nicht fremd. Als Jude muss ich mir bewusst sein, dass eine Welt ohne einen jüdischen Staat sehr wahrscheinlich zu einer Katastrophe für alle jüdischen Menschen führt. Seit Menschengedenken waren wir Juden einem Völkermord ausgesetzt, der uns vom Antlitz der Erde tilgen sollte. Die meisten Juden, die nach Israel kamen, kamen nicht als Siedler, sondern als Vertriebene und Flüchtlinge, da kein anderes Land der Welt sie aufnehmen wollte. Antisemitismus ist real und er ist tödlich. Da ich von der Überzeugung ausgehe, dass eine jüdische Heimat eine Voraussetzung für das Überleben der Juden ist, und da es klar ist, dass Hamas, Hisbollah und der Iran nicht ruhen werden, bis Israel zerstört und vernichtet ist, fällt es mir schwer, Israel das Recht abzusprechen, sich selbst zu verteidigen.
Die Verantwortung der Souveränität
Und trotzdem gibt es einen Unterschied zwischen dem Jüdischen und dem Israelischen. Jüdisches Denken in der Diaspora braucht sich nicht mit Fragen der militärischen Gewaltausübung auseinanderzusetzen, was bis in die heutige Zeit den grossen Unterschied zwischen Juden in Israel und Juden in der Diaspora ausmacht. In Israel entwickelte sich ein Judentum, das vor allem mit Souveränität, Territorium und Macht verknüpft ist. Dieses israelische Judentum grenzt sich ab, ja muss sich abgrenzen von einem Judentum in der Diaspora, das entweder aus der Machtlosigkeit heraus eine universale Ethik entwickelt oder sich gerade heute als Teil der israelischen Gemeinschaft ausserhalb Israels betrachtet. Der Staat Israel steht für die aktive, wehrhafte Haltung von Juden und Jüdinnen. Souveräne israelische Juden greifen nun aktiv in die Geschichte ein und vertrauen auf sich und nicht auf Gott oder den Messias. Dazu gehört auch Gewaltanwendung, wenn das jüdische Kollektiv sich verteidigen muss. Als souveräne Israeli sind wir als konkrete Menschen an unser konkretes Dasein mit konkreter Verantwortung gebunden. Souveränität bedeutet zudem, dass wir als israelische Staatsbürger und Staatsbürgerinnen die Folgen tragen müssen für die Handlungen oder Unterlassungen des Staates, dessen Bürger wir sind. Das heisst ebenso, dass wir als israelische Staatsbürger und Staatsbürgerinnen für den Krieg in Gaza und im Libanon politische Verantwortung tragen. Zu dieser Verantwortung gehört auch zu verstehen, dass ein souveräner Staat natürlich das Recht hat, sich zu verteidigen, aber nicht das Recht, Kriegsverbrechen zu begehen. An der Souveränität haftet die Verantwortung für diese von uns Israeli begangenen Verbrechen.
Der Souveränität inhärent ist aber ebenfalls unsere Verantwortung als israelische Staatsbürger und Staatsbürgerinnen, die von der Hamas verschleppten Geiseln zurück nach Hause zu bringen. Das ist die vordringlichste Verantwortung und Aufgabe des israelischen Staates und all seiner Bürger und Bürgerinnen. Unser Leben wird nicht zur Ruhe kommen, solange die noch verbliebenen Geiseln in Gaza nicht gerettet sind. Hier trifft das jüdische Gebot der «Auslösung Gefangener» auf die israelische politische Pflicht, es zu tun. Die Verantwortung, dass das nicht geschieht, liegt nicht nur bei der Hamas, sondern bei der jetzigen rechtsreligiösen Regierung in Israel, die sich dieser Verantwortung entziehen will.
