Juden und israel 30. Mai 2025

Die Erfindung der Diaspora

Der Babylonische Talmud ist im Exil entstanden.

Der Talmud ist unumgänglich im Verständnis des Judentums und der Idee eines jüdischen Staates. Doch wie steht er zum heutigen Nationalstaat?

Das Argument der religiösen Parteien, dass junge orthodoxe Männer, die den Talmud studieren, keinen Militärdienst leisten müssen, war, dass sie gleich viel zur Verteidigung des Staates beitragen würden wie jene, die eine Waffe tragen oder einen Panzer steuerten.

David Ben-Gurion gab der Forderung als Gegenleistung dafür nach, dass sie die Regierung unterstützten, denn er war der festen Überzeugung, dass dieser Anachronismus nach spätestens einer Generation verschwunden sein würde.

Er irrte sich gründlich, das Gegenteil traf ein. Seit der Räumung des Gazastreifens 2005 traten immer mehr Orthodoxe der Armee bei, weil sie eine Wiederholung dieser Schmach um jeden Preis vermeiden wollten. Sollte es je wieder einen Räumungsbefehl geben, so wird die Regierung keine Armee mehr haben, die ihm nachkommen wird, so das Kalkül der orthodoxen Nationalisten. Sie stellten dafür eigens ein Programm auf die Beine, Hesder genannt, welches das Talmudstudium mit dem Dienst an der Waffe verband.

Talmud und Politik
Das Talmudstudium ist mehr denn je zu einem politischen Bekenntnis geworden. Was erstaunlich ist, wenn man den Talmud kennt.

In meinem Umfeld, dem jüdischen wie dem nicht jüdischen, wissen die wenigsten über den Talmud Bescheid. Es ist lediglich bekannt, dass er den Juden wichtig ist, eine Art Gesetzbuch oder so. Oder auch ein Bibelkommentar. Oder beides.

Das ist alles nicht falsch: Der Talmud ist ein Buch des jüdischen Rechts. Dieses besteht aus einer schriftlichen und einer mündlichen Überlieferung. Der schriftliche Teil wird gemeinhin Altes Testament genannt, der mündliche wurde der Legende nach am Berg Sinai den Israeliten gleichzeitig mit dem Verbot übergeben, die mündliche Lehre je aufzuschreiben. Die Aufteilung war sinnvoll, denn so hatte das Gesetz ein starres und fixes und ein flexibles und anpassungsfähiges Standbein.

Nach der Zerstreuung
Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels zerstreute sich das jüdische Volk in alle Richtungen, vor allem aber nach Babylonien, etwa das Gebiet des heutigen Iraks. Das Verbot, die mündliche Lehre aufzuschreiben, war nicht mehr aufrechtzuerhalten, sie wäre sonst vollständig verloren gegangen. Deshalb wurde um das Jahr 200 das mündlich überlieferte Religionsgesetz erstmals kodifiziert. Zwischen dem dritten und dem achten Jahrhundert wurden diese Gesetze in den Lehrhäusern Palästinas und Babyloniens weiter diskutiert, an neue Umstände angepasst, modifiziert und präzisiert. Diese Diskussionen wurden protokolliert und etwa um das Jahr 700 als Buch herausgegeben. So entstanden die zwanzig dicken Foliantenbände des Talmuds.

Man muss sich den Talmud als Protokoll einer ziemlich undisziplinierten Schulklasse vorstellen: Einer trägt auswendig ein Gesetz vor, und die Teilnehmer interpretieren es unter der Leitung eines Lehrers. Es werden dabei Widersprüche zu anderen Gesetzen ausgedeckt, Unklarheiten beseitigt, und es wird die Quelle des Gesetzes genannt. Dann erwähnt einer ein ähnliches Gesetz, einem anderen fällt dazu eine passende Anekdote ein und ein dritter berichtet von alten Mythen, die einen losen Zusammenhang mit dem Thema haben.

