jesus 11. Dez 2025

Das Kreuz mit dem Juden

Igael Tumarkin, «Bedouin Crucifixion», 1982, Holz, im The Israel Museum, Jerusalem. 

Die künstlerische Darstellung von Jesus und an seine Lebenserzählung anknüpfenden Motiven wie dem Leiden, der Hoffnung und der Auferstehung sind unter jüdischen Kunstschaffenden reichlich vorhanden. Ein Blick auf die Darstellung von Jesus in der Kunst der jüdischen Moderne.

Im Jahr 1879 malte Max Liebermann ein grossformatiges Bild, das den 12-jährigen Jesus im Jerusalemer Tempel darstellt. Der Schauplatz ist eine Synagoge in Westeuropa, wohl in Hamburg, mit Leuchter, Lesepult und Bänken, der Innenraum im Stil des zeitgenössischen Historismus. Der Jesusknabe wird ohne die Aura des Heiligen dargestellt. Liebermanns Jesus erscheint im Zuge des bürgerlichen Realismus als Knabe, der aufgeweckt nach Wissen fragt. Gerade die Abwesenheit des visuell Auratischen aber empörte Konservative, die über Liebermann aufgebracht waren. Das war auch der Fall gewesen, als 20 Jahre zuvor der hochgeachtete Adolph von Menzel einen «Christusknaben im Tempel» gemalt hatte, der an den von Rembrandt van Rijn gemalten Bibelgestalten orientiert war und das Bildgeschehen in das Ambiente eines orientalischen Judentums verlegte. Beide Bilder riefen Reaktionen hervor, die damals als Skandal empfunden wurden. Die heftige öffentliche Kritik dokumentiert die Kluft zwischen Glauben und Kunst, die von der frommen Malergilde der Nazarener im Sinne der Romantik noch überbrückt schien, als sie ihre Kunst in Glauben wandelten. So disputierte man im Vorlauf zum 20. Jahrhundert über das «Christusideal in der deutschen Kunst», wie der Titel einer 1896 in Berlin gezeigten Ausstellung lautete. Nicht zuletzt wurde in der Debatte auch der moderne, sprich: historische, Jesus berührt. Im Fokus standen die Gemälde Menzels und Liebermanns, in einer Zeit, als in Berlin das Aufkommen von Antisemiten-Vereinen festzustellen war. Die öffentliche Skandalisierung operierte dabei nicht allein mit der Kritik an den Stilmitteln, sondern mit dem Vorwurf der Blasphemie, der Gotteslästerung. Öffentlicher Hohn und Empörung machten diese beiden Fälle zu einem «Jesus-Skandal» in der Auseinandersetzung mit Kunst.

Den Kontext zu diesen Bildern bildeten Publikationen, die den historischen Jesus von seiner theologisch zugemessenen Rolle unterschieden. In Paris hatte Ernest Renan «Das Leben von Jesus» (1863) als einen Weg aus den antiken Verhältnissen seiner Zeit heraus erklärt und die Gestalt Jesu als einen Menschen verstanden, der erst nach seinem Tod von seinen Anhängern zu einer Inkarnation Gottes ausgerufen wurde. In Deutschland unterschied der von G.W.F. Hegel inspirierte David Friedrich Strauss den historischen Jesus von einem Christus des Glaubens, eine Grenzziehung, die bereits im 18. Jahrhundert durch Gotthold Ephraim Lessing angebahnt wurde. Heinrich Graetz, der eminente jüdische Historiker in Deutschland, verwies wiederum auf die Umstände des Prozesses und der Hinrichtung Jesu, die allein der herrschenden Macht, dem römischen Imperium, zuzuschreiben seien. Ganz in diesem Sinne stellte der polnisch-jüdische Künstler Maurycy Gottlieb Jesus vor seinen Richtern und als lehrenden Rabbi in der Synagoge von Kapernaum (1878) vor antikem römischem Dekor dar.

