Arendt-Biograph Thomas Meyer im Interview.
Aufbau | Herr Professor Meyer, es ist doch erstaunlich: Hannah Arendt ist in aller Munde. Das liegt auch an Ihnen. Arendts Bücher erscheinen in neuen Ausgaben, in der akademischen Welt wird sie intensiv diskutiert, in Filmen und auf Theaterbühnen taucht ihre Figur auf. Kaum eine Denkerin wird so stark porträtiert. Wie erklären Sie sich diese Wiederentdeckung?
Thomas Meyer | Das ist tatsächlich ein weltweites Phänomen. Ich bekomme Rückmeldungen aus Australien, Afrika, Südamerika – wirklich aus allen Erdteilen. Gerade arbeite ich etwa mit der russischen Übersetzerin meiner Biografie zusammen. Man kann heute nicht mehr sauber trennen zwischen Arendts Werk, ihrer Person und dem politisch-intellektuellen Status, den sie inzwischen hat. Besonders spannend ist, wie unterschiedlich Arendt je nach kulturellem Kontext gelesen wird. In Südamerika etwa gilt sie als linke, feministische, antiimperialistische Denkerin, als Stimme der Entrechteten. In den USA wird sie vor allem als Theoretikerin der Freiheit rezipiert, während in Deutschland ihre Rolle als Emigrantin und Kritikerin der Nachkriegszeit im Vordergrund steht.
Aufbau | Arendt global und losgelöst von Inhalt?
Thomas Meyer | Diese Vielfalt der Deutungen macht Arendt zu einer globalen Ikone. Sie ist eben nicht nur Philosophin, sondern auch eine Figur, deren dramatische Biografie die Brüche und Kata-strophen des 20. Jahrhunderts widerspiegelt. Gerade in unserer Zeit, in der Demokratie und Öffentlichkeit unter Druck geraten, suchen viele Orientierung. Arendt bietet kein bequemes System, sondern ein Denken, das zur Selbstreflexion zwingt – und das macht sie heute so aktuell.
Aufbau | Wenn man versucht, Arendt zu verstehen: Wie wichtig ist es, sie als Jüdin, als Flüchtling und Staatenlose zu betrachten?
Thomas Meyer | Ich glaube, dass man Arendt nur aus diesem Kontext heraus vollständig begreifen kann. Sie selbst beschreibt im berühmten Interview mit Günter Gaus 1964, dass sie durch Kurt Blumenfeld, einen jüdischen Funktionär, politisiert wurde – und zwar über den Zionismus. Politik war für sie von Beginn an eine jüdische Frage. 1933 floh sie vor den Nationalsozialisten nach Paris, wo sie für die Jugendalija arbeitete, eine Organisation, die jüdische Kinder und Jugendliche vor der Vernichtung rettete. Diese Arbeit war für Arendt keine theoretische Übung, sondern gelebte Verantwortung. Sie organisierte Papiere, half bei der Flucht, kümmerte sich um Unterkünfte – ein Leben im Widerstand und im Exil. Diese Jahre prägten sie tief.
Aufbau | Das Verhältnis zum Zionismus war schon aufgrund der philosophischen Haltungen gespalten. War Arendt Zionistin im Verständnis der damaligen Zeit?
Thomas Meyer | In einem bislang kaum bekannten Text von 1937, den ich erstmals im Original veröffentlichen konnte, setzt sie sich sehr kritisch mit dem Mainstream-Zionismus auseinander. Für Arendt bedeutete jüdische Solidarität immer auch Kritik. Bis zu ihrem Tod blieb sie ihrem Volk in einer Haltung verbunden, die man als «kritische Liebe» beschreiben kann: Sie wollte nicht in blindem Nationalismus aufgehen, sondern politisch reflektieren, was Solidarität in der Gegenwart bedeutet.
