Eine kurze Geschichte der jüdischen Jesus-Forschung – und eine lange.
Wer im deutschsprachigen Raum im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts gymnasial sozialisiert wurde, kam um die Nutzung von «Rowohlts Monographien» kaum herum. Die über 600 Biografien bedeutender historischer Persönlichkeiten «in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten», in der Regel genau 160 Seiten umfassend, konnten beeindruckende Auflagenstärken erreichen und galten als Grundeinstieg des vertiefteren Wissens zum Thema. Eine Liste der Autorinnen und Autoren dieser Monographien zeigt, wie wichtig es dem Verlag war, Experten aus der ersten Reihe zu verpflichten. Dass der 1968 erschienene Band 140 dieser Reihe über Jesus von David Flusser verfasst wurde, einem praktizierenden Juden, der Professor für Religionswissenschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem war, mochte einige angesichts der (damals im Vergleich zu heute noch üppigeren) Auswahl an Professorinnen und Professoren für Neues Testament an theologischen Fakultäten deutschsprachiger Universitäten erstaunen.
Kein Einzelfall
Wie immer auch die Wahl des Autors durch den Verlag damals zustande kam – vielleicht war ja ein jüdischer Autor auch ein Ausweg, um sich weder katholischer noch evangelischer Vereinnahmung verdächtig zu machen –, es zeigt, dass der Zugang eines jüdischen Forschers zur Person Jesus’ schon vor fast sechs Jahrzehnten höchste wissenschaftliche Reputation genoss. Zugleich war Flusser als jüdischer Erforscher von Jesus keineswegs ein Einzelfall, lag doch spätestens seit Erscheinen der monumentalen, in mehrere Sprachen übersetzten Jesus-Biografie Joseph Klausners (ebenfalls Professor an der Hebräischen Universität) im Jahr 1922 ein Werk vor, das ausführlich vom wissenschaftlichen Interesse an Jesus als einer jüdischen Person in einer jüdischen Gesellschaft im Land Israel zeugte.
Die über Jahrhunderte hinweg ablehnende bis polemisch abwertende Position, die das Judentum gegenüber Jesus hegte, dem gewissermassen rückwirkend die Feindseligkeit, die das Christentum gegenüber dem Judentum entwickelt hatte, zur Last gelegt wurde, hatte sich erst mit dem Übergang zur Neuzeit allmählich verändert. Als eine gewichtige jüdische Stimme zur Neubewertung der Person Jesus’ aus jüdischer Sicht ist Moses Mendelssohn zu nennen. In seinem Werk «Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum» (1783) kam er darauf im Zusammenhang mit der Konversion von Juden zum Christentum zu sprechen, einer Erscheinung, die zu jener Zeit in Deutschland einzusetzen begann. Mendelssohn kritisierte solche Konvertiten vor allem dafür, dass sie ihren Glaubenswechsel als Befreiung vom jüdischen Religionsgesetz sahen: «Wenn auch einer von uns zur christlichen Religion übergehet; so begreife ich nicht, wie er dadurch sein Gewissen zu befreyen, und sich von dem Joche des Gesetzes zu entledigen glauben kann? Jesus von Nazareth hat sich nie verlauten lassen, dass er gekommen sey, das Haus Jakob von dem Gesetze zu entbinden. Ja, er hat vielmehr mit ausdrücklichen Worten das Gegentheil gesagt; und was noch mehr ist, hat selbst das Gegentheil getan. Jesus von Nazareth hat selbst nicht nur das Gesetz Moses; sondern auch die Satzungen der Rabbinen beobachtet, und was in den von ihm aufgezeichneten Reden und Handlungen dem zuwider zu seyn scheinet, hat doch in der That nur dem ersten Anblicke nach, diesen Schein.»
Graetz und Geiger
Mendelssohns Feststellung, dass Jesus ein durch und durch jüdisch denkender und lebender Mensch gewesen sei, dessen Reden und Handeln erst Jahrzehnte später von den Evangelien in anderer Weise interpretiert worden sei, wurde zur Leitplanke für fast alle späteren jüdischen Stimmen, die über Jesus sprachen, von denen hier für das 19. Jahrhundert stellvertretend nur der Historiker Heinrich Graetz und der religionswissenschaftlich beschlagene Reformer Abraham Geiger genannt seien – auch wenn die beiden sich untereinander u.a. darin unterschieden, dass Graetz Jesus eher als der zeitgenössischen jüdischen Sekte der Essener nahestehend sah, während ihn Geiger den Pharisäern zurechnete. Überdies verfolgte Graetz insgesamt die Tendenz, das Christentum seit Paulus als verfälschte, das Vermächtnis ihres Gründers verratende Religion zu zeichnen, was sich mit der Konstantinischen Wende im 4. Jahrhundert, in deren Folge das Judentum vom immer dominanteren Christentum systematisch ausgegrenzt wurde, dann noch verhärtet habe. Demgegenüber suchte Geiger eher nach einem gemeinsamen Nenner, der die Beziehung zwischen den Religionen hätte verbessern können.