Zwischen Schuld und Unschuld
Der Übergang vom Juden zum Israeli beinhaltet in sich die historische Herausforderung des Zionismus, die darin besteht, dass die «Normalität» politischen Handelns auch Machtausübung enthält. Dabei geht es um politische Bewegungsfreiheit, die sich verfolgte Minderheiten wie Juden und Jüdinnen in der Diaspora oft nicht leisten können. Souverän sein soll eigentlich heissen, heroisch und frei handeln zu können. Es geht darum, die Konsequenzen des eigenen politischen Handelns miteinzubeziehen, es geht um Verantwortung für das eigene Leben und für die Sicherheit und Existenz der eigenen Gruppe. Das bedeutet auch, sich vom Diasporajudentum zu trennen und die Bedeutung der zionistischen Revolution auch so zu verstehen, dass wir Israeli aus der jüdischen Geschichte ausbrechen und souveräne Mitglieder der Völkerfamilie werden. Das ist die Bedeutung des zionistischen Glaubens an die «Negation der Diaspora». Dazu gehört, die politischen Kapazitäten des Staates von den mächtigen religiösen und historischen Kräften der jüdischen Volkszugehörigkeit unterscheiden zu können, obwohl gerade am 7. Oktober 2023 diese Unterscheidung in sich zusammenfiel.
«Ebenso unmenschlich wie diese Schuld ist die Unschuld der Opfer. So unschuldig wie alle miteinander vor dem Gasofen…so unschuldig sind Menschen überhaupt nicht. Mit einer Schuld, die jenseits des Verbrechens steht, und einer Unschuld, die jenseits der Güte oder der Tugend liegt, kann man menschlich-politisch überhaupt nichts anfangen. Dies ist der Abgrund, der sich vor uns schon 1933…und in den wir nun schliesslich hineingeraten sind. Wie wir aus ihm wieder herauskommen sollen, weiss ich nicht. Denn die Deutschen sind dabei mit Tausenden oder Zehntausenden oder Hunderttausenden belastet, die innerhalb eines Rechtssystems adäquat nicht mehr zu bestrafen sind; und wir Juden sind mit Millionen Unschuldiger belastet, auf Grund derer sich heute jeder Jude gleichsam wie die personifizierte Unschuld vorkommt.»
Die Schuldfrage
Das Datum ist der 17. August 1946, ein Brief von Hannah Arendt aus New York an ihren Freund und Doktorvater Karl Jaspers in Heidelberg. Sie schreiben sich über politische Schuld und Verantwortung anlässlich der Nürnberger Prozesse und Jaspers Vorlesung «Die Schuldfrage» in Heidelberg. Das war der unmittelbare Anlass der Korrespondenz zwischen Arendt und Jaspers in dieser Zeit. Es ging ihnen beiden um Fragen der individuellen Schuld und der kollektiven Verantwortung, welche ein Volk für die Taten seines Staates trägt. Und es geht um die «Unschuld» der Opfer, die den Tätern ausgeliefert waren, weil niemand sie beschützen konnte und wollte.
21 Monate nach diesem Brief wurde im Mai 1948 der Staat Israel gegründet und damit die Beziehung zwischen Juden in und ausserhalb Israels grundlegend verändert. Die Souveränität wurde erreicht, und damit verloren am 15. Mai 1948 gerade mit dieser Souveränität die Juden und Jüdinnen in Israel ihre Unschuld. Sicher benimmt sich die jetzige israelische Regierung noch, als müsste diese Souveränität noch erreicht werden. Sie sperrt sich gegen endgültige Grenzen im Westjordanland, führt einen Rachefeldzug in Gaza und will sich auch dort über bestehende Grenzen hinwegsetzen.
1948 ist auch das Jahr, in dem der Jüdische Weltkongress einen Beschluss verabschiedete, «sich niemals auf dem blutbefleckten Boden Deutschlands niederzulassen.» Zwei Jahre später, 1950, wird in Frankfurt der Zentralrat der Juden in Deutschland gegründet. Die meisten dieser Juden kommen aus Osteuropa, wo sie den Holocaust überlebten. Nun leben sie in Deutschland in sogenannten «Displaced Persons Camps». Deutsche Juden gibt es nur wenige. Sie werden dann auch umgehend in die Pflicht genommen, zu Symbolen der Versöhnung und eines neuen Deutschlands zu werden. Damit bleibt ihnen ihre «Unschuld» erhalten, während jüdische Israeli mit der Waffe in der Hand um ihre Souveränität kämpfen.