Zwar erzählt jeder, was ihm so in den Sinn kommt, dennoch haben beinahe alle Abschnitte dieselbe Struktur: 1. Ein Gesetz wird vorgetragen 2. Ein Widerspruch zu diesem Gesetz wird entdeckt und vorgetragen 3. Der Widerspruch wird aufgelöst, und die Einheit des Gesetzes wiederhergestellt. 4. Dadurch entsteht ein neuer Widerspruch, der wiederum aufgelöst werden muss. Meist endet dieser Dreischritt – Gesetz-Widerspruch-Auflösung – offen, ohne eine Entscheidung zu fällen.

Opferritual ohne Tempel
Noch heute studiert beinahe jeder religiöse Jugendliche – nur Männer wohlverstanden, obwohl auch dies sich allmählich ändert! – während Jahren in Talmudhochschulen, ob nun in Verbindung mit dem Militärdienst oder nicht. Sie diskutieren diese Gesetze, obwohl die allermeisten für ihr Leben absolut keine Rolle spielen: Sie beschäftigen sich mit Opferritualen, obwohl es keinen Tempel gibt, mit Steuerrecht, obwohl es während Jahrhunderten keinen Staat gab, oder mit Situationen, die so ausgefallen sind, dass selbst der Talmud zugeben muss, dass sie niemals eintreten werden.

Wenn man nun einen dieser Jugendlichen in Brooklyn, London, Antwerpen oder Jerusalem fragt, weshalb er sich jahrelang völlig nutzloses Wissen aneignet, Stunden damit zubringt, Maulkörbe, die man Ochsen während ihrer Arbeit umlegen darf, von Maulkörben zu unterscheiden, die verboten sind – dieses Gesetz studiere ich im Moment ein bis zwei Mal wöchentlich per Zoom mit einem Freund in New Jersey –, wird er nach einer kurzen Pause (denn er versteht die Frage zunächst gar nicht) erstaunt antworten: Weil es eine religiöse Pflicht ist. Ich würde antworten: Weil es Spass macht. Wir stimmen darin überein, dass es ein Lernen um des Lernens willen ist, ohne Nutzen, ohne Zweck und ohne Ziel.

Die Entstehung des Talmud
Das Studium des Talmuds ist also, wie das Legen von Mandalas oder die Einsiedlerexistenz mittelalterlicher Mönche, eine rituelle Lebensweise. Beinahe alle Kulturen kennen Bereiche, die aus jedem Verwertungszusammenhang gerissen sind. Meist werden diese zwecklosen Tätigkeiten, die heilig genannt werden, von einer dafür bestimmten Gruppe in einem dafür abgegrenzten Gebiet ausgeführt. Zum Beispiel von in Klöstern betenden Mönchen.

Im Judentum ist das Heilige im Unterschied dazu vollkommen in den Alltag integriert und wird zumindest von allen Männern ausgeübt.

Die Legende über die Entstehung des Talmuds, die er selbst berichtet, hilft, diese Lebensweise und ihre politische Bedeutung besser zu verstehen.

Die Antwort
Wir schreiben das Jahr 70. Im seit drei Jahren belagerten Jerusalem sterben die Menschen wie die Fliegen. Hunger und Seuchen raffen nicht nur Kinder, Alte und Kranke dahin, auch die ersten Kämpfer sterben. Dennoch ist niemand bereit, sich zu ergeben. Wer auch nur den Gedanken an Verhandlungen äussert, muss um sein Leben fürchten. In dieser Situation ruft der geistliche Führer der Juden, Rabbi Jochanan ben Sakai, seinen Neffen Abba Sikra zu sich, den Kommandanten der jüdischen Miliz. «Wie lange willst du noch die Einwohner Jerusalems durch Hunger töten?» «Was soll ich tun?», antwortet Abba Sikra, «wenn ich etwas sage, werden sie mich töten.» «Mach einen Plan, wie du mich aus der Stadt herausbringst», weist Rabbi Jochanan ihn an, «vielleicht gibt es dann noch ein wenig Erlösung.» Nach einiger Überlegung antwortet Abba Sikra: «Gib vor, krank zu sein, und lass alle deine Bekannten zu dir kommen, um sich nach deinem Gesundheitszustand zu erkundigen. Leg etwas Übelriechendes unter die Decke, damit sich das Gerücht verbreitet, du seist tot. Lass deine Jünger unter das Bett kriechen und es anheben, denn jeder weiss, dass ein lebender Mensch leichter ist als eine Leiche.» Rabbi Jochanan tut, wie ihm geheissen. Nach einigem Hin und Her erlauben seine Wachen zwei seiner Jünger, den Sarg aus der Stadt zu tragen, um ihm ein würdiges Begräbnis zu ermöglichen.

Leben verwirkt
Im römischen Lager trifft Rabbi Jochanan ben Sakai auf den römischen Befehlshaber Vespasian und begrüsst ihn mit den Worten: «Friede sei mit dir, oh König.» «Du hast zweimal dein Leben verwirkt», antwortet Vespasian, «erstens bin ich kein König, und zweitens hättest du mich schon längst suchen müssen, wenn ich König wäre.» In diesem Moment trifft ein Bote aus Rom ein und verkündet, dass Vespasian zum Kaiser ausgerufen worden ist. Glücklich, dass sich die Prophezeiung des Rabbis erfüllt hat, verspricht er, ihm drei Wünsche zu erfüllen. «Gib mir Yavneh und seine Weisen, die Familie von Rabban Gamliel und einen Arzt für Rabbi Zaddok», antwortet Jochanan ben Sakai. (Babylonischer Talmud, Traktat Gittin 56a; Paraphrase des Autors)

Jochanan ben Sakai verlangt weder die Aufhebung der Blockade, noch die Rettung des Tempels, noch politische Autonomie. Er setzt sich auch nicht für das Leben der Eingeschlossenen ein. Er fordert lediglich eine Akademie in Yavne, ein unbedeutendes Städtchen im Süden von Tel Aviv, die Freilassung der hoch angesehenen Familie Gamliel und einen Arzt für seinen kranken Freund Rabbi Zadok. Die Einwohner Jerusalems überlässt er der Willkür der Römer. Tatsächlich fällt Jerusalem ein Jahr später, und Vespasians Sohn Titus, der inzwischen das Kommando übernommen hat, lässt im August 70 den Tempel schleifen, alle religiösen Utensilien nach Rom verschleppen und die Einwohner töten. 1,1 Millionen Menschen sollen dem Massaker zum Opfer gefallen sein.

Was trieb Ben Sakai zu diesem Verrat an seinem Volk, dessen unangefochtener geistlicher Führer er war? Warum blieben seine Forderungen so unpolitisch, weshalb wählte er weder Frieden noch Freiheit? Warum kümmerte ihn die politische Souveränität und das Überleben seiner Glaubensgenossen so wenig? Vor allem aber: Warum wählten die Herausgeber des Talmuds 500 Jahre später gerade diese Legende als ihren Ursprungsmythos? Sie lassen ihre eigene Geschichte nicht, wie wir vielleicht erwarten würden, mit einer Heldentat beginnen, sondern mit einem erbärmlichen Verrat am eigenen Volk.

Die tragbare Religion
Rabbi Jochanan sah offenbar ein, dass das jüdische Volk mit einer an ein Territorium, an die Heilige Stadt Jerusalem und an eine Kultstätte gebundene Religion keine Überlebenschance hatte. Es gab dutzende, wenn nicht hunderte solcher Kulte im mittleren Osten, ein Gemisch aus alten Naturreligionen, asiatischen Lebensphilosophien und griechischen Versatzstücken, und jeder konnte sich aus dieser Gemengelage eine eigene Religion basteln. Dem römischen Anspruch auf ein Weltreich kam dies gar nicht entgegen, ein geeintes Imperium braucht auch eine einheitliche Religion.

Rabbi Jochanan kam nun auf die Idee, den Tempel, die Heiligen Stätte, die Nation, alles also, was die Einheit des jüdischen Volkes garantierte, durch ein Buch über den Tempel, die Heiligen Stätten und die Nation zu ersetzen. Statt Tiere auf dem Alter zu opfern, was alle Kulte zu jener Zeit machten, wird über die Opfer auf dem Altar diskutiert, statt eine Mauer um Jerusalem zu bauen wird darüber diskutiert, wie eine Mauer um Jerusalem auszusehen hat, statt kultische Statuen hinzustellen wird darüber diskutiert, welche Bilder erlaubt sind und welche nicht.

Rabbi Jochanan erfand also nichts weniger als eine tragbare Religion; aus Steinen wurden Buchstaben, aus Hierarchien Debatten, aus kultischen Handlungen Diskussionen über kultische Handlungen, aus der Stadt Jerusalem wurde die Sehnsucht nach Jerusalem.

Er erfand mit anderen Worten eine Religion für die Diaspora, weil er verstanden hatte, dass es während sehr langer Zeit keinen souveränen Staat geben würde. Die Einheit des jüdischen Volkes wurde in dieser Zeit einzig durch das Lernen, durch das gemeinsame Studium des Talmuds gewährleistet (ohne Frauen!). Lernen ist im Jiddischen ein intransitives Verb, man lernt nicht etwas, sondern man lernt nur um des Lernens willen. Ohne Zweck und ohne Ziel.

Kein gemeinsamer Kultus
Dadurch wurde die Stabilität dieser nomadischen Religion gewährleistet, denn sobald es um Nutzen und Leistung geht beginnen die Konkurrenzkämpfe, an denen jede Einheit zerbricht. Keine gemeinsame Sprache, kein gemeinsamer Kultus, keine gemeinsame Speisefolgen, auch keine gemeinsame Geschichte – nordafrikanische Juden haben eine völlig andere Geschichte als polnische – verband die Juden, sondern einzig und alleine das unendliche Gespräch. Das Lernen des Talmuds bildete die Einheit des jüdischen Volkes, und jedes Lernen schreibt den Talmud gleichsam fort: So entstand ein unendliches Netz miteinander verbundener Gedanken, in dem die Juden gleichsam hausten, bis…

Ja, bis das Schlimmste geschah, was einer Sehnsucht passieren kann: Sie wurde erfüllt. Plötzlich war da wieder ein Land, eine Nation, eine gemeinsame Sprache, eine Armee und Falafel, und es gibt tatsächlich nicht wenige Irre, die auch den Tempel wieder aufbauen wollen, inklusive Tieropfer.

Jochanan ben Sakai und seine Weggefährten hatten keinen Moment darüber nachgedacht, was am Ende der Diaspora geschehen würde, darum sollte sich der Messias kümmern. Doch statt des Messias kamen Benjamin Netanyahu und seine Gesellen und zerstörten alles, was das Judentum bis dahin ausgemacht hatte: Der Talmud wurde von den nationalistischen und rechtsextremen religiösen Fanatikern gekapert und als kulturelles Kapital eingesetzt. An die Stelle eines geistigen Erbes, das ohne Territorium auskommt, ja das nur ohne Territorium überlebt, trat eine Territorialmacht, die das geistige Erbe als Waffe benutzt, als Überlegenheitsemblem.

Aus dem Strassenbild von Jerusalem sind junge Männer mit grossen Käppchen, langen Schläfenlocken, die Schaufäden aus den Hosen hängend und einer Uzi über der Schulter nicht mehr wegzudenken, und man weiss auch gleich, welcher Ideologie sie anhängen: Aus einem relativ harmlosen religiösen Nationalismus hat sich in den letzten Jahren eine fanatisch antidemokratische, rassistische, faschistische Ideologie entwickelt, deren Markenzeichen das intensive Talmudstudium ist.

Damit bereitet der mit Hilfe des Talmuds durchmilitarisierte Staat Israel das Ende des Judentums vor – zumindest so, wie ich es gekannt habe.

Daniel Strassberg ist ehemaliger Talmudstudent, Psychoanalytiker und Publizist und lebt Zürich.

Daniel Strassberg