Keine hohe Meinung gegenüber Nichtjuden
Zeitgenössische christliche Theologen schätzten Geigers Versuch einer ‹Heimholung› Jesus’ ins Judentum nicht, sie erkannten darin auch kein Gesprächsangebot – und die jüdische Orthodoxie wollte mit Fragen der Akzeptanz von Jesus weiterhin nicht allzu viel zu tun haben, abgesehen davon, dass sie das von Geiger entworfene Bild von Jesus als reformfreudigen Pharisäer, das ihn faktisch als Vorläufer der deutschen Reform zeichnete, nicht besonders goutiert haben dürfte, waren doch die Pharisäer die Gruppe, die als Vorläufer der späteren Rabbinen verstanden wurden, als deren Nachfolger sich wiederum die Orthodoxen verstanden.
Doch spätere Autoren wie Klausner und auch Flusser haben Geigers Zuordnung von Jesus zu den Pharisäern aufgenommen. In der erwähnten Rowohlt-Monographie sprach Flusser einem deutschen Publikum gegenüber ganz offen aus, dass Jesus selbst sich der nach Paulus‘ Heidenmission entstandenen Kirche der Nichtjuden gegenüber fremd gefühlt hätte. «Soweit wir nach den Quellen urteilen können, hat Jesus von den Nichtjuden, den ‹Völkern›, keine hohe Meinung gehabt: ‹Sie machen sich wirtschaftliche Sorgen um ihre Zukunft und wissen nicht, dass der morgende Tag für sich selbst sorgen wird (Mt. 6,32-34); sie ‹plappern› bei ihren Gebeten, denn sie meinen, sie werden erhört bei ihrer Wortmacherei (Mt. 6,7); sie kennen nicht das jüdische Gebot der Nächsten lieben und verkehren nur mit ihren Freunden (Mt. 5,47).› Bei dem ersten und dritten Ausspruch hat man das Gefühl, als spräche Jesus über Untugenden der europäischen Gesellschaft, wie sie noch bis heute teilweise bestehen.»
Diese Offenheit war inzwischen möglich – nach der Schoah, als auch die christliche Welt nach einer gemeinsamen Sprache mit den Juden zu suchen begann und deren Positionen zudem durch eine auch bessere Erforschung des Judentums im Land Israel zur Zeit Jesus’ und den Fund der Qumran-Rollen von 1947 untermauert wurden.
Ein Musterbeispiel
Doch natürlich diente die «Einbürgerung» Jesus’ in das Judentum seiner Zeit nicht nur einer Legitimation des Judentums als der eigentlichen Referenzreligion des christlichen Religionsstifters. Sie sollte nicht zuletzt auch den verheerendsten Vorwurf der Christen gegenüber den Juden entkräften: Dass nämlich die Juden die eigentlich Schuldigen an der Kreuzigung Jesus’ gewesen seien, also perfide, blutrünstige «Gottesmörder», wie man sie während des Mittelalters genannt hatte, was viel jüdisches Blut gekostet hatte. Ein Musterbeispiel für das Bemühen, diesen Vorwurf an die Juden argumentativ zu entkräften, ist das Buch «Der Prozess und Tod Jesu aus jüdischer Sicht», das nach der Staatsgründung Israels der aus Deutschland stammende Staatsanwalt und spätere Oberrichter des Landes, Chaim Cohn, verfasste, weil verschiedene Christen von Israel verlangt hatten, nun den Prozess gegen Jesus wieder aufzurollen und den «Justizmord» zu korrigieren.
Cohn nahm sich der Aufgabe an, las und verglich insbesondere die synoptischen Evangelien und ihre jeweiligen Berichte über Jesus’ Aufenthalt in Jerusalem und die letzten Stunden seines Lebens akribisch. Doch seine Schlussfolgerung war, als er viele Jahre später das Buch abschloss, eine radikal andere, als sie die intervenierenden Christen erhofft haben dürften.