Jesus als Inbegriff jüdischer Treue
Die Bilder von Gottlieb und Liebermann, die Jesus als treuen Juden zeigen, kann sowohl auf die Ignoranz der christlichen Mehrheitsgesellschaft gegenüber geschichtlichen Tatsachen gemünzt werden wie auch als Abwehr judenfeindlicher Anfechtungen. Sie sind aber auch eine Kritik an der Ignoranz jüdischer Gemeinden gegenüber der Gestalt des historischen Jesus und der Apostelgeschichte als Dokument der jüdischen Geschichte. Immerhin hatten Rabbiner und jüdische Historiker in Deutschland, wie Heinrich Graetz, Abraham Geiger und Moritz Friedländer, den geschichtlichen Jesus in einer der vielen Strömungen innerhalb des antiken Judentums situiert. Diese Deutungen setzten sich im 20. Jahrhundert in unterschiedlichen Sprachräumen in markanten Beiträgen fort. Jesus erscheint darin als Gestalt der pharisäischen und protorabbinischen Bewegung oder, im Gegenteil, als deren scharfer Kritiker, die er gegenüber der hebräischen Prophetie und dem alten mosaischen Judentum verteidigt. Oder er wird als Lehrer mit einer Neigung zu apokalyptischen Naherwartungen, als Sympathisant der Essener oder als Variante einer hebräischen Weisheitsliteratur unter hellenistischem Einfluss gesehen. Wiederum andere erkennen in Jesus einen konservativen jüdischen Prediger, der sich barmherzig an die Randständigen richtete und diese sozial verfemte Schicht in die Mitte der jüdischen Gemeinschaft einbinden wollte. 2015 hat eine breite Gruppe orthodoxer Rabbiner eine «Erklärung zum Christentum» veröffentlicht, die Jesus dafür willkommen heisst, dass er majestätisch eine doppelte Güte in die Welt gebracht habe: «Er hat die Thora gestärkt» und «die Götzen aus den Völkern entfernt». Die Referenz auf das mosaische Kultbildverbot, das nicht die Kunst, sehr wohl aber die fetischbehaftete Anbetung verbietet, ist darin hörbar. Anderseits sind konfrontative Wege der jüdischen Auseinandersetzung beschritten worden, die sich der Entstehung des Christentums nach dem Tod von Jesus zuwenden. Dabei wurden der dogmatische und rituelle Gehalt in den Fokus gerückt und Abgrenzungen in Hinsicht auf Präexistenz, Inkarnation, Opferverständnis, Auferstehung und Messianismus verhandelt, die jeweils innerhalb von Judentum und Christentum bestehen.

Die Kunst jüdischer Provenienz ist von diesen Fragen der kritischen Forschung keineswegs unberührt geblieben. Sie hat sich zunehmend mit Motiven aus dem Neuen Testament beschäftigt. Für das Israel Museum kuratierte Amitai Mendelssohn eine Ausstellung «Behold the Men» (2015) mit Werken jüdischer Künstler aus nahezu zwei Jahrhunderten: Jesus trat darin nahezu obsessiv aus der europäisch-jüdischen, der zionistisch-vorstaatlichen und der israelischen Kunst hervor – vor allem als Mensch, ecce homo, der wird, was er ist. Gemalte Kreuzigungen etwa wurden auf das eigene Leiden und Schicksal der Juden bezogen, mit der Erinnerung an die Schoah verknüpft, als zionistische Metaphern verwendet oder als Bruch mit religiösen und ästhetischen Konventionen gedacht. Letzteres setzte schon früh ein: Die Illustration (1898) des späteren Zionisten Ephraim Moses Lilien in den Seiten eines sozialkritischen Romans hätte Empörung auslösen können, tat es aber nicht, war doch das Motiv als Sinnbild für die vergangenen Justizmorde an Hexen beziehungsweise Frauen nicht mehr einzigartig – eine sinnlich-sexuelle Frau mit wildem Haar, als Figur ans Kreuz genagelt, kündet vom anarchischen Potenzial der Unterdrückten und Aufständischen im Zeitalter der Klassenkämpfe. Verhüllung oder Beschlagnahmung von Kunstwerken und Gerichtsurteile wegen Blasphemie, wie zum Beispiel im Falle Kurt Fahrners um 1960 in Basel, sollten indes noch bis in unsere Zeit die Öffentlichkeit beschäftigen.

Menschenfreundliche Einbindung ins Judentum
In einer Installation von 1982, mehr als 100 Jahre nach Liebermanns Bild, stellte der israelische Künstler Igael Tumarkin seine «Bedouin Crucifixion» im Israel Museum aus. Das im Titel zitierte christliche Symbol des Kreuzes kommuniziert hier in universaler und menschenfreundlicher Bildsprache – als nützliche Zeltstange im Alltagsleben von Wüsten- und Steppennomaden, die auf die Verwendung dieser krummen Hölzer für ihre Zeltarchitektur angewiesen sind, um, wie einst die alten Hebräer in der Wüste, gut leben und überleben zu können. Die Umdeutung des Kreuzes zum einfachen Balken der Nomaden drücken die Empathie zu deren Existenzweise unweigerlich aus – ohne durch die Zitierung die Ambivalenz des religiösen Kultbildes aufzugeben. Tumarkins Installation vermittelt so eine Botschaft der Hoffnung auf das gute Leben.

