Das Christentum im deutsch-jüdischen Denken von den Rabbiner-Gelehrten im Zeitalter Hegels bis Hannah Arendt.
G.W.F. Hegels Sicht auf das Judentum war komplex, aber im Kern nicht positiv. In seiner Schrift «Vom Geist des Christentums und seinem Schicksal» (1799) charakterisiert er den «Geist des Judentums» als vor allem «sklavisch». Das mosaische Gesetz sei entsprechend den geistigen Grenzen des jüdischen Volkes geformt: Da dieses «Vernunft und Freiheit» nicht ausüben könne, verlange sein Gesetz nur blinden Gehorsam, untermauert durch «den Schrecken physischer Gewalt». Hegels Argumentation knüpfte an die altbekannte Vorstellung nach Paulus an, die der Unreife des jüdischen Gesetzes die Fülle des christlichen Glaubens gegenüberstellte. Dennoch war die Kraft der Hegelschen Ideen für die deutsch-jüdischen Intellektuellen des Vormärz unwiderstehlich. Die Gelehrten des kurzlebigen «Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden», der 1819 in Berlin gegründet und von dem bedeutenden Hegel-Schüler Eduard Gans geleitet wurde, suchten dem Judentum innerhalb des umfassenderen Rahmens eines integrierten philosophischen Verständnisses der Menschheitsgeschichte im Sinne Hegels eine würdevollere Stellung zu verleihen.
Verständnis des Geistes
In den 1840er Jahren trieb die erste Generation von Rabbiner-Gelehrten der deutschen Reformbewegung diese Agenda mit Nachdruck voran. Indem sie dem Judentum eine betont positive Verbindung mit dem zentralen Hegelschen Begriff des «Geistes» zuschrieben, formulierten diese Rabbiner auch neue Deutungen des Verhältnisses zwischen Judentum und Christentum. Wegweisend in dieser Tradition war Salomon Formstecher (1808–1889), der langjährige Rabbiner von Offenbach am Main. In seinem Werk «Von der Religion des Geistes» (1841) argumentierte Formstecher, das Judentum sei die Religion des sich seiner selbst bewusst werdenden Geistes.
Während Hegel argumentiert hatte, das ursprüngliche jüdische Verständnis des Geistes könne allein durch das Christentum in der Geschichte fortentwickelt werden, sah Formstecher Judentum und Christentum sowie den Islam als verbündete Religionen im Kampf gegen den heidnischen Götzendienst. Im Judentum sei jedoch das reinste Verständnis des Geistes bewahrt worden. Während das innere Leben des Judentums die Reinheit dieser spirituellen Wahrheit schützte, standen Christentum und Islam als «die nordische und die südliche Mission des Judentums unter der heidnischen Menschheit» an vorderster Front dieser spirituellen Verbreitung. Formstecher positionierte das Judentum somit im Hegelschen Geschichtsverständnis neu und präsentierte die ältere Religion nicht als überholte Vorstufe des Christentums, sondern als dessen spirituellen Motor.
Einflussreichste Rabbiner
Ein Jahr später legte sein Kollege Samuel Hirsch (1815–1889) in seinem Werk «Die Religionsphilosophie der Juden» (1842) ein ähnliches Argument vor. (Hirsch, der bald darauf zum Oberrabbiner des Herzogtums Luxemburg ernannt wurde, nahm 1866 eine Stelle in Philadelphia an und gilt heute als einer der einflussreichsten Rabbiner des amerikanischen Reformjudentums.) Sowohl Judentum als auch Christentum, so argumentierte Hirsch hier in neuhegelianischen Begriffen, seien «aktive» Religionen, im Gegensatz zur «Passivität» des Heidentums.
