Juden und israel 30. Mai 2025

Das Land der Heimsuchung

Ein israelischer Soldat besucht auf dem Festivalgelände in der Nähe des Kibbutz Reim im Süden Israels eine Gedenkstätte mit Porträts von Menschen, die bei dem Hamas-Angriff auf das Supernova…

Ist Israel ist durch den 7. Oktober 2023 jüdischer geworden und die Diaspora israelischer? Essay eines europäischen Israeli und israelischen Europäers.

An jenem siebten Oktober schien es vielen, als sei Israel jüdischer geworden denn je, doch die Diaspora so israelisch wie noch nie. Die Pioniernation, die entstanden war, um der Vergangenheit der Ghettos und der Pogrome zu entkommen, war durch die Massaker der Dschihadisten eingeholt worden von den Traumata einstiger Verfolgung. Der Nimbus der Unbesiegbarkeit lag danieder.

Jüdische Diaspora zuerst
Die jüdische Diaspora wurde, ehe noch die israelische Armee imstande gewesen war, zurückzuschlagen und den Feind wieder aus dem eigenen Kernland zu drängen, zum Ziel von Angriffen. Jüdische Geschäfte wurden beschmiert, Monumente zur Erinnerung an die Schoah geschändet, Juden attackiert. Kein Wunder, wenn in diesem Moment die Verbundenheit zwischen dem Judenstaat und den jüdischen Gemeinden besonders stark wurde.

Israels Existenz – nicht nur jene des Staates Israel, sondern ebenso diejenige des Volkes Israel im biblischen Sinne – ist davon geprägt, seit jeher umstritten und bedroht zu sein. Wenn im Nahen Osten geschossen wird, dürfen Juden weltweit damit rechnen, ins Fadenkreuz zu geraten. Der Antisemitismus ist mit dem Bestehen der israelischen Nation nicht verschwunden, sondern lebte im Hass gegen Israel wieder auf.

So eng die meisten Diasporagemeinden im Herbst 2023 mit den Israeli fühlten, waren doch viele von ihnen in den Monaten davor über das, was in Israel geschah, entsetzt. Die offene Gesellschaft, die vielerorts die Freiheit und die Entfaltung jüdischen Lebens bestärkte, war just im eigenen Land unter Beschuss geraten. Der unabhängige Rechtsstaat drohte ausgehöhlt zu werden. Wie sollten jüdische Verbände auf allen Erdteilen vor rechtsextremen Parteien warnen, wenn nun rassistische Rechtsextreme im Jerusalemer Kabinet sassen? Die Gemeinden in der Diaspora fordern die Erinnerung an die Verbrechen des Nazismus ein, während Bezalel Smotrich, der Finanzminister des Judenstaates, gar kein Problem damit hat, als Faschist bezeichnet zu werden?

Die Gemeinden ausserhalb Israels sind für eine klare Trennung von Staat und Religion. Aber Teile der israelischen Koalition sind religiöse Fundamentalisten. Sie sprechen allen Spielarten des Judentums, die nicht orthodox sind, jegliche Existenzberechtigung ab. Sie zielen damit gegen die jüdische Vielfalt in den verschiedenen Ländern, doch insbesondere in den USA.

Teile der Diaspora fühlen mit der israelischen Opposition. Aus dem Staat, der gegründet wurde, damit jüdische Menschen nie mehr Ausgestossene sind, sondern in Freiheit und Würde leben können, droht ein Land zu werden, in dem Juden und Jüdinnen, die in Freiheit und Würde leben wollen, zu Ausgestossenen werden könnten.

Spiegelung der Kluft
Die Kluft, die in der israelischen Gesellschaft aufging, spiegelt sich in der Diaspora wider. In den Monaten nach dem siebten Oktober traten diese Widersprüche in den Hintergrund, doch bald schon forderte jene Zivilgesellschaft, die monatelang für die Demokratie und den Rechtsstaat auf die Strasse gegangen war, auch ein Abkommen zur Rettung der Geiseln, während in der Regierung Stimmen laut wurden, die jeden Kompromiss zum Freikauf der Entführten ablehnten und zur jüdischen Wiederbesiedlung Gazas aufriefen.

Die Debatte in der israelischen Gesellschaft drang zur Diaspora durch, doch herrschte da ein anderer Kontext als dort. In den meisten israelischen Medien war kaum vom Leid in Gaza und den Übergriffen im Westjordanland die Rede. Ausserhalb des Landes war hingegen kaum mehr von den Massakern der Hamas und den Geiseln zu hören. Während in Israel der siebte Oktober fortdauerte, scheint er vielerorts nie stattgefunden zu haben.