In ebenso kluger Milde thematisierte Michael Sgan-Cohen unter dem sprechenden Titel «Leaning Crucifixion» («Angelehnte Kreuzigung») das Kreuzmotiv: Ein Holzpfahl, auf den er eines seiner Selbstporträts nagelte, als wäre es die aus so vielen Gemälden bekannte Inschrift des gekreuzigten Jesus als «König der Juden» – doch eben dieser Pfahl blieb leer. Anstelle einer Inschrift und einer Opferung erscheint ein kleines Selbstporträt, anstelle eines leiblichen Menschen das an Ikonen gemahnende Bild eines menschlichen Gesichts, das nach einem Du zu Du verlangt. Sgan-Cohen wollte mit seinen Kunstwerken, die er «reflektive Malerei» nannte, den Widerschein der unterschiedlichen Stränge der jüdischen Kulturen einfangen. Sein Kreuzigungssymbol steht explizit als Gegenbild zu einer christozentrischen Kunstauffassung. Seine Haltung hat aber mehr als nur eine Seite: Ein entschiedener Verfechter des hebräischen Buchstabens und der abstrakten Textualität des Judentums, stellte er dennoch sein eigenes Gesicht in der christlichen Kunstform der Ikone dar. Sgan-Cohen, der in Tel Aviv und New York und dann in Jerusalem lebte, bezog diese vielen Seiten assoziativ auf die Kabbala, auf Israel, die Schoah, auf die westliche Welt und eben auch auf Jesus. Sein Werk bewegt sich zwischen Malerei und Ikone, Realität und Mythos, Nostalgie und kritischer Distanz. Seine konzeptuellen Bilder fangen ein ganzes kulturelles Alphabet ein und beleben es, indem sie ikonische Qualitäten mit Schlichtheit, Tiefe und Humor verbinden. Darin wird Jesus mit aller Selbstverständlichkeit, die dem Humanismus eignet, in das Judentum einbezogen.

«Es gibt Gelände, da hat Kunst nichts zu suchen»
Wenige Monate vor seinem Tod im Dezember 1990 besuchte der Schriftsteller und Maler Friedrich Dürrenmatt das ehemalige Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Ihm, dem Atheisten, der zutiefst theologisch dachte und malte, ein unverbrüchlicher Freund Israels und Ehrendoktor der Hebräischen Universität, erschien dieser Ort «undenkbar» und «sinnlos wie die Wirklichkeit». Die Auschwitzpassage schliesst Dürrenmatts während 25 Jahren entstandenes «Stoffe»-Projekt, den Kern seines Denkens und Schreibens, mit dem Satz ab: «Es gibt Gelände, da hat Kunst nichts zu suchen». Dürrenmatt war nicht allein mit seiner Weigerung, aus dem Geschehen der Schoah irgendeinen gearteten Sinn zu beziehen und hier den Künsten das Recht abzusprechen, das Gedenken zu stiften. Der Philosoph und Talmudist Emmanuel Lévinas oder der orthodoxe amerikanische Rabbiner und Theologe Michael Wyschogrod sind ebenfalls Stimmen dieser eminent antiheroischen Skepsis.