Der bedeutendste Reformrabbiner der nächsten Generation, Abraham Geiger (1810–1874), war besonders für seine intensive Auseinandersetzung mit dem Christentum bekannt. In dieser Epoche löste «Das Leben Jesu» (1835) von David Friedrich Strauss (1808–1874), das die biblische Jesusgeschichte historisch-skeptisch betrachtete und seine Wunder als Mythen interpretierte, in der christlichen Welt immense Kontroversen aus. Strauss erschütterte zudem die herkömmliche Auffassung des Verhältnisses zwischen Christentum und Judentum: Sein im Wesentlichen nicht-historischer, spiritualisierter Zugang zum Neuen Testament distanzierte Jesus vom jüdischen Kontext seines Lebens. Geiger hielt Strauss’ Darstellung Jesu für zutiefst fehlerhaft, wurde aber dennoch von ihm inspiriert, einen ähnlich quellenkritischen Ansatz zu dieser Geschichte aus jüdischer Perspektive zu entwickeln.
Christlicher Messias
Indem er Strauss’ Methoden der Textanalyse mit dessen Schlussfolgerungen verglich, argumentierte Geiger, Jesus sei ein jüdischer Pharisäer gewesen. Als solcher habe er Ideen gepredigt, die ganz typisch für sein jüdisches Milieu im Palästina des ersten Jahrhunderts waren. In seinem viel gelesenen Werk «Das Judenthum und seine Geschichte» (1865) setzte sich Geiger intensiv mit der zeitgenössischen christlichen Forschung auseinander. Er wandte sich nicht nur gegen Strauss, der im Vorjahr eine überarbeitete Fassung seines Textes veröffentlicht hatte, sondern auch gegen den führenden französischen Intellektuellen Ernest Renan (1823–1892). Dessen Bestseller «Das Leben Jesu» (1863) zeichnete den christlichen Messias als wegweisenden spirituellen Visionär, dessen Lehren im deutlichen Gegensatz zur dogmatischen Strenge des Judentums standen. Geigers Werk wurde als jüdische Umkehrung der vorherrschenden Deutungshoheit interpretiert und nahm postkoloniale Herausforderungen an andere Formen christlicher und europäischer intellektueller Hegemonie vorweg. Indem er auf der jüdischen Identität Jesus’ beharrte, wollte Geiger jedoch nicht gegen das Christentum angehen, sondern vielmehr die enge Verbindung zwischen den beiden Religionen erneuern und die Wurzeln ihrer seiner Ansicht nach eng verbundenen Rolle in der Menschheitsgeschichte erforschen.
Geigers historische Neubewertung Jesus’ war nur ein kleiner Teil des Stoffs, den er in dieser historischen Abhandlung untersucht hat. Das Werk bot einen umfassenden und detaillierten Überblick über die gesamte jüdische Vergangenheit. Obwohl Geigers Interpretation der jüdischen Geschichte detailreicher als jene Formstechers war und frei von dessen hochtrabender hegelianischer Rhetorik, spiegelte sie die Kernperspektiven dieser deutschen Reformtradition wider. Geiger stellte zudem die spirituelle und moralische Reinheit des Judentums der Grobheit des Heidentums gegenüber. Dabei zitierte er zustimmend Jehuda Halevis Analogie zwischen dem Verhältnis der Juden zu anderen Völkern und dem des Herzens gegenüber den anderen Körperorganen. Geiger bezeichnete das Judentum als eine «Religion der Wahrheit» und seine Offenbarung als belebenden Geist für alle Völker. Seine Botschaft sei universell.
Für alle Menschen
Und doch bedurfte es einer besonderen, dem Glauben eng verbundenen Nation mit einem ausgeprägten «religiösen Genie», um sie der Welt zu vermitteln. Gleichzeitig betonte Geiger immer wieder, der Zweck des Judentums sei umfassend und für alle Menschen bestimmt: Es sei nicht nur entstanden, um ein neues Gottesverständnis hervorzubringen, sondern «alle menschlichen Beziehungen zu verwandeln und zu veredeln». In seinem historischen Werk beschrieb Geiger, wie sich Juden energisch mit ihrer Umgebung auseinandergesetzt, die besten Eigenschaften benachbarter Kulturen wie der griechischen aufgenommen und ihrerseits die Grundzüge nicht nur des Christentums, sondern auch des Islams inspiriert hätten.