Aufbau | In den 1940er-Jahren, vor der Staatsgründung Israels, wird Arendts Verhältnis zum Zionismus zunehmend ambivalent. Wie spiegeln sich diese Spannungen in ihren Texten, etwa im «Aufbau» oder im Palästina-Essay, den Sie kürzlich neu herausgegeben haben?
Thomas Meyer | Arendt bewegt sich damals in einem hochkomplexen Umfeld. Sie steht in engem Austausch mit Figuren wie Judah Magnes, dem Präsidenten der Hebräischen Universität, die für eine binational gedachte Lösung in Palästina eintraten. Diese Gruppe warnte vor einem klassischen Nationalstaat nach westlichem Muster, weil sie fürchtete, dass ein solcher Staat nur durch Abhängigkeiten – zunächst vom britischen Mandat, später von den USA – bestehen könne. Arendt teilt diese Sorgen. Ihre Texte aus jener Zeit, etwa die im «Aufbau» veröffentlichten, spiegeln dieses Ringen: Sie war überzeugt, dass das jüdische Volk sich verteidigen muss, plädierte sogar für eine eigene jüdische Armee. Gleichzeitig warnte sie vor den Gefahren eines exklusiv nationalistischen Projekts. Man darf nicht vergessen: Diese Debatten fanden unter dem Eindruck der Shoah und der existenziellen Bedrohung des jüdischen Volkes statt. Es ging, wie Blumenfeld in einer Diskussion mit Arendt sagte, buchstäblich um Leben und Tod.
Aufbau | Arendt war eine politische Theoretikerin, aber auch eine leidenschaftliche Journalistin. Welche Bedeutung hatte der «Aufbau» für sie?
Thomas Meyer | Der «Aufbau» war in den 1940er Jahren ein zentrales Forum für sie. Dort erschienen ihre frühen Texte zu Palästina, zur Flüchtlingspolitik und zur jüdischen Zukunft. Der Bruch kam erst mit der Eichmann-Kontroverse, als die Redaktion scharf gegen sie Stellung bezog. Arendt war nie nostalgisch. Sie hat den «Aufbau» nicht verklärt, aber auch nie versucht, Spuren zu verwischen. In ihren Lebensläufen taucht er stets auf, ohne Distanzierungen oder nachträgliche Rechtfertigungen. Als es zum Bruch kam, zog sie sich einfach zurück – ohne öffentlich nachzutreten. Diese Integrität prägt ihr ganzes Leben: Für Arendt war Schreiben immer Gegenwart, nie blosse Erinnerung.
Aufbau | Ist für Sie Arendts Beziehung zum deutschen Philosophen Martin Heidegger eine Art arendtsche Selbstdekonstruktion als Denkerin, Jüdin, Frau, oder eben die logische Konsequenz aus allem. Wie ist dieses Verhältnis zu verstehen?
Thomas Meyer | Philosophisch lässt sich Arendt nicht von Heidegger trennen. Sein Denken durchzieht ihre Werke – manchmal offen zitiert, oft zwischen den Zeilen. Vita activa (1960) wäre ohne Heideggers Impulse kaum denkbar, auch wenn Arendt einen ganz eigenen Weg geht. Sie übernimmt nicht einfach, sondern widerspricht, erweitert, korrigiert. Biografisch war das Verhältnis noch komplizierter. Arendt begegnete Heidegger als junge Studentin – er war ihr Lehrer, Geliebter und prägender intellektueller Einfluss. Nach 1933 brach der Kontakt ab, weil Heidegger sich offen zum Nationalsozialismus bekannte. Dass Arendt ihn nach dem Krieg wieder traf, war für viele unverständlich. Sie besuchte ihn sogar in Todtnauberg und hielt 1969 einen Vortrag zu seinem 80. Geburtstag.
Dieser Text ist faszinierend, weil Arendt dort Persönliches und Philosophisches vermischt – etwas, das sie sonst strikt vermied. Sie wusste genau, wie kompromittiert Heidegger war. In Briefen nennt sie ihn einen «absoluten Lügner». Sie ahnte, dass seine antisemitischen Gedanken tiefer gingen, als öffentlich bekannt war. In Marbach liegen Manuskripte, die Heidegger ihr schenkte und die zeigen, wie weit seine Verstrickung tatsächlich reichte. Selbst in diesen gekürzten Texten konnte Arendt erkennen, wie korrumpiert sein Denken in den 1940er Jahren war.
Aufbau | Warum kehrte sie dennoch zu ihm zurück?
Thomas Meyer | Vielleicht war es das Bedürfnis, den eigenen Ursprung zu konfrontieren. Heidegger war Teil ihrer geistigen DNA – ihn völlig zu leugnen hätte bedeutet, sich selbst zu verleugnen. Arendts spätere Überlegungen zu Wahrheit und Lüge, Denken und Handeln sind ohne diese Erfahrung kaum vorstellbar. Sie machte sichtbar, wie eng persönliches Leben und philosophisches Denken verflochten sind – und wie gefährlich es ist, diese Trennung zu leugnen.
Aufbau | Georg Steiner, Emmanuel Levinas, Paul Celan und viele andere jüdische Denker haben mit Heidegger gerungen. Wie hätte Arendt dann auf die Schwarzen Hefte Heideggers und die sehr antisemitischen Passagen reagiert?
Thomas Meyer | Ja, und das macht die Situation noch komplexer. Viele jüdische Intellektuelle der Nachkriegszeit hielten trotz allem an Heideggers Philosophie fest. Sie trennten radikal zwischen Denken und Biografie. Arendt ging einen anderen Weg: Sie verband die philosophische Auseinandersetzung mit einer existenziellen Erfahrung.
Ihr Umgang mit Heidegger war weder naive Versöhnung noch reine Ablehnung. Es war der Versuch, sich dem Dunkel der eigenen Geschichte zu stellen. In dieser Hinsicht ist Arendt einzigartig. Ihr Denken bleibt dadurch riskant – und genau das macht es so fruchtbar. In ihrer Biografie verkörpert sich die Frage, ob man einen grossen Denker würdigen kann, ohne seine moralischen Verfehlungen zu verschweigen. Diese Frage ist heute aktueller denn je. Arendt hat immer geahnt, dass da noch was kommt. Insofern hätte sie die Schwarzbücher nicht überrascht.
Aufbau | Arendts Buch «Eichmann in Jerusalem» löste 1963 in den USA und ein Jahr später in Deutschland einen Skandal aus. Wie ordnen Sie die Kontroverse heute ein?
Thomas Meyer | Das Eichmann-Buch war nicht Arendts erster Tabubruch. Schon 1945 hatte sie mit ihrem Essay «Zionism Reconsidered» die zionistische Selbsterzählung in Frage gestellt – für Gershom Scholem und viele andere eine Provokation. Als dann das Eichmann-Buch erschien, kam ein zweiter Schlag hinzu: Arendt kritisierte die Art, wie der junge Staat Israel den Prozess inszenierte, und prägte den Begriff der «Banalität des Bösen». Besonders verletzend war die Nüchternheit ihres Tons. Sie beschrieb Eichmann nicht als Monster, sondern als erschreckend durchschnittlichen Menschen, der seine Verbrechen in bürokratischer Routine vollbrachte. Für viele Überlebende und ihre Familien war das kaum erträglich. Hinzu kam der Ort der Erstveröffentlichung: im New Yorker, zwischen Werbung für Parfum und Zigaretten. Plötzlich wurde das intimste, in vielen Familien unausgesprochene Trauma auf den Marktplatz der Weltöffentlichkeit getragen. Die heftigsten Angriffe kamen nicht von Scholem selbst, sondern vom Leo-Baeck-Institut in Jerusalem, das Broschüren gegen Arendt veröffentlichte. Arendt reagierte souverän: «Wenn ihr euch mit jemandem anlegen wollt, dann mit mir – ich kann mich wehren.» Diese Würde beeindruckte selbst ihre Gegner.
Aufbau | Karl Jaspers war der intellektuelle Gegenpol zu Martin Heidegger. Was bedeutete die Freundschaft zu ihm und seiner Frau Getrud?
Thomas Meyer | Hannah Arendt pflegte eine enge intellektuelle Beziehung zu Karl Jaspers und seiner Frau Gertrud. Jaspers sprach Arendt in ihren Briefwechseln lange als «Deutsche» an, nicht als Jüdin – auch nach dem Krieg. Erst im Kontext des Eichmann-Prozesses rückte für ihn ihre jüdische Identität in den Vordergrund, was Arendt irritierte. Nach der Veröffentlichung des Eichmann-Buchs unterstützte Jaspers Arendt öffentlich, während Gertrud Jaspers wie Arendt selbst ein geplantes «Hannah-Buch» von Jaspers ablehnte. Diese Dreiecksbeziehung war geprägt von gegenseitiger Bewunderung, aber auch von Spannungen, besonders als Arendt zur kontroversen Figur der internationalen Debatte wurde. Beide Frauen lehnten entschieden ab, dass Karl Jaspers ein «Hannah-Buch» über Arendt schriebe – insbesondere nach der Kontroverse um das Eichmann-Buch. Gertrud verstand Arendts Verletzlichkeit und ihre Position als Jüdin besser als ihr Mann und nahm oft eine vermittelnde, loyale Rolle ein. Während Jaspers Arendt lange vor allem als «Deutsche» sah, erkannte Gertrud klar ihre jüdische Identität und unterstützte sie gerade in Zeiten öffentlicher Anfeindungen.
Aufbau | Wenn sie auf ihr Gesamtwerk schauen: Was macht Hannah Arendt inhaltlich zeitlos relevant?
Thomas Meyer | Da sehe ich drei Ebenen: Erstens ihre Analysen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts – Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. Diese Phänomene verschwinden nicht, sie kehren in neuen Formen wieder. Zweitens ihr positiver Gegenentwurf, besonders in Vita activa: der freie, tätige Mensch, der in Verantwortung für sein Handeln steht und auf andere angewiesen ist. Drittens ihr jüdischer Kontext: Arendt war tief geprägt von den Erfahrungen der Verfolgung und des Exils. Ihr Denken bleibt in Spannung zu dieser Herkunft. Sie wollte nicht auf eine «jüdische Denkerin» reduziert werden, und doch wäre ihr Werk ohne diese biografische Grundlage nicht denkbar. Diese Spannung – zwischen partikularer Erfahrung und universalem Anspruch – macht ihre Philosophie heute so aktuell. Gerade in Zeiten von Krieg, Migration und globalen Krisen ist Arendt wieder brandaktuell. Ihre Analysen helfen uns, nicht nur die Gefahren zu sehen, sondern auch die Möglichkeiten des politischen Handelns.
Aufbau | War Hannah Arendt letztlich eine jüdische Denkerin – oder eine Denkerin, die auch Jüdin war?
Thomas Meyer | Ich würde klar Letzteres sagen. Ich bin sehr vorsichtig mit dem Begriff «jüdisches Denken». Natürlich war Arendt durch ihre jüdische Herkunft, ihre Fluchterfahrung, ihre Arbeit für die Jugendalija geprägt. Aber ihr philosophisches Werk sprengt diese Kategorie. Sie war eine Jahrhundertdenkerin, die universal dachte – ohne ihre Herkunft je zu verleugnen. Gerade diese Spannung macht sie so interessant. Ihr Werk ist kein abgeschlossenes System, sondern eine Einladung, selbst zu denken. Deshalb bleibt sie für uns alle herausfordernd.Yves Kugelmann ist Chefredaktor des aufbau.