Wissenschaft als Familien-Tradition. Wie der frühe Tod des bedeutenden Historikers Joseph Levenson seine Nachkommen schmerzt – und inspiriert.
Meine früheste Erinnerung an China: der Geruch von Pfeifenrauch in den Büchern, die drei Wände in Papas Büro an der University of California, Berkeley, füllten. Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, stehen die Bände in meinen Regalen. Doch wenn ich eines seiner Bücher aufschlage, weht mir immer noch ein Hauch von altem Tabak entgegen. Zumindest will ich das glauben.
Tiger, Tiger
In diesem China meiner Kindheit gab es wilde Tiere – oder eigentlich nur eines: einen Tiger, der in einen Fellteppich verwandelt worden war, mit (natürlich!) einem gewaltigen Kopf. Wann immer ich als Sechsjähriger das Büro meines Vaters betrat, starrte ich voller Entsetzen und Entzücken auf seine leuchtend gelben Glasaugen und diese schrecklichen Zähne, die nur darauf warteten, mich aufzufressen.
Hinter dem Tigerfellteppich verbarg sich eine Geschichte. Es gab immer eine Geschichte: Dad lebte, um der materiellen Welt Bedeutung abzugewinnen. Dieser Tiger war einer von dreien, die mein Grossvater mütterlicherseits erlegt hatte – eine Grosskatze für jedes seiner Kinder. Meine Mutter verabscheute ihren und wollte ihn nicht im Haus haben. Also nahm ihr Mann ihn mit zur Arbeit und benutzte ihn dort, um ein Problem zu lösen.
Vater war etwas schüchtern, gleichzeitig aber auch als Historiker prominent genug, dass Besucher sich seinem Büro oft etwas bange näherten. Deshalb positionierte er seinen Tiger so, dass der Kopf knapp hinter der Tür lag. Oft genug übersahen nervöse Besucher bei ihrem Augenmerk auf den Mann hinter dem Schreibtisch die lauernde Gefahr auf dem Boden und stolperten über den Tigerkopf. Vater erzählte dann die Geschichte seines treffsicheren Schwiegervaters (mit dem nicht zu spassen war!), der seine Beute verfolgte, eins, zwei, drei … und das Eis brach, sein Besucher lachte und brachte dann eine erste Frage zu der immensen, komplexen Dynamik der chinesischen Geschichte vor. Und so fing es wieder an: ein neuer Auftakt im Austausch über China mit meinem Vater, Joseph Richmond Levenson.
Papa-Witze
Joe Levenson liebte Worte. Er konnte keinem Wortspiel widerstehen und sprang oft durch zwei oder drei Idiome, um dann bei einer herrlich-angestrengten Pointe zu landen. Diesen Sinn für Sprachen, die pure Freude daran, daraus jedes bisschen Bedeutung – und Humor – herauszukitzeln, trug er in den Alltag unserer Familie. Jeden Abend brachte er meinen jüngeren Bruder Leo und mich ins Bett. Er überwachte unser Ritual beim Schlafengehen, deckte uns zu und machte das Licht aus. Dann war es Zeit für eine Gutenachtgeschichte. Es war Papas Gabe und (rückblickend) war er darauf vielleicht auch stolz, dass er uns nie aus einem Kinderbuch vorlas. Er erfand jede Geschichte neu und zog sie oft über mehrere Abende hin, mit einem Cliffhanger nach dem anderen. Eine Konstante war: Jeder Abend endete mit einem Wortspiel. (Leider kann ich mich an keines davon erinnern. Ausser an eines, das einem japanischen Volksmärchen entstammt und in einer urkomischen Verdrehung eines amerikanischen Slangbegriffs der 1930er-Jahre mündete. Das Resultat war eine heute praktisch unverständliche Pointe.)
Aber solche Witze waren nicht nur verbale Spielereien, mit denen er seine Kinder unterhielt. Ich war jung genug – zehn –, als er starb, um seine tieferen Lektionen kaum (oder überhaupt nicht?) zu verstehen. Erst viel später, als ich seine Bücher las, um den nun schon so lange abwesenden Vater kennenzulernen, ging mir auf, dass solche Taschenspielertricks ein zentraler Bestandteil seines Werks waren, fast ein Credo: «Im Lauf der Zeit», schrieb er am Ende seines dreibändigen Magnum Opus «Confucian China and its Modern Fate», «werden auch die Worte nicht stillstehen.» Das Spiel mit den changierenden Bedeutungen eines einzelnen Wortes oder Satzes gab meinem Vater ein mentales Skalpell an die Hand, um nicht Gedanken – blosse Objekte, die Schulmeister in Stein zu meisseln versuchen – zu sezieren, sondern das Denken, den dynamischen Prozess, durch den Ideen entstehen und sich entwickeln.
