Juden und israel 30. Mai 2025

Eine klärende Erfahrung

Der 7. Oktober 2023 spaltet die jüngeren Juden in England und ordnet ihr Verhältnis zum Zionismus neu ein.

Das Verhältnis britischer Juden zu Israel bleibt von der imperialen Geschichte der Nation geprägt. Doch das brutale Vorgehen Israels in Gaza nach dem 7. Oktober 2023 löst zumindest bei jungen Mitgliedern der Gemeinschaft einen Bruch mit dem Zionismus aus.

Am 16. April publizierte die «Financial Times» einen Brief von 36 Mitgliedern des Deputiertenausschuss britischer Juden (BoD), der von der Regierung als Vertretung der jüdischen Gemeinde anerkannten Organisation. Darin kritisieren sie den Krieg der israelischen Regierung gegen die Hamas im Gazastreifen und erklären, sie könnten nach der neuen Offensive der IDF angesichts der zusätzlichen Verluste von Menschenleben und der Zerstörung von Existenzgrundlagen in Gaza «nicht wegsehen oder schweigen». Die Delegierten verurteilen zudem die israelische Gewalt gegen Palästinenser im besetzten Westjordanland und warnen, dass «dieser Extremismus auch die israelische Demokratie ins Visier nimmt (…) Israels Seele wird herausgerissen, und wir (…) fürchten um die Zukunft des Israels, das wir lieben und dem wir so eng verbunden sind.» Die Delegierten fügen hinzu: «Schweigen wird als Unterstützung für Politik und Handlungen gewertet, die unseren jüdischen Werten zuwiderlaufen.»

Dieser erste öffentliche Protest von Mitgliedern der Gemeindevertretung gegen das Vorgehen Israels in Gaza erscheint zurückhaltend. Schliesslich erkennt der Internationale Gerichtshof glaubwürdige Gründe, Israel einen Völkermord an den Palästinensern vorzuwerfen. Dennoch halten die Delegierten die «Liebe zu Israel» als einen zentralen Wert hoch, auch wenn das Land von «dieser extremistischsten aller israelischen Regierungen» geführt wird.

Gleichwohl ist der liberale Rabbiner Gabriel Kanter-Webber nicht überrascht, dass der rechte Flügel der jüdischen Gemeinde die «Rebellen» mit Verachtung überschüttet und gar eine «von Nebukadnezar her vertraute Wut und Raserei» gegen sie an den Tag legt. Kanter-Webber ist ein ehemaliges Mitglied des BoD-Exekutivkomitees. Die aktuelle BoD-Führung distanzierte sich formell von dem Brief. Einige Mitglieder gingen direkt zum Angriff über und denunzierten die Verfasser als Verräter, Selbsthasser und «fünfte Kolonne».

Gespaltene Meinungen
Der BoD war schon immer eine konservative Organisation. Ein markantes Beispiel dafür war eine zögerliche Haltung bei der offiziellen Unterstützung des Zionismus. Auch andere Institutionen des britischen Judentums fanden erst spät Gefallen an der Idee. Die Tatsache, dass Grossbritannien ein zentraler Standort der zionistischen Weltbewegung war und mit der Balfour-Deklaration vom November 1917 offiziell zur wichtigsten zionistischen Weltmacht wurde, liess die Position des Ausschusses widersprüchlich erscheinen. Das Gremium hat den Zionismus erst 1939 offiziell akzeptiert, aber nach der Staatsgründung konsequent jede Regierung Israels anerkannt und unterstützt.

Der wichtigste Dachverband der jüdischen Nationalbewegung in Grossbritannien war die Zionistische Föderation (ZF). Diese spiegelte die Parteienlandschaft Israels wider und führte lebhafte Debatten über die politische Ausrichtung des neuen Staates. Doch mit der wirtschaftlichen und militärischen Entwicklung Israels verlor die Diskussion über die Zukunft des Landes in den zionistischen Diaspora-Organisationen zunehmend an Bedeutung. Damit ging die Bedeutung des ZF in Grossbritannien zurück. Als neue politische Herausforderungen wie das Wachstum des palästinensischen Widerstands nach dem Krieg von 1967 aufkamen, gewann die Vertretung der Anliegen Israels gegenüber der britischen Regierung zunehmend an Bedeutung. Diese Rolle wurde vom BoD übernommen und wird bis heute von ihm ausgefüllt. Dazu wurden aber neue Gremien in dieser Arena aktiv, die frei von demokratischen Kontrollen oder einer von der jüdischen Gemeinschaft insgesamt legitimierten Leitung agieren. So können das Jewish Leadership Council und das Britain Israel Communications and Research Centre nun als wichtigste Akteure auf diesem Feld gelten.

Offiziell hat der BoD heute mit 350 Abgeordneten Israels Aktionen bedingungslos unterstützt und den Vorwurf bekräftigt, dass pro-palästinensische Märsche in London antisemitisch gewesen seien. Dabei hat das Gremium diesen Vorwurf auch ohne Zögern auf die bedeutende Zahl pro-palästinensischer und jüdischer Organisationen und einzelner Juden übertragen, die nichts anderes tun als ihrem Gewissen zu folgen. Die abweichenden Abgeordneten hätten sich diesen Demonstrationen wohl nicht einmal genähert. Und doch liegt auf der Hand, dass ein Grossteil der jüdischen Kritik an ihnen von der Befürchtung getrieben war, ihr Vorgehen trage zu einem im Vereinigten Königreich angeblich grassierenden Antisemitismus bei. Aber es gibt auch Stimmen, die derartige Aussagen für übertrieben halten und als Panikmache betrachten.

Der Präsident des BoD, Phil Rosenberg, sah seine vordringlichste Aufgabe indes darin, die eigenen Reihen zu schliessen und «Einheit» zu demonstrieren. Er erklärte, das Gremium nehme mutmassliche Verstösse gegen den Verhaltenskodex sehr ernst: «Der Rat der Abgeordneten stellt klar: Nur unsere demokratisch gewählten Ehrenamtlichen und autorisierten Mitarbeiter sprechen im Namen der Organisation.» Angesichts zahlreicher Beschwerden aus den Gemeinden, die von den 36 Persönlichkeiten vertreten werden, kündigte er die Suspendierung eines der stellvertretenden Vorsitzenden an und leitete eine Untersuchung gegen die Unterzeichner des Briefes ein. Dass die 36 Mitglieder mit keiner Silbe behauptet hatten, im Namen des Rates zu sprechen, ist für Rosenberg anscheinend ohne Belang. So viel zur Meinungsfreiheit.

Das Zwiespältige Erbe Grossbritanniens
Bei früheren Exzessen des israelischen Militärs konnte Widerspruch gegen die Haltung etablierter jüdischer Organisationen meist als marginal und daher als geringe Bedrohung für die Beziehungen zwischen Israel und der britischen Diaspora abgetan werden. Doch nun lässt die beispiellos hitzige Debatte über die Brutalität Israels unter Juden weltweit – also über eine Befürwortung oder Ablehnung des Krieges – den Brief und die Reaktionen darauf als Herausforderung nicht nur an den Zionismus, sondern auch das Judentum selbst erscheinen.

Obwohl die Ansichten der britisch-jüdischen Gemeinde und der britischen Regierung für die Entscheidungen der israelischen Regierung eine marginale Rolle spielen, ist es doch gar nicht so lange her, dass beide zentral für die Entwicklung des jüdischen Staates waren. Grossbritannien hinterliess als Mandatsmacht Palästinas ein zwiespältiges Erbe und begünstigte mit seinen Entscheidungen letztlich die zionistische Sache. Die zionistisch geprägte jüdische Gemeinde, die sich als Hüterin des Balfour-Versprechens sah und führend in der Lobbyarbeit für den Zionismus wurde, war entscheidend für die Entwicklung der Beziehungen zwischen Israel und der Diaspora: sowohl ideologisch als auch politisch. Seit den 1980er Jahren war sie zudem massgeblich dafür, in diese Beziehungen die Gleichsetzung von Antisemitismus und Antizionismus einzubringen – sehr zur Zufriedenheit der zunehmend rechtsgerichteten israelischen Regierungen und der von ihnen bei Diaspora-Verbänden geforderten Lobbyarbeit in der Heimat.

Ilan Pappe, israelischer Historiker und Politikwissenschaftler an der Universität Exeter, bekräftigt die historische Bedeutung Grossbritanniens in seiner neuen, grundlegenden Studie «Lobbying for Zionism on both sides of the Atlantic» über die Geschichte der Israellobby. Das Buch beginnt mit dem rastlosen Engagement führender jüdischer Persönlichkeiten bei der britischen Regierung zur Durchsetzung der Balfour-Deklaration über «die Schaffung einer jüdischen Heimstätte» im britischen Palästinamandat. Und selbst heute noch fehlt es nicht an Stimmen, die behaupten, der Zionismus präge die jüdische Gemeinschaft weiterhin massgeblich und erhalte sie sogar am Leben. So schreibt der Geschichtsprofessor Gavin Schaffer in seinem gerade erschienenen Buch «An Unorthodox History: British Jews Since 1945» über die jüdische Gemeinschaft: «Auch heute noch ist der Zionismus ihr schlagendes Herz.»

Bemerkenswertes Ergebnis
Diese pauschale Behauptung provoziert Widerspruch. So zitiert die Autorin Deborah Maccoby in einer Rezension von Schaffers Buch Ergebnisse aus Umfragen des Institute for Jewish Policy Research (JPR): «Das bemerkenswerteste Ergebnis der Umfrage von 2024 zeigt einen erheblichen Rückgang der Zahl junger britischer Juden, die sich als Zionisten bezeichnen. Bei der Umfrage von 2022 lag der Anteil der 20- bis 29-Jährigen, die sich selbst als Zionisten bezeichnen, bei 57 Prozent – ​​der niedrigste Prozentsatz aller Altersgruppen.» Doch in der nach dem 7. Oktober durchgeführten Umfrage fiel dieser Anteil auf nur 49 Prozent. Damit lehnt eine Mehrheit – 51 Prozent – ​​der britischen Juden in dieser Altersgruppe inzwischen die Einstufung als Zionisten ab. Das JPR ist nicht dafür bekannt, das Establishment in Aufruhr zu versetzen. Doch selbst der Autor des JPR-Berichts von 2024 schreibt: «Es kann sein, dass die Anschläge vom 7. Oktober und der Krieg in Gaza für die britischen Juden eine Art klärende Erfahrung waren.»

Der Historiker David Cesarani (1956–2015) hat eine weniger bekannte Auswirkung des Zionismus auf britische Jüdinnen und Juden identifiziert. Cesarani hat grundlegend über die jüdische Vergangenheit und Gegenwart im Vereinigten Königreich geschrieben: «Der Zionismus wurde für das britische Judentum zu einer Möglichkeit, festzustellen, wer ein authentischer oder akzeptabler Jude war.» Obwohl dies die Unsicherheit über die Zukunft sämtlicher grosser Konfessionen in den 1990er Jahren widerspiegelte, bleibt Cesaranis Kommentar gültig. Dafür sorgt der schicksalhafte Richtungswandel der Mainstream-Orthodoxie, der den Zionismus zu einem integralen Bestandteil des jüdischen Glaubens gemacht hat. Im Gegensatz zu sämtlichen Oberrabbinern der etablierten orthodoxen «United Synagogue» vor ihm behauptet der derzeitige Amtsinhaber Ephraim Mirvis kategorisch, der Zionismus gehe auf die Zeit der Zerstreuung zurück und sei zentral für das Judentum heute.

Der Bruch
Diese Behauptung, Judentum und Zionismus seien ein und dasselbe, erlaubt Mirvis und der Mainstream-Orthodoxie insgesamt, israelische Truppen im Gazastreifen, von denen viele offenbar entsetzliche Kriegsverbrechen begangen haben, als «unsere heldenhaften Soldaten» zu bezeichnen und damit alle Juden mitschuldig an der jüdischen Verfolgung der Palästinenser und allen anderen Verstössen des israelischen Staates gegen das Völkerrecht zu machen. Laut der Arbeitsdefinition der IHRA besteht Antisemitismus auch darin, «jüdische Bürger zu beschuldigen, loyaler gegenüber Israel oder den angeblichen Prioritäten der Juden weltweit zu sein als gegenüber den Interessen ihrer eigenen Nation». Wer also Juden als Volk zuschreibt, für tatsächliche oder vermeintliche Taten einer einzelnen jüdischen Person oder Gruppe verantwortlich zu sein, der könnte mit einer solchen Gleichsetzung antisemitische Klischees propagieren.

Die Folgen der innerjüdischen Turbulenzen im Zusammenhang mit dem Gazakrieg sind noch nicht vollständig absehbar. Aber die Beziehungen zwischen Diaspora-Juden und Israel dürften wohl kaum zum Status quo ante zurückkehren. Mit dem «Guardian»-Journalisten, Rundfunk-Moderator und Romanautor Jonathan Freedland hat selbst ein führender Vertreter eines liberalen Zionismus jüngst in einem Podcast-Interview mit dem prominenten amerikanisch-jüdischen Intellektuellen Peter Beinart eingeräumt: «Die Zerstörung Gazas verändert es, jüdisch zu sein.» Beinart ist orthodox und war ein liberaler Zionist. Er hat seinen Glauben an einen jüdischen Staat verloren. Sein jüngstes Buch «Being Jewish After the Destruction of Gaza: A Reckoning» löst begeisterte Zustimmung bei Kritikern aus. In seiner Rezension in der «New York Times» schrieb der palästinensische Historiker Rashid Khalidi: «Dieses hochaktuelle Buch ist eine Abrechnung mit der grossen Kluft zwischen der von Beinart geschätzten jüdischen Tradition und dem, was sie in der Praxis jener ersetzt hat, die den Staat Israel vergöttern.»

Es ist keine Kleinigkeit, wenn ein praktizierender Jude ein Buch schreibt, das einen solchen Kommentar von einem führenden Palästinenser hervorruft. Wie Beinart in seiner Podcast-Diskussion mit Freedland sagt: «In den meisten Teilen der heutigen jüdischen Welt ist die Ablehnung eines jüdischen Staates eine grössere Häresie als die Ablehnung des Judentums selbst.» Obwohl er von der jüdischen Rechten verunglimpft wird, besteht kein Zweifel daran, dass Beinart mit seiner hohen öffentlichen Bekanntheit zu der deutlichen Zunahme der Infragestellung des Zionismus unter jungen amerikanischen Juden beigetragen hat.

Zunahme des jüdischen Antizionismus
Die Entwicklung in Grossbritannien kann nicht mit der aussergewöhnlichen Dynamik und Wirkung von Jewish Voice for Peace in den USA mithalten. Und doch haben auch dort radikale jüdische pro-palästinensische Aktionen zugenommen. Dies manifestierte sich im «jüdischen Block», der an sämtlichen pro-palästinensischen Märschen teilgenommen hat, aber auch in Aktivitäten an Universitäten sowie in Diskussionen und Debatten in alternativen Medien. Dieser Aktivismus verleiht jüdischen Gruppen weltweit neuen Elan, die sich dem Zionismus widersetzen und sich seit Jahren online vernetzen und erweitern. Nach einer ersten Konferenz in London im Juni 2024 änderten sie ihren Namen von International Jewish Collective for Justice in Palestine (IJCJP) zu Global Jews for Palestine (GJP). Nun arbeitet das «Kollektiv» an einer engeren Verbindung mit der grossen Zahl jüdischer Gruppen mit ähnlichem Profil, um international deutlich wirksamer zu werden.

Auf die Politik in Grossbritannien und anderen Staaten scheinen diese Anstrengungen jedoch weiterhin kaum Einfluss zu haben. Und sicherlich fehlt jedes Anzeichen dafür, dass die rechtsextreme israelische Regierung auf die Ausbeutung der Loyalitäten verzichtet, welche die Diaspora dem jüdischen Staat traditionell entgegengebracht hat. Dies gilt speziell für die ständige Schürung der Angst vor weltweitem Antisemitismus durch Netanjahu und sein Kabinett.

Was für Juden auf dem Spiel steht, lässt sich in einer Frage des verstorbenen jüdischen Theologen Marc Ellis zusammenfassen, die der antizionistische Gemeinderabbiner Brant Rosen in Chicago auf seinem Blog zitiert: «Wie können Juden am Abgrund der Ungerechtigkeit leben?» Letztlich versuchen die abweichenden BoD-Abgeordneten in ihrem Brief, diese Frage zu beantworten – wenn auch etwas zögerlich. Beinart versteht die Frage als Herausforderung, darüber nachzudenken, wie Juden gemeinsam eine neue jüdische Geschichte schreiben können. Viele britische Juden ringen mit der Bedeutung des 7. Oktober. Aber ich erwarte kaum, dass sie zu einer solchen grundsätzlichen Auseinandersetzung bereit sind.

In London aufgewachsen und ansässig, ist Antony Lerman seit Jahrzehnten im jüdischen Gemeindeleben engagiert und hat für «Haaretz», «Guardian», «The Jewish Chronicle», «London Review of Books» oder die «New York Times» über jüdische Themen, aber auch Antisemitismus, Rassismus und generell Politik und Gesellschaft geschrieben. Zuletzt hat der Senior Fellow am Wiener «Bruno Kreisky Forum for International Dialogue» bei Pluto Press mit «Whatever Happened to Antisemitism?» eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit den Debatten um einen «neuen Antisemitismus» vorgelegt.

Antony Lerman