Geigers Argumente vermittelten den bürgerlichen deutschen Juden des späten 19. Jahrhunderts, deren Leben zunehmend eng mit dem der Christen verflochten war, ein angemessen stolzes und positives Verständnis der Beziehungen zwischen Judentum und Christentum. Diese Perspektive wurde in Grossbritannien weiterentwickelt, wo die Integration aufstrebender Juden in die nichtjüdische Gesellschaft im späten viktorianischen Zeitalter besonders ausgeprägt war. Um der weit verbreiteten religiösen Unzufriedenheit innerhalb der etablierten jüdischen Gemeinde entgegenzuwirken, gründeten Claude Montefiore (1858–1938) und Lily Montagu (1873–1963) um die Jahrhundertwende die «Jewish Religious Union», aus der 1909 das Liberale Judentum hervorging.
Liberales Judentum
Montefiori konnte ein Oxford-Studium nur sieben Jahre nach der Gleichstellung von Angehörigen anderer Religionen als dem anglikanischen Christentum an englischen Universitäten durch den «University Tests Act» von 1871 aufnehmen. Er entwickelte ein starkes Interesse am Christentum und an einem konstruktiven Dialog mit Christen. Wie Geiger interpretierte er Jesus im jüdischen Kontext. Jesus, so argumentierte Montefiore, stand fest in der jüdischen prophetischen Tradition und verkündete eine Botschaft, die vom moralischen Wesen des Judentums durchdrungen war. Er erkannte jedoch eine bemerkenswerte Eigenart im Stil der Lehren Jesus’ und in dessen Betonung der Erlösung aller Sünder an. Für Montefiori könnten und sollten Juden wie Christen voneinander lernen – dennoch gab es für ihn keinen Widerspruch zwischen dem «Geist des Evangeliums» und der Ausübung des liberalen Judentums.
Derweil war das Denken Franz Rosenzweigs (1886–1929) in Deutschland ebenfalls von einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Christentum geprägt. Nahe Verwandte und Freunde des jungen Rosenzweig waren zum Protestantismus konvertiert. 1913 stand er selbst kurz davor. Seine Erfahrungen im Ersten Weltkrieg trieben ihn zu einer Suche nach einem möglichst klaren Verständnis des inneren Sinns des Judentums und seiner Bedeutung in der Welt. In seinem schwer zugänglichen, aber äusserst einflussreichen Werk «Der Stern der Erlösung» (1921) legte Rosenzweig auch seine differenzierte Konzeption des Verhältnisses zwischen Judentum und Christentum dar. Wie Formstecher, Geiger und Montefiore sah er die beiden Religionen als wesentlich verschieden, aber gleichzeitig tiefgreifend komplementär an.
Religiöses Bewusstsein
Rosenzweig beschrieb die Juden wiederholt als «wartend». Abseits weltlicher Angelegenheiten konzentriert sich die Intensität ihres religiösen Bewusstseins auf die Ewigkeit der Erlösung, deren Erwartung im jährlichen Zyklus des jüdischen Lebens mit ihrem Höhepunkt an Jom Kippur verankert ist (dessen liturgische Struktur sich in der Struktur von Rosenzweigs «Stern» widerspiegelt). Während das Judentum in einer ewigen Sphäre verweilt und beständig auf den Messias wartet, erfüllt das Christentum eine komplementäre Rolle in der Geschichte, indem es aktiv religiöse Wahrheit verbreitet. Rosenzweig stellte die nach innen gerichtete und zeitlose Ausrichtung des Judentums der nach aussen und historisch orientierten Perspektive des Christentums gegenüber: Das Judentum ist das «Feuer», das Christentum die «Strahlen»; das Christentum wurzelt im historischen Glauben an Jesus, während das Judentum auf einem ewigen Gefühl messianischer Hoffnung basiert. Rosenzweigs Vorstellung von der Komplementarität von Judentum und Christentum wurde für ihren ökumenischen Ansatz gelobt. Seine im Vergleich dazu oberflächliche und leichtfertige Auseinandersetzung mit dem Islam stiess dagegen auf breite Kritik.