Verantwortung vor einander und vor Gott
Für gläubige Juden und Jüdinnen öffnet sich damit auch ein Abgrund, der nicht mehr zu schliessen ist. Das wird gerade am heiligsten jüdischen Feiertag klar. Juden und Jüdinnen, die am Jom Kippur, am Versöhnungstag, vor Gott stehen, gehen nicht davon aus, dass sie unschuldig sind. Ganz im Gegenteil, am Versöhnungstag bekennen Juden und Jüdinnen sich zu einer schonungslosen und bedingungslosen Aussage: «Wir haben gesündigt, wir haben gefrevelt, wir haben böse gehandelt, wir haben Gräuel begangen.» Das wird gemeinsam in der Synagoge gesungen. Dabei geht es nicht um juristische Anschuldigungen. Es geht am Jom Kippur um etwas Tieferes als um die Auferlegung von Schuld. Es geht um Verantwortung. Es geht um die eigene Prüfung zwischen den Menschen und vor Gott. Es ist eine interne, intensive und ehrliche Buchhaltung. Die Erkenntnisse über unsere eigene Verantwortung legen wir Gott mit Glauben, Demut und Hoffnung vor. Diese Gebete sind auch Klagelieder. Dabei sind wir uns als Juden auch bewusst, dass ein grundlegender und wesentlicher Unterschied besteht zwischen dem säkularen Recht, das sich mit Schuld und Unschuld befasst, und dem traditionellen jüdischen Recht, das sich mit der Verantwortung unabhängig von Schuld befasst. Wir sprechen in der ersten Person Plural («Wir haben gesündigt»), denn nicht der Einzelne ist verantwortlich, sondern das «Wir» als Teil eines Kollektivs. Der Abgrund zwischen dem jüdisch-theologischen und dem universellen Rechtssystem geht uns Juden und Jüdinnen buchstäblich unter die Haut. Im Judentum bedeutet Rückkehr eine Rückkehr zu Gott, zum Glauben, zum Volk Israel, aber auch zu Busse und Versöhnung. Diese sakralen Formen der Rückkehr fliessen an diesem Tag, dem Jom Kippur, zusammen. Die Hoffnung der Erlösung liegt im Gebet selbst. Damit brach der Zionismus, ja musste damit brechen, um einen souveränen Staat gründen zu können. Das ist der israelische Bruch mit dem Judentum, der sich gerade mit der letzten rechtspopulistischen Regierung immer mehr verschärft, auch gerade deshalb, weil die religiösen und orthodoxen Parteien in dieser Regierungskoalition sind.
Würde und Bürde zugleich
Es sind aber gerade diese jüdischen Grundlagen, die die jetzige israelische Regierung im Stich lässt, so wie sie auch die Geiseln im Stich lässt. Aber es muss nicht so sein. Die Souveränität Israels setzt politisches Handeln als die Möglichkeit voraus, Macht auszuüben. Dazu gehören auch politisches Handwerk, politischer Mut und politische Verantwortung. Souverän sein heisst auch, heroisch und frei handeln zu können. Das schliesst den kreativen Umgang mit Freund und Feind als politische Begriffe mit ein. Das ist Juden und Jüdinnen in der Diaspora nicht möglich. Zu sehr sind sie noch eine Minderheit, die um ihre Emanzipation und Gleichheit kämpft. In Israel ist das Judentum keine raumlose Religion mehr, sondern symbolisiert ein Volk mit einem Land und Raum, das politisch handeln kann und muss. Juden in Israel besitzen politische Freiheit, die das Diasporajudentum für sich nicht beanspruchen kann und daher oft auf nationale und internationale Schutzmassnahmen setzte. Diasporajuden müssen beginnen zu verstehen, dass Israel sich zu einem autoritären Nahoststaat entwickelt, der mit ihren jüdischen Empfindlichkeiten nichts mehr zu tun haben will, obwohl er sich darauf beruft. Juden in der Diaspora sollten sich auch daran erinnern, dass Jude sein bedeutet, auserwählt zu sein – wobei nicht Gott die Juden auserwählte, sondern umgekehrt: Abraham wählte Gott. Jude sein bedeute in erster Linie, «anders» zu sein. Es ist Würde und Bürde zugleich.
Natan Sznaider ist Soziologe und Publizist. Er lebt in Tel Aviv.