Die Ambitionen meines Vaters als Akademiker wurden mir klar, als ich in meinem ersten Studienjahr an Harvard endlich die gesamte Trilogie «Confucian China» las (des Semester fiel in das letzte Jahr, in dem John King Fairbank, der Doktorvater meines Vaters, den Einführungskurs in Ostasiatischer Geschichte leitete). Dort fand ich in «Confucian China» das Kapitel «Theorie und Geschichte». Hier hob mein Vater mit einer selbstironischen Note an: Er gab zu, sein Thema bis dahin nur zögerlich offenbart zu haben. Aber, so sein Versprachen, er habe auf ein bedeutsames Argument hin geschrieben: «Ich harre (wie der Leser) der Erlösung.» Ein zweischneidiger Dank an alle, die ihm bis dahin gefolgt waren. Und doch führte er sein Publikum damit hin zu der Arbeit, die es leisten musste, um Dads Argumentation zu verstehen. Er schrieb: «Wir können ein Ereignis in der Menschheitsgeschichte als historisch (wirklich) bedeutsam oder als (nur) historisch bedeutsam bezeichnen.» Derselbe Satz, zwei benachbarte Bedeutungen: «Der Unterschied liegt zwischen einem empirischen Urteil über die Fruchtbarkeit in einer Epoche und einem normativen Urteil über die Dürre im Hier und Jetzt.»
Für sein Kind war die plötzliche Begegnung mit dem erwachsenen Geist Joseph Levensons beim Lesen einer solchen Passage einerseits schlicht aufregend – eine Schlüsselbegegnung mit dem Versuch, Geschichte zu verstehen. Und zwar auf eine andere Weise als die Begegnung mit einer als beispielhaft oder didaktisch konstruierten Vergangenheit. Aber gleichzeitig trat ich nun auf eine Weise in Verbindung zu meinem Vater, die mein jüngeres Ich nicht hätte begreifen können. Hier ist der nächster Schritt in seinem Argument zu «Theorie und Geschichte»: «Die Mehrdeutigkeit von ‹historischer Bedeutung› ist eine Tugend, kein Fehler. Dem taxonomischen Präzisionsdrang zu widerstehen, also der wörtlichen Auslegung einer Phrase hin auf ein einziges Konzept, ist sowohl eine intellektuelle als auch eine moralische Anforderung an den Historiker.»
«Eine moralische Anforderung.» Fast fünf Jahrzehnte später erinnere ich mich noch gut daran, wie ich das zum ersten Mal las. Für ein Kind vor dem Schlafengehen sorgte das Spiel mit Bedeutungen für alberne, wundervolle und unerwartete Geschichten. Nur wenige Jahre später war dieses Beharren auf einer moralischen Verpflichtung, die Mehrdeutigkeit von Sprache ernst zu nehmen, eine Offenbarung. An der Schwelle zum Erwachsenenalter auf diese Passage zu stossen, veränderte mein Leben buchstäblich. Die Art und Weise wie mein Vater Worte hin und her drehte, hat mich hingerissen und in mir den Wunsch geweckt, Schriftsteller zu werden. Das fühlte sich als ein grosses Vergnügen an – und das ist es auch. Aber tiefer greifend ist das Streben nach Verständnis dafür, warum Menschen so denken, glauben und handeln, wie sie es tun, für mich (meines Erachtens ist es ihm auch so ergangen) zu einem Weg auf der Suche nach einem (in moralischem Sinn) guten Leben geworden.
Das heisst: Der treibende Impuls hinter Vaters Herangehensweise an die Geschichte, der Versuch, einen anderen Ort und eine andere Zeit verständlich zu machen, ist die einem Historiker angemessene Version der Goldenen Regel. Die Vergangenheit ernst zu nehmen, bedeutete für Vater, die Gegenwart ebenso ernst zu nehmen – und erfordert daher moralisches Urteilsvermögen, «sich zu erklären und irgendwo Position zu beziehen.» Das ist eine Leitlinie für ratlose Gelehrte – eine gute und für mich als Nachfahr sogar existentiell wichtige – und zugleich ein Prüfstein für die Lebensführung. Erfassen Sie und seien Sie sich der Unterschiede zu uns bewusst, die bei anderen Menschen, Nationen oder Kulturen zu finden sind, mit denen wir die Gegenwart teilen. Und ebenso sollten wir den Kapiteln von Geschichte begegnen, die wir erforschen möchten. Erkennen Sie, dass solche Unterschiede für Menschen in anderen Kulturen und/oder Zeiten bedeutsam waren oder sind. Aber tun Sie dies immer im Bewusstsein dessen, was uns wichtig ist, da wir in unserer eigenen Zeit und an unserem eigenen Ort leben (was eines Tages von anderen untersucht werden wird, die versuchen, unsere Gedanken und Handlungen zu verstehen). Die Aufgabe, dem Guten im Leben näher zu kommen, «besteht darin, wahrhaftig zu sein (nach der Wahrheit zu streben), auch wenn die Wahrheit nicht erkannt werden kann.»
Habe ich all das in der verbalen Akrobatik gehört, mit der Dad sich und seine Familie in unserem gemeinsamen Jahrzehnt auf dieser Erde unterhielt? Natürlich nicht. Hat mich das Leben mit Joseph Levenson auf solche Lektionen vorbereitet?
Oh ja.
Der lange Weg nach Hause
Dad erzählte 1968 in einem Interview, warum er sich in den 1930er oder 40er Jahren als angehender Historiker auf chinesische Themen spezialisierte statt auf eine der damals gängigen Teildisziplinen: «In der chinesischen Geschichte gab es grosse, offene Räume und das Versprechen eines langen Weges, der am Ende nach Hause führte.»
Die «offenen Räume» verstehe ich. Als mein Vater 1941 seine intellektuelle Reise begann, war die akademische Chinaforschung in den Vereinigten Staaten die Domäne einer winzigen Schar von Menschen – nicht viel mehr, als man an beiden Händen abzählen konnte. Jede auch nur denkbare Frage des Feldes stand jedem von ihnen offen. Mein Vater interessierte sich nicht für den Betrieb, den er in den von Forschenden dicht besetzten Gebieten der amerikanischen oder europäischen Geschichte sah – «hässliche Kontroversen über Kleinigkeiten oder Revisionismus.» Wie die 2023 erschienene Neuausgabe seiner Werke beweist, nutzte er diesen intellektuellen Freiraum voll aus. Er widmete sich grossen Themen, die er als wichtige Probleme der chinesischen Geschichte, der Menschheitsgeschichte erachtete – und empfand dabei grosses Vergnügen.
Aber was hatte es mit dem langen Weg nach Hause auf sich? Auf der Suche nach seiner Wahrheit – auch wenn ich sie nicht vollständig kennen kann – hatte Dad meines Erachtens mindestens ein paar unterschiedliche Vorstellungen von seinem Ziel. Sicherlich gab es Parallelen zwischen Chinas Vergangenheit und den 1950er und 60er Jahren in Amerika, also Dads Schaffenszeit als Historiker. So besteht beispielsweise kein Zweifel – es ist in seinen Schriften offensichtlich –, dass ihm bei seiner Auseinandersetzung mit scheinbar fernen Problemen in Chinas Vergangenheit die Kommunistenjagd der McCarthy-Ära sehr nahe war, die seinen Berater Fairbank quälte und Dads eigenen Job an der University of California zu gefährden drohte.
Aber Dad hatte nicht allein Resonanzen zwischen aktuellen und vergangenen Ereignissen im Sinn. Meines Erachtens standen diese Fragen für ihn nicht einmal im Vordergrund. Als Ausländer, als Amerikaner konnte er in China eine Sicht auf die Dynamik historischer Umstände entwickeln, die anderswo, in seiner Heimat viel näheren geschichtlichen Entwicklungen ihren Widerhall fanden. Als Forscher erkannte er einen langen Weg, der einzelne Ereignisse im Leben konfuzianischer Gelehrter verband, die hunderte von Jahren und tausende von Kilometern von seiner eigenen Zeit entfernt existierten. Sein Beharren auf dieser Einsicht lässt sich am besten so interpretieren, dass ihm die Auseinandersetzung mit China erlaubte, über alles nachzudenken, was mit China in Verbindung gebracht werden konnte – einschliesslich, aber nicht beschränkt auf seine persönliche Gegenwart.
