Jesus tritt in der Weltgeschichte wenigeJahre auf und wird unsterblich.
Jesus aus Nazareth ist der bekannteste Jude der Geschichte. Seit jeher steht er im Kreuzfeuer. Er teilt das Schicksal vieler Juden: nicht verstanden zu werden, sei es durch Überhöhung, sei es durch Anfeindung. Sein Auftritt in der Weltgeschichte ist äusserst kurz. Die Forschung geht von ein bis drei Jahren seines öffentlichen Wirkens aus. Er war Heiler und charismatischer Wanderprediger, der die Thora Israels für das Volk auslegte. Dabei erhob er den Anspruch, «Menschensohn» zu sein. In Jerusalem forderte er die religiöse Autorität heraus und wurde in jungen Jahren grausam ermordet. Es blieb ihm keine Zeit, Memoiren zu schreiben. Überhaupt hat er nichts Schriftliches hinterlassen. Ein einziges Mal ist überliefert, dass er schrieb, mit dem Finger in den Sand (Joh 8,6). Was er schrieb, darüber schweigt das Evangelium. Der Akt des Schreibens scheint das Wichtigere zu sein: mit dem Finger in den Sand, wie Gottes Finger auf Steintafeln schrieb. Jesus also als Lehrer der mündlichen Thora, als Rabbi gezeichnet. Auf die Pharisäer, die Vorfahren der Rabbiner, so berichtet das Evangelium, hatte dieses Schreiben starke Wirkung. Sie gingen in sich, kehrten um und liessen die fremdgegangene Ehefrau, die sie eben noch steinigen wollten, unversehrt. Vorbildhaft, die Pharisäer!
Jüdische Glaubenszeugnisse
Die neutestamentlichen Schriften sind einige Jahrzehnte nach Jesus’ Tod verfasst worden. Die Evangelien sind keine historischen Texte im heutigen Sinne. Schon 1938 nannte sie Leo Baeck «jüdische Glaubenszeugnisse». Sie zeugen von einer jüdisch-messianischen Bewegung, die rasch auch zahlreiche Anhänger unter den Gottesfürchtigen fand, den Heiden, die dem Judentum nahestanden. Die Texte zeugen von Auseinandersetzungen verschiedener jüdischer Gruppen. Aber auch unter den Jesusanhängern wird gestritten, vor allem darüber, ob die Nichtjuden, die sich der Bewegung anschliessen, alle Geboten der Thora halten müssen oder nicht. Der Brief des Paulus an die Galater und die Apostelgeschichte sind dafür besonders sprechend. Paula Fredrickson und viele andere Forscher und Forscherinnen, die heute mit dem Label New Perspectives on Paul bezeichnet werden, betonen, dass Paulus die Thora nicht abschaffen, nur auf Nichtjuden nicht anwenden wollte. Er selbst blieb messianischer Jude, überzeugt davon, dass Jesus, von den Toten auferweckt, noch zu seinen Lebzeiten wieder komme. Antijudaismus, wie er sich später in der Geschichte zwischen Juden und Christen gebildet hat, darf nicht in die Paulusbriefe oder in die Evangelien hinein zurückprojiziert werden.
Rabbinisches Judentum und Christentum
Die Ausdifferenzierung in rabbinisches Judentum und das Christentum der sogenannten Väter ist ein langwieriger Prozess. Erst am Ende des 2. Jahrhunderts werden die messianischen Schriften zum Neuen Testament zusammengestellt. Bis ins 4. Jahrhundert hinein zieht sich das Auseinandergehen der Wege. Jesus selbst gehört zu einer Zeit davor. Er gehört zum Judentum des Zweiten Tempels, das vielfältig war, mancherorts auch stark von der hellenistischen Kultur geprägt. Zugang zu Jesus gibt es nur über die spätere Literatur. Keine «nackte Wahrheit» über ihn.
Weg nach Erasmus
Die Bewegung um Jesus wäre nach seiner Hinrichtung durch die Römer wohl zerschlagen gewesen. Die Hinrichtung am Kreuz war Niederlage und Skandalon zugleich. Doch seine Anhänger sind zum Glauben gekommen, dass Jehova ihn von den Toten erweckt hat. Seine Auferweckung war für die philosophisch Gebildeten seiner Zeit ein Unsinn. Bis heute fällt es selbst den Christen leichter, an die Unsterblichkeit der Seele zu glauben als an die Auferstehung, wie Umfragen belegen. Doch mit Jesus’ Auferstehung steht und fällt alles. Die Texte berichten paradox: Auf dem Weg nach Emmaus erkennen die Jünger den Auferstandenen nicht, wenn er ihnen die Schrift auslegt. Als sie ihn beim Brotbrechen erkennen, verschwindet er zugleich. Maria aus Migdal verwechselt ihn mit dem Gärtner. Als sie den Auferstandenen aber erkennt, kann sie ihn nicht halten, er entschwindet. Und die Apostel, nach der traumatischen Erfahrung der Kreuzigung eingeschlossen im Obergemach, erkennen ihn zwar. Doch der Auferstandene muss ein zweites Mal kommen, damit sie zusammen mit Thomas verstehen: die Wunden des Traumas bleiben. Die Auferstehungserzählungen sind keine Erscheinungsnarrative. Sie bilden eine eigene Gattung. Sie zeugen von Verlustverarbeitung, von Verhüllung und Enthüllung, von Erleuchtung. Es sind Heilungs- und Erleuchtungserzählungen zugleich. Sie klären auf: Das Verständnis von Macht und Ohnmacht, Sieg und Niederlage, Opfer und Täter, Gewalt und Liebe wird neu bestimmt. Paulus selbst ist das beste Beispiel, wie er als Erleuchteter die Welt völlig neu sieht. Ohne diese Umwertung durch die Auferweckung – das hat Friedrich Nietzsche instinktsicher gespürt und wortgewaltig verspottet – ist der Streit um Jesus nicht zu verstehen. Nicht Sterblichkeit und Tod stehen im Zentrum christlichen Glaubens, sondern Mord und Todschlag, die nicht das letzte Wort haben. Die Auferstehung ist eine Angelegenheit der Gerechtigkeit.
Leitung durch Geist
Gerade darin zeigt sich, wie jüdisch die Geschichte um Jesus aus Nazareth ist. Nicht die Kraft des Pferdes und der schnelle Lauf des Mannes, nicht der König mit Harem und Armee, nicht durch Heer und Stärke, sondern durch den Geist Jehovas wird das jüdische Volk geleitet (Sach 4,6). So versteht es auch die rabbinische Tradition, aus der Zerstörung des Tempels und dem Verlust des Landes heraus eine intellektuelle Diasporakultur zu begründen. Michael Wolfssohn schrieb, dass die Rabbiner die Logik des Mannes aus Nazareth besser verstanden hätten als die spätere Kirche, die sich mit der politischen Macht arrangierte. Doch keine religiöse Bewegung ist gefeit, sich von Macht verführen zu lassen.
Wer war Jesus?
Im Lichte der Auferweckung Jesus’ stellte sich die Frage, wer er war. Verschiedene Bezeichnungen wurden verwendet: neuer Mose oder Jakob/Israel, Rabbi, König oder Hirte, Sohn Gottes, Messias. Der Messi-astitel, Christos auf Griechisch, der Gesalbte auf Deutsch, hat sich früh durchgesetzt. Doch der Mann aus dem entlegenen Kleindorf Nazareth ist nicht Messias, weil er den Erwartungen einer priesterlichen oder politisch-königlichen Retterfigur entsprochen hätte. Traditionelle Messiaserwartungen erfüllte er nicht. Auch hier wird umgewertet. Doch Jesus’ Lebensweise und Logik berührte die Menschen. Von innen her eröffnete er eine Transformation der Herzen, die in seinen Anhängern eine tiefgreifende Veränderung auch im gesellschaftlichen Handeln in Gang setzte. Heilen und versöhnen, handeln und lehren, auf dass sich Gottes Herrschaft durchzusetzen vermag.
Sohn Gottes?
Der Streit darum, ob Jesus Messias war oder nicht, führte zur Trennung in Judentum und Christentum. Noch trennender wurde in der Geschichte, dass er als Sohn Gottes verehrt wurde. Schon die Briefe des Paulus zeugen davon, dass Jesus als Kyrios, Herr, angerufen wurde, so wie der Heilige Israels selbst. Die frühen Christen nahmen in seinem Sein und Handeln die Gegenwart von Jehova wahr. Dies führte dazu, dass sich die Christen gegenüber Vorwürfen rechtfertigen mussten, sie würden zwei Götter dienen und in Götzendienst zurückfallen. Bekanntlich brachte das Konzil von Nizäa vor genau 1700 Jahren einen Durchbruch in dieser Frage. Es formulierte in den Kategorien hellenistischer Philosophie die Trinitätslehre und den Inkarnationsglauben. Für Christen eine Mystik des biblischen Monotheismus, mit paradoxen Formulierungen arbeitend und sich über apophatische Sprache annähernd. Für jüdisch-semitisches Denken war das unannehmbar. So sagte kürzlich ein jüdischer Intellektueller, nicht ohne Augenzwinkern, der christliche Glaube sei für Juden ein doppelter Segen: Die Christen würden über Jesus alle Menschen zum Gott Israels führen. Zugleich seien Inkarnation und Trinität so unmöglich, dass kein Jude in die Versuchung geraten würde, zum Christentum überzutreten.
So entstanden Judentum und Christentum als rivalisierende Glaubensgemeinschaften. Jede versuchte, sich als Erbe der biblischen Tradition auf Kosten der andern zu profilieren. Den Christen wurde Jesus immer göttlicher. Die rabbinische Tradition aber schuf mit den Toledot Jeshu ein «Gegenevangelium» (Pater Schäfer), das Jesus als Bastard, dämonischen Zauberer und amoralischen Lüstling verunglimpfte. Diese Geschichte der Feindschaft führte in der Kirche zu christlichem Antisemitismus und brachte den Juden Verachtung, Verfolgung und Tod. Gemäss dem 2007 verstorbenen jüdischen Historiker Ernst Ludwig Ehrlich hat die Geschichte Christen und Juden mehr getrennt als Jesus aus Nazareth dies tat.
Jüdische Jesus-Forschung
Deshalb konnte die jüdische Jesus-Forschung im 19. und 20. Jahrhundert den Galiläer auch heimholen: Jules Isaak sah Jesus, seine Familie und die Urkirche ganz eingebettet in Israel. Für Joseph Klausner wurde er ein jüdischer Lehrer seiner Zeit. Schalom Ben-Chorin nannte Jesus seinen Bruder. 2017 zeigte das Israel Museum in Jerusalem die beeindruckende Ausstellung «Behold the Man. Jesus in Israeli Art». Wie den Historikern erscheint er auch den Künstlern nicht als Messias und Gottes Sohn. Doch sie lassen unterschiedlichste, auch widersprüchlichste Aspekte jüdischer Existenz in ihm spiegeln. Der Sprachspieltheorie Ludwig Wittgensteins folgend, weiss heute auch die christliche Theologie, wie kulturell unterschiedliches Sprechen die Sicht auf Jesus Christus geprägt hat. Jesus ist für sie zwar weiterhin unhintergehbar Messias und Sohn Gottes. Doch neue Bezeichnungen sind hinzugekommen. Kein geringerer als Papst Benedikt, der mit dem jüdischen Gelehrten Jakob Neusner im Dialog stand, bezeichnete Jesus als «lebendige Thora». Benedikt band den Gedanken «Gott wurde Mensch» zurück an den Johannesprolog. Dort heisst es präziser: «Und das Wort ist Fleisch geworden» (Joh 1,14). Jesus lehrte nicht nur Thora, sondern verkörperte sie auch. So bleiben bis heute gravierende Differenzen zwischen Juden und Christen. Doch Wissenschaft und Kunst haben auch zahlreiche Brücken gebaut, gerade im Verständnis von Jesus aus Nazareth.
Christian M. Rutishauser ist Professor für Judaistik und Theologie, Leiter des Instituts für Jüdisch-Christliche Forschung der Universität Luzern sowie seit 2014 ständiger Berater des Heiligen Stuhls für die Beziehungen zum Judentum.