Antisemitismus von links und rechts
Die jüdische Diaspora erlebt das Anschwellen eines Antisemitismus, der von rechts, von links, aus migrantischen Schichten stammt, doch auch in der Mitte der Gesellschaft grassiert. Die meisten der Juden und Jüdinnen stehen zu Israel, bangen um die Sicherheit seiner Bevölkerung, aber das Verhältnis zum Staat hat sich verändert. Anders als frühe Zionisten einst geglaubt hatten, verschwand die Diaspora nicht mit der Gründung des Judenstaates, sondern gewann an neuem Selbstbewusstsein. Da nun jederzeit ein Flug nach Tel Aviv gebucht werden konnte, liess es sich auch in London, in Berlin oder in New York leben. Juden hatten nun eine eigene Stimme innerhalb der internationalen Staatenwelt. Sie waren nicht mehr nur ein Objekt in Ohnmacht. Israel war ein Hort der Hoffnung.

Aber seit dem siebten Oktober scheint diese Zuversicht geschwunden zu sein. Israel versagte im Herbst des Jahres 2023 als Garant jüdischen Lebens. Nicht wenige der Überlebenden der Massaker meinen, der Staat habe das eigene Land und sein Volk im Stich gelassen. Je länger der Krieg in Gaza dauerte, desto deutlicher wurden auch jüdische Äusserungen des Zweifels und der Kritik. Zudem forderten Minister der Koalition immer heftiger die Eroberung Gazas, das Aushungern und das Vertreiben der palästinensischen Bevölkerung.

Auch im Kampf gegen Antisemitismus folgt der Staat zusehends anderen Richtlinien als die Diaspora. Die rechte Regierung Israels strebt Bündnisse mit Parteien und Regimen an, die in ihren Ländern gegen Minderheiten und gegen die offene Gesellschaft hetzen. Im März 2025 nahmen Intellektuelle und Funktionäre der jüdischen Diaspora nicht an einer israelischen Konferenz gegen Antisemitismus teil, zu der jene rechtsextremen Fraktionen eingeladen waren, die sie aus ihrem heimisch politischen Umfeld als Feinde der pluralen Demokratie und des Judentums nur allzu gut kennen.

Quelle des Selbstbewusstseins
Israel war jahrzehntelang ein Identifikationsort der Juden weltweit. Was der Mehrheit des Judentums eine Stätte der Heimfindung war, droht indes für viele – insbesondere in der jüngeren Generation – zu einem Land der Heimsuchung zu werden. Der Judenstaat stellte nach 1948 für die jüdischen Gemeinden eine Quelle des Selbstbewusstseins und des Stolzes dar, aber nun sind viele zerrissen zwischen ihrer Verbundenheit zum Land und der Scham, die sie empfinden aufgrund dessen, was die Jerusalemer Koalition im Namen des gesamten jüdischen Volkes verkündet und beschliesst. Die Mehrheit der Juden verstand die Notwendigkeit des Krieges gegen die Hamas und ihrer Entmachtung in Gaza, aber sie sind gleichwohl davon überzeugt, dass das kein Freibrief für Kriegsverbrechen, für eine Hungerblockade oder für Übergriffe fanatischer Siedler auf palästinensische Menschen im Westjordanland sein kann.

Der Stimmungswechsel hat gewiss nicht alle Fraktionen des Judentums gleichermassen erfasst. Nicht wenige jüdische Familien aus Frankreich, den USA und Kanada zogen in den letzten Jahren nach Israel – nicht selten, weil sie den Anstieg antisemitischer Ressentiments in ihren Ländern nicht mehr ertragen wollten. Zeitgleich kehrten auch viele Israeli ihrer Heimat den Rücken.

Die allermeisten in den Gemeinden der Diaspora fühlen weiterhin mit Israel und bangen um das jüdische Leben in Zion, aber das Vertrauen zur israelischen Regierung, zu ihrem Vorgehen gegen den demokratischen Rechtsstaat und zu ihrer Kriegsführung schwindet und war noch nie so schwach. Die Sorge um den Staat und seine Politik nimmt zu. Nicht wenige äussern deshalb ihre Bedenken und bezeugen ihre Verbundenheit mit der israelischen Zivilgesellschaft nicht alleinig durch ihre Solidarität im Moment elementarer Bedrängnis, sondern ebenso mit ihrer Kritik, denn zu Recht setzen sie das Land nicht mit der bestehenden Koalition gleich.

Die Verbindung zu Zion ist deshalb keineswegs aufgelöst. Gleichgültig ist das Land keiner der verschiedenen jüdischen Gruppierungen, nicht den zionistischen, doch – welch Ironie! – schon gar nicht den antizionistischen, die kein anderes Thema zu haben scheinen. Israel bleibt weiterhin der Fluchtpunkt jüdischer Auseinandersetzungen und Debatten. Aber während es noch vor wenigen Jahren ein Lichtblick war, scheint es derzeit – da noch Geiseln in den Tunneln sind, der Krieg in Gaza tobt, aus allen Himmelsrichtungen Raketen gegen den Judenstaat abgefeuert werden, abertausende Unschuldige sterben – ein Schatten seiner einstigen Verheissung.

Doron Rabinovici ist israelisch-österreichischer Schrifsteller und lebt in Wien.

Doron Rabinovici