Das war vielleicht der Punkt, den Dad seinem Interviewer aufzeigen wollte. Aber zuhause, in seinem eigentlichen Zuhause, das er mit einem Hund, vier Katzen, vier Kindern und seiner Gattin teilte, da gab es noch weitere Stationen auf seinem langen Weg. Die wichtigste: Das Judentum lag im Kern von Vaters Persönlichkeit; seine religiöse Identität prägte sein intellektuelles und emotionales Leben. Doch als Jude im Berkeley der radikalen 1960er-Jahre zu leben und seine Kinder in religiöser Praxis, Ritualen und Traditionen zu erziehen, das stellte ihn vor ganz ähnliche Herausforderungen wie jene, die er in der Geschichte Chinas fand.
Studium und Praxis
Vaters Herkunft kannte diese Hürden nicht. Er wuchs vor dem Zweiten Weltkrieg auf, daher prägte der Holocaust seine jüdische Identität noch nicht. Er war der Enkel osteuropäischer Einwanderer und damit einer Lebenswelt, die zu einem amerikanischen Stereotyp «authentischer» jüdischer Existenz geworden ist (eine Beschreibung, welche die gesamte sephardische oder südliche Hälfte jüdischen Lebens ausklammert). Seine Mutter hatte ihn in einem orthodoxen Elternhaus erzogen, und sein Leben lang blieb er eifrig und begabt im Studium und der Praxis jüdischer Texte und Bräuche.
Die Familie, die er selbst aufzog, erlebte jüdisches Leben ganz anders. Wir assen zu Hause weder Schweinefleisch noch Schalentiere und mischten fast nie Milch mit Fleisch – selbst auferlegte Einschränkungen, lediglich Andeutungen der komplexen, jüdischen Ernährungsgewohnheiten in der Kindheit meines Vaters. Wir besuchten zwar eine örtliche orthodoxe Synagoge, doch mit einer Ausnahme – und von ihm abgesehen – spielte Religion für uns alle im Laufe der Woche eine sehr untergeordnete Rolle. Diese Ausnahme war das Freitagabendessen, die Einführung des Schabbats: Wir zündeten stets Kerzen an, sprachen Segen über Wein und Brot und sassen im Esszimmer zu Tisch, nicht in der Küche, wie es sich für das Fest gehörte.
Diese Schabbatabende waren für meinen Vater bedeutungsvoll. Obwohl es nie Zweifel daran gab, dass unsere Familie jüdisch war, blieb mir und meinen Geschwistern unklar, was es damit auf sich hatte, abgesehen von unserer «Bindestrich-Identität». Andere mochten deutsch-amerikanisch, anglo-amerikanisch oder asiatisch-amerikanisch sein – und wir waren oder konnten jüdisch-amerikanisch sein. Zu Papas Lebzeiten fand ich die meisten Synagogenrituale schlichtweg langweilig. Die Familienfeste machten Spass, aber im Grunde bedeutete Jüdischsein für mich vor allem, dass dies ein untrennbarer Teil meines Vaters war – und damit auch unserer Familie. Nach seinem Tod wurde das Judentum fremd. Wenn Jüdischsein in unserer Familie nur bedeutete, die Bedeutung von Glauben und Religion für ihn anzuerkennen – was blieb dann übrig, als Vater nicht mehr da war, als er uns genommen worden war?
Und doch ist etwas geblieben. Meine eigene lange Heimreise begann unter anderem mit der Lektüre eines unvollendeten Essays über das Judentum, das nach seinem Tod in Vaters Schreibtisch gefunden worden war. Es ist ein dicht geschriebener Text, aber für mich enthielt bereits der Titel die wesentliche Botschaft: «Die Wahl jüdischer Identität». Eine Wahl – die Vorstellung, dass es möglich war, sich für eine Art des Jüdischseins zu entscheiden, war befreiend. Es ermöglichte mir die Hinwendung zu einem Judentum, das sich weniger auf rituelle Einhaltung als vielmehr auf den Imperativ des Propheten Micha konzentrierte: «Gerechtigkeit üben und Gutes lieben» – oder wie Dad das Deuteronomium paraphrasierte: «Eine gute Entscheidung im Leben bedeutet nichts anderes, als das Leben zu wählen» – was, wie er mir weiter unten im Text sagte, «gut und ausreichend» ist.
Für Dad war diese Entscheidung immer viel stärker mit der religiösen Praxis seiner eigenen Kindheit verbunden als meine Rückkehr zum Judentum für mich – kein Wunder, wenn man bedenkt, wie anders diese frühen Jahre für ihn im Vergleich zu denen seiner eigenen Kinder gewesen waren. Aber ohne Zweifel brachte ihn sein eigenes Ringen mit der Her-ausforderung: Warum jüdisch sein? mit dazu, sich so intensiv mit China zu beschäftigen. Schliesslich hatte der Lauf der Zeit doch so viel von dem – und noch dazu in seinem eigenen Zuhause! – unwiderruflich verändert, was es bedeutet, Jude zu sein. Anders ausgedrückt: Die Moderne stellt Anforderungen an jeden, wie auch immer man den heiklen Begriff «modern» definiert, und Dad rang ständig mit diesen Anforderungen, sowohl in seiner Arbeit als auch in seinem Alltag.
Das war seine lange Heimreise – in seinen Schriften meist als Subtext. Doch zumindest einmal trat dieser Weg an die Oberfläche. Im letzten Absatz von «Confucian China» schloss er sein grosses Werk nach drei Bänden quer durch die Weiten Chinas mit einer Parabel aus dem Herzen der jüdischen Tradition: Es begab sich einmal, dass ein grosser Weiser ein aufwendiges Ritual durchgeführt hatte, um ein bestimmtes Ziel auch wirklich zu erreichen. Mit jeder nachfolgenden Generation ging ein Schritt dieses Rituals verloren, bis am Ende nur noch dieser Satz übrig blieb: «Wir können davon erzählen, dass es das Ritual gab.»
So wie ich es hier tue.
Der leere Stuhl
Historiker ringen seit Langem mit der Frage, ob die Zeit fliesst oder in Sprüngen voranschreitet – der alte Streit um Kontinuität versus Wandel. Für unsere Familie gibt es hier keine Frage. Der 6. April 1969 war der Moment, in dem sich alles unwiderruflich änderte. Vorher: Papa war eine ganz selbstverständliche Konstante. Nachher: Er war weg, oder besser gesagt eine ständig abwesende Präsenz, die stille Hälfte der Gespräche, die jeder von uns in seiner Familie seitdem mit ihm führt.
Mit der Erinnerung an Joseph Levenson zu leben war ein schwieriges Geschenk. Es besteht kein Zweifel an seinem Einfluss auf alle seine Kinder. Meine Brüder und unsere Schwester würden ihre Versionen dieser Verbindung unterschiedlich schildern. Aber seine und die bleibende Wirkung unserer Bande mit ihm in uns allen liegt offen auf der Hand.
Da ist zum Beispiel Papas Drang, Verbindungen zwischen scheinbar grundverschiedenen Phänomenen herzustellen. Daher der Sprung in Zeit und Ort, der ihn von einem deutschen Bericht über die Königstheorie des russischen Zaren zur Ablehnung des Konfuzianismus durch die Taiping-Autokratie führte. Durch welche Alchemie der Natur und/oder Erziehung auch immer, mein älterer Bruder Richard zeigt als Forscher in der Biomedizin die gleiche Begabung für intellektuelle Akrobatik, trotz aller Distanz zwischen seiner Disziplin und der meines Vaters. Auch dessen Liebe zu Wortspielen lebt in Richard fort – ergänzt um ganz eigene Noten.
Professionelle Karriere
Dad war als Musiker so talentiert, dass er an eine professionelle Karriere als Pianist dachte. Er entschied sich dann für ein Universitätsstudium statt den Besuch eines Konservatoriums. Doch für den Rest seines Lebens gaben ihm das Musizieren und Musikhören tiefes Vergnügen. Die Musikalität seiner Gedanken und Prosa dürfte eines der weniger beachteten Merkmale seines Werks sein. Aber diese Qualität ist da und und zentral für sein Projekt. Liest man seine Sätze laut, hört man Ton, Klangfarbe und vor allem Rhythmus – all das prägt die Bedeutungen, die er vermitteln wollte. Meine Schwester Irene ist Vaters musikalische Erbin. Sie schlug den Weg ein, dem er nicht folgen wollte und wurde professionelle Musikerin. Als Kind spielte sie auf Vaters hervorragendem Flügel – letztlich besser als er. Und die Erinnerung an ihr musikalisches Zuhause, das er geschaffen hatte, klang während ihrer vierzigjährigen Karriere als Professorin für Musiktheorie fort. So scheint es zumindest mir.