Distanz zu Pharisäismus
Anders als Klausner, der Jesus zwar als jüdisches Kind seiner Zeit, aber dennoch in einer wachsenden Distanz zu Pharisäismus sah, zeichnete Cohn Jesus als einen populären Prediger, den – wenn nicht aus Anhängerschaft, dann aus Opportunismus gegenüber seinen Anhängern – kein Jude würde umbringen wollen, ganz abgesehen davon, dass die Urteils- und die Ausführungsmacht dafür ausschliesslich beim römischen Präfekten Pontius Pilatus lag, von dem ausserbiblische Quellen ein durchaus entschlossenes und brutales Bild zeichnen, der also keineswegs als reines Werkzeug mordlustiger Juden gehandelt und «seine Hände in Unschuld gewaschen» haben dürfte. Cohns Schlussfolgerung lautete demnach, dass mitnichten jüdisches Unrecht, sondern vielmehr das jahrtausendelange Unrecht an den Juden zu korrigieren sei. Die Evangelisten, die Jahrzehnte nach Jesus’ Tod ihre überlieferten Berichte niederschrieben, hätten für das zentrale Ereignis der Passion Christi, an dem letztlich der christliche Heilsgedanke lag, einen Schuldigen gebraucht, der diese Kreuzigung verursacht habe. Dieser Schuldige sei in der Realität zweifelsohne, sowohl von der Motivation der Bekämpfung von vermeintlichem Aufruhr und unbestrittener Handlungsmacht her, Rom gewesen. Doch sich mit Rom durch eine solche Beschuldigung anzulegen, hätte das beargwöhnte und teilweise noch verfolgte Christentum des späten ersten Jahrhunderts gefährdet. Also wurde die Rolle des Hauptschuldigen den politisch machtlosen Juden zugewiesen, die sich dagegen nicht wehren konnten, und entsprechend die ganze Vorgeschichte, die Jesus immer wieder in Gesprächen und Diskussionen mit anderen Juden zeigt, zu einem Diskurs fundamentaler Entfremdung und Gegnerschaft umgeschrieben, der es plausibler erscheinen liess, dass die Juden ihn ermorden wollten.
Kollektives Schuldeingeständnis
Cohns 1968 erstmals erschienenem Buch, so brillant es in seiner juristischen Genauigkeit und Sachlichkeit geschrieben ist, merkt man den unterschwelligen Widerstand dagegen an, nach der Schoah und endlich erlangter Unabhängigkeit von christlicher Seite zu einem verbindlichen kollektiven Schuldeingeständnis der Juden gedrängt zu werden. Während er selbst in seiner Abhandlung aber keinen Hinweis auf die Zeitgeschichte macht, tut dies damals ein anderer, ebenfalls in Israel lebender Jude deutscher Herkunft, nämlich der Religionsphilosoph Schalom Ben-Chorin. In seinem 1967 erschienenen Buch «Bruder Jesus. Der Nazarener aus jüdischer Sicht», das im Rahmen seiner Rolle als israelisch-jüdischem Gesprächspartner mit Nachkriegsdeutschland gelesen werden muss, vollzieht er einen wagemutigen Rollenwechsel, indem er schreibt: «Jesus von Nazareth hat gelebt – er lebt fort, nicht nur in seiner Kirche, die sich auf ihn bezieht (realistischer gesagt: in den vielen Kirchen und Sekten, die ihn in Anspruch nehmen), sondern auch in seinem Volke, dessen Martyrium er verkörpert. Ist der leidende und am Kreuz verhöhnt sterbende Jesus nicht ein Gleichnis für sein ganzes Volk geworden, das, blutiggegeisselt, immer wieder am Kreuze des Judenhasses hing? Und ist die Osterbotschaft seiner Auferstehung nicht wiederum ein Gleichnis für das heute wieder auferstandene Israel geworden, das sich aus der tiefsten Erniedrigung und Schändung der dunkelsten zwölf Jahre seiner Geschichte zu neuer Gestalt erhebt?» Während also Jesus die im Kern fremdgebliebene Referenzfigur für Kirchen und Sekten wird, die behaupten, er sei für sie am Kreuz gestorben, stirbt er in Wirklichkeit stellvertretend den grausamen Tod, mit dem er die Ermordung seines Volkes in der Schoah vorwegnimmt.
Existenzieller Druck
In den knapp sechzig Jahren seit Ben-Chorins, Cohns und Flussers Buchpublikationen hat sich der spürbare, geradezu existenzielle Druck, den jene Generation bei ihrer Annäherung an den jüdischen Jesus verspürte, reduziert. Vielmehr hat das Neue Testament insgesamt den Weg in die Normalisierung innerhalb der Jüdischen Studien angetreten, wovon u.a. das von Mark Zwi Brettler und Amy-Jill Levine 2011 herausgegebene, 2022 auf Deutsch erschienene «Das Neue Testament jüdisch erklärt» zeugt, bei dem mehr als zwei Dutzend Autorinnen und Autoren mitgewirkt haben. Die Besprechung des Buches auf der evangelischen Webseite jesus.ch zeigt, dass die unermüdlichen Bemühungen jüdischer Gelehrter, als Gesprächspartner über die Wurzeln des Christentums anerkannt zu werden, inzwischen weit über die Jesusforschung hinaus gefruchtet zu haben scheinen, wenn der Rezensent erklärt: «Es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass Jesus kein Christ war, sondern Jude. Dasselbe gilt auch für Petrus, Paulus und Co. Darüber hinaus spielt das gesamte Neue Testament in einem Umfeld, das mehr (bei den Evangelien) oder weniger (bei den Briefen) vom Judentum beeinflusst war. Sein wirkliches Verstehen ist ohne Befragung von Jüdinnen und Juden nicht möglich.»
Alfred Bodenheimer ist Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel.