Als die aufbau-Redaktion mich bat, als europäische Jüdin einige Gedanken zu Israel zu schreiben, dachte sie an einen meiner üblichen historisch-analytischen Texte. Sicher erwartete sie nicht, dass ich zu diesem Thema zwei lange Gedichte einreichen würde. Aber als ich 2013 «Israel Has Moved» («Israel ist umgezogen», Suhrkamp) schrieb, wurden mir zwei intellektuelle Feststellungen akut bewusst. Erstens, dass Israeli es nicht mögen, wenn nicht-Israeli sich in ihrem Revier bewegen. Sie selbst können das Land bis zum Abwinken kritisieren, und sie tun das öfter in den europäischen nicht jüdischen Medien. Die Stimmen von Juden aber, die keine Israeli sind, sind in ihren Augen nicht viel wert (nur wenigen amerikanischen Juden wird dies durchgelassen). Zweitens, dass der Schall der europäischen jüdischen Stimmen einfach im ganzen Prozess verloren geht, denn wir sind eine winzige Minorität auf einem zumindest bislang anscheinend marginalen Kontinent. Kritische Vorbehalte fliegen über unsere Köpfe, und ich beziehe mich damit noch nicht einmal auf die jüdischen «Israel, right or wrong»-Gemeinden, in deren Mitte wir leben und die keine solche Kritik dulden. Weil es ständig das Gefühl gibt, dass jegliche Kritik an Israel nur den «eingeschworenen antisemitischen Feinden» in die Hände spielen kann.
Schliesslich ist seit dem 7. Oktober die Natur der jüdischen Debatten um Israel, sei es für oder gegen, zumeist polemisch. Als Resultat davon sind jegliche Nuancen verloren gegangen, wenn nicht sogar ausgelöscht worden. Poesie ist der einzige Weg, wie ich die Pein in meiner Seele und meinem Herz ausdrücken kann. Was auf diesen Seiten gedruckt ist, ist mein höchst persönlicher Aufschrei des