Mein jüngerer Bruder Leo hat ein ganz anderes Berufsleben geführt als Vater. Er war Beamter, hauptsächlich für die Stadt San Francisco. Aber es gibt auch hier Verbindungen (wiederum von meiner Aussensicht oder Einbildung her betrachtet). Da ist zum einen das gemeinsame Engagement für das jüdische Gemeindeleben. Aber noch mehr, denke ich, liegt eine Verbindung in der Entscheidung meines Bruders, im öffentlichen Dienst zu arbeiten und dort dem Ideal guter Regierungsführung zu dienen. Wenn das wie ein Echo der konfuzianischen Ethik klingt, die mein Vater analysierte – nun, dann trifft dies auch auf mich zu. Einfluss lässt sich schwerlich nachverfolgen. Manchmal ist er direkt und manchmal muss man ihn in Lebensläufen suchen, die sich reimen – wie bei Leo.
Und was mich betrifft? Der Einfluss meines Vaters war deutlich, kontinuierlich und manchmal entscheidend. Ich kam mit dem Ziel an die Universität, genug über China zu lernen, um seine Werke kompetent lesen zu können. Daraus wuchs die Entscheidung, mich auf ostasiatische Geschichte zu konzentrieren und dann als Journalist in Japan und später in China zu arbeiten. Als Schriftsteller versuchte ich zunächst, den bravourösen Prosastil meines Vaters zu imitieren – ein Fehler. Wie mein Vater schrieb, «kommt es auf die Intonation an», und ich musste meine Nachahmung seines Stils überwinden, um meinen eigenen zu finden. Mit mehr Erfolg entdeckte ich in seiner historischen Haltung – seinem Beharren auf einem disziplinierten, rigorosen Relativismus – ein unglaublich wirksames Werkzeug, um mein eigenes Interesse am Zusammenspiel von Wissenschaft und den Gesellschaften, in denen diese Forschung stattfindet, zu entfalten. Wenn ich schreibe, höre ich seine literarische Stimme in meinem Kopf, die mein kreatives Leben wesentlich bereichert und meine Arbeit besser gemacht hat als sie es sonst je hätte sein können.
Aber wie schon gesagt. Das Leben mit der Erinnerung an Joseph Levenson war kompliziert – und bleibt es auch. Jede Entscheidung, die ich getroffen habe, hat mir andere Optionen versperrt. Dasselbe gilt natürlich auch für meine Geschwister. Schaue ich auf über ein halbes Jahrhundert zurück, ist mir klar, dass ich ohne ihn viele Wege habe links liegen lassen, die mich mit ihm an der Seite verlockt und zu ganz anderen Erfahrungen geführt hätten.
Aber ich will mich nicht beklagen. Ich hatte so viel Glück in meinem Leben, trotz des schrecklichen Verlusts, der unsere Familie vor über fünfzig Jahren verändert hat. Joseph Levensons Sohn zu sein, hat mich zu faszinierenden Ideen, fesselnder Arbeit und vielem mehr geführt. Doch abgesehen von der Trauer über seinen Tod bleibt die Frage: Was konnte ich nicht tun oder bedenken, nachdem meine Verbindungen zu ihm abrissen? Das ist wohl eine Levensonsche Frage. Ganz ähnliche hat er sich chinesischen Denkern gestellt, deren Bekenntnis zu einer Idee unweigerlich zur Ablehnung von Alternativen führte. Auf diese Frage kann es ohnehin keine Antwort geben. Niemand kann diese persönliche Geschichte mit neuem Leben erfüllen – und damit das Experiment an der Realität überprüfen. Das heisst aber nicht, dass ich nicht manchmal über Möglichkeiten nachdenke, die uns jener Frühlingsnachmittag 1969 auf immer verschlossen hat.
Erinnerung und Gedenken.
«Schon lange», schrieb mein Vater in seinem posthum erschienenen Werk «Revolution and Cosmopolitanism», «denken die Menschen über die Mehrdeutigkeit von ‹Geschichte›, zumindest im Englischen, nach: die Werke, die Männer schaffen – aber auch die von Männern geschriebenen Werke.» Wir können dieses Buch, einschliesslich seines Sprachgebrauchs («Männer», nicht «Menschen») im Geiste von Joseph Levensons Relativismus sowohl als Ausdruck seiner Zeit lesen, aber uns dadurch auch einen Eindruck von der damaligen Epoche verschaffen. Das Werk ist damit ein Beispiel für gemachte Geschichte – etwas Geschaffenes, ein abgeschlossener Akt, den spätere Leser beurteilen und interpretieren können. Das vor Ihnen liegende Essay ist ein Beispiel dafür, wie Geschichte geschrieben, nicht gemacht wird: ein nachträglicher Versuch, die Wahrheit über Dads Leben einzufangen. Mein Text ist notwendigerweise unvollständig, genau wie es Dad in dieser Gegenüberstellung von Machen und Schreiben angedeutet hat.
Hier ist eine Auslassung: Ich habe Rosemary Levenson – seine Frau und unsere Mutter – bisher kaum erwähnt, obwohl ihre Präsenz über dieser Erinnerung an Dad schwebt. Die zwanzig Jahre mit ihm waren zweifellos die glücklichste und erfüllteste Zeit ihres Lebens. Natürlich war ihre Ehe eine menschliche, das heisst, sie hatte Höhen und Tiefen. Wie zu viele Frauen ihrer Epoche ordnete sie ihre beruflichen Fähigkeiten und Ambitionen seiner Karriere unter, was nicht immer leicht zu akzeptieren war. Doch ihre Kameradschaft – ihre Liebe – war für beide lebenswichtig. Mama war Papas erste und beste Lektorin und sein Resonanzboden; er und sie waren während seiner gesamten beruflichen Laufbahn miteinander verbunden. Sein Tod, ihn zu verlieren, hätte sie zerschmettern können. Doch sie hielt sich und ihre Familie zusammen – und das auf eine Weise, die schlicht heldenhaft war. Doch all das ist eine private Geschichte, eine, die sie als Paar gemeinsam angefertigt haben. Würde sie niedergeschrieben, wäre sie historisch fast nur für diejenigen bedeutsam, die ihn und sie kannten.
Analogie Hybris
Papas öffentliche Geschichte wurde mitten im Gedanken, mitten im Satz abgebrochen. Er beendete dieses letzte Buch nicht. Es blieb das Fragment eines viel umfangreicheren Werks. Er reiste nie weiter nach China als nach Hongkong. Er hätte die Analogie als Hybris betrachtet und nicht verwendet. Aber als sein Sohn darf ich für ihn behaupten, dass er Moses auf dem Berg Nebo glich – dem es erlaubt war, das Gelobte Land zu sehen, aber nicht dorthin zu gelangen. Denn nun trat ihm die Geschichte in den Weg: Die Gründung der Volksrepublik China 1949 schloss für ihn, wie für fast alle Amerikaner, die Tür. Und wenige Jahre, ehe die Pforten wieder aufgingen, ist er verstorben. In gewisser Weise waren ein Tigerfellteppich, ein mit Pfeifenrauch gefülltes Büro und Bücherwände nicht nur das China seines kleinen Sohnes, sondern auch sein eigenes. Dass Dad nie den Ort erreichen konnte, der ihn so faszinierte, machte mich traurig und tut es immer noch. Doch mit der 2023 erschienenen Neuausgabe seiner Werke, die endlich auch in der Sprache der Menschen erhältlich ist, die sein Thema waren, hat Joseph Levenson auf eine ihm angemessene Weise diesen langen Weg nach Hause schliesslich vollendet. Die Geschichten, die Dad schrieb, können nun auf die Geschichte wirken, die in China und der Welt gemacht wird. Als sein Sohn und als einer seiner Leser freut mich das.
Thomas Levenson lehrt hauptberuflich die schriftliche Vermittlung von Wissenschaft und Forschung am Massachusetts Institute of Technology, hat bislang sieben Bücher geschreiben und dreht Dokumentarfilme, wann immer er kann. Er lebt mit seiner Frau, seinem Sohn und zwei Katzen, die ihn als ihren Leibeigenen betrachten, in der Nähe von Boston.