Doch der Schein trügt: Jüdische Künstler, die aus der alten Welt in Europa und Russland stammen, wie Marc Chagall, Mark Antokolsky, Emanuel Mané-Katz, Samuel Bak, Adolph Gottlieb, Barnett Newman und selbst Marc Rothko malten Jesusdarstellungen oder Kreuzigungen oder beanspruchen Symbole aus dem Neuen Testament, um Leiden als kollektive Erfahrung von Millionen jüdischer Menschen zu erinnern. Der in Jerusalem geborene und 1991 in Tel Aviv verstorbene Moshe Castel, der in Paris von der Begegnung mit Chaim Soutine geprägt war, hat emblematische Darstellungen des leidenden Jesus gemalt. Marc Chagall, der mit seinen nicht wenigen Kreuzigungen die Pogrome an Juden in Russland darstellte, hat uns nach der Schoah ein verstörendes Bild hinterlassen. Es zeigt den «Exodus» (1952) der Juden aus Europa und mit ihnen den Exodus des gekreuzigten Christus aus dieser Welt. Richard Wagner, der mit seinem Hass auf das Judentum auch seine Verachtung des Christentums zum Ausdruck brachte, hätte mit seinen Opern nicht besser Regie führen können. Alle für Chagall typischen Motive – die fliehende Uhrzeit, der stürzende Engel, das brennende Stetl, die liebende Braut, die nicht wenigen Tiere, der Karren und weitere jüdische Symbole – sind in der Masse der vor der Vernichtung fliehenden Menschen erkennbar. Die biblische Erzählung vom Auszug aus Ägypten erscheint als ein Abschied aus Europa. Moses mit den leuchtenden Gesetzestafeln steht im unteren rechten Bildteil, erkennbar ist Maria mit dem Kind, und die übergrosse Christusfigur in der oberen Bildmitte zieht mit seinem Volk weiter ins Exil. Ist hier ein Auszug des Judentums und des christlichen Erbes aus Europa oder gar von Jesus, dem Juden, aus dem Christentum dargestellt? Immerhin sollte Chagall am Ende seines Lebens dann doch die Bibelfenster im Zürcher Fraumünster hinterlassen.

Jesusreferenzen und zionistische Auferstehung
Einen weiteren Kontrast bietet die israelische Künstlerin Efrat Natan. Ihrer Installation «Root Work: Golgatha», die aus drei Kreuzen besteht und Kreuzigungsdarstellungen christlicher Gemälde und Altarbilder zitiert, spielt mit den hängenden Unterhemden auf das Leichentuch Christi an. Sie versteht diese Installation als Verweigerung und Protest gegenüber dem falschen Anspruch, die Schoah als eschatologisches Ereignis zu deuten. Darin steht sie in der Tradition einer jüdischen Jesusdeutung, die, wie es Martin Buber formulierte, im christologischen Anspruch eine «Usurpation des jüdischen Urbesitzes» durch die Kirchen gesehen hat. Die Installation ist gleichzeitig eine in die eigenen jüdischen Reihen gerichtete Absage an die gängige Versuchung, das eigene Leiden als Martyrien zu heroisieren. Mit der ambivalenten Signatur von drei Kreuzen, die an die Darstellungen des Geschehens am Kalvarienberg erinnern, markiert ihre Installation auf einem Hausdach in Tel Aviv stattdessen den nüchternen Pioniergeist des Zionismus. Verschwitzte Unterhemden, frisch gewaschen – und dennoch in der Signatur an das Leiden Christi vorgetragen. Die Schoah ist in solchen Bildern jüdischer und israelischer Künstler und Künstlerinnen also vehement präsent, wenn eben Auschwitz deswegen nicht Golgatha sein soll. Und gleichzeitig ist die zionistisch gedachte Installation von Efrat Natan eine Visualisierung der modernen Gnosis, eine Auferstehung, die ihre Inkarnation im Land Israel konkretisiert wissen will. Zionistische Bilder der Auferstehung sind in der israelischen Kunst also nicht selten, ihr gleichzeitiger Bezug zur Auferstehung in der Jesusgeschichte ist offensichtlich. Joseph Budko schuf schon 1920 eine «Auferstehung der Toten», die heute in Museen in Paris und Tel Aviv hängen. Im polnischen Plonesk geboren, 1933 mit Mordecai Ardon und Yaacov Shtainherz nach Jerusalem ausgewandert, wurde er Direktor der neuen Jerusalemer Bezalel-Kunstakademie. In Yad Vashem steht das markig steinerne Monument im «Tal der Gemeinden» von Yahalom und Tzur, das ebenfalls in ausdrücklich zionistischer Referenz zur Auferstehung der Toten im Buch Ezechiel (37, 12) gestaltet wurde.

Zusammenfassend gesagt, die Darstellung von Jesus und die an seine Lebenserzählung und sein Nachleben anknüpfenden Motive, wie das Leiden, der Exodus, die Hoffnung und selbst die Auferstehung, sind unter jüdischen Kunstschaffenden reichlich zur Darstellung gelangt und in eigenständigen jüdischen Weisen interpretiert worden.

Jacques Picard ist emeritierter Professor an der Universität Basel, Fellow der Universität Haifa sowie Präsident des Zürcher Instituts für interreligiösen Dialog. Dieses Jahr erschien sein Buch «Triumph and Trauma of Images: A Journey into Art History, Iconoclasm, Cult Controversy and Remembrance Culture».

Jacques Picard