Hass auf Juden
Ungeachtet seines Respekts vor dem Christentum ist es wichtig festzuhalten, dass nach Rosenzweigs Ansicht allein die Juden eine unmittelbare Vertrautheit mit der Erlösung besitzen. Die Existenz der Juden mit ihrem Bewusstsein der Ewigkeit und der göttlichen Auserwähltheit erinnert die Christen daran, was ihnen fehlt und dass sie sich nur «auf dem Weg» befinden. Dies, so schreibt er, «ist der tiefste Grund für den christlichen Hass auf die Juden». Obwohl beide Religionen gemeinsam auf eine messianische und universalistische Zukunft verweisen, sei ihre Beziehung in der Gegenwart zwangsläufig von Spannungen und Konflikten geprägt.
Der jüdische Glaube an die Komplementarität von Judentum und Christentum wurde durch den Holocaust tiefgreifend erschüttert. Eine subtile Andeutung der Wiederherstellung dieses Gedankens – oder vielleicht eher ein Aufflackern – findet sich in Hannah Arendts wichtiger Arbeit «The Human Condition» (dt.: «Vita activa oder Vom tätigen Leben») von 1958. Arendt argumentierte hier, dass Politik im menschlichen Handeln – der «vita activa» – wurzeln und grundlegend auf die Vielfalt menschlicher Existenz eingehen müsse: die Tatsache, dass keine zwei Individuen jemals identisch sind. Sie verknüpft diese Argumentation mit ihrem Schlüsselbegriff der «Natalität»: dem Neubeginn, den die Geburt ermöglicht. Sie beschreibt dies als «das Wunder, das die Welt rettet», da es der menschlichen Existenz ihre zwei wesentlichen Merkmale – Glaube und Hoffnung – sowie die unerschöpfliche Vielfalt menschlicher Leben verleiht.
Wunder der Geburt
Arendts Betonung des Wunders der Geburt spiegelte in der politisch gelähmten Stimmung der 1950er Jahre auch ihre hoffnungsvolle Vision einer Erneuerung nach dem Holocaust wider. Ihr Bezug auf die Natalität als Wunder verleiht Arendts ansonsten dezidiert säkularer Philosophie beinahe einen Hauch von Messianismus. In «Vita activa oder Vom tätigen Leben» erwähnt sie das Judentum nur am Rande, verbindet Natalität jedoch ausdrücklich mit dem Christentum: Der prägnanteste und erhabenste Ausdruck von Glaube und Hoffnung sei die Verkündigung der Evangelien gewesen: «Uns ist ein Kind geboren». Aus Arendts säkular-jüdischer Perspektive ist dieser Messianismus der Vergangenheit jedoch allein schon deshalb bedeutsam, weil er ein kraftvolles, aus dem Judentum hervorgegangenes Beispiel für einen Geist der Hoffnung darstellt, der in der Gegenwart fortwirkt und in die Zukunft blickt. In ihrem pluralistischen Verständnis von Natalität ist diese Kraft in der gesamten Menschheit verbreitet und in jedem neuen Leben gegenwärtig. Auf diese ganz eigene Weise hat Arendt die moderne deutsch-jüdische Tradition der Verknüpfung der historischen Bedeutungen von Judentum und Christentum in säkularen und universalen Begriffen neu gestaltet.
Adam Sutcliffe ist Professor für Europäische Geschichte am King’s College London. Zuletzt veröffentlichte er das Buch «What Are Jews For? History, Peoplehood, and Purpose» (Princeton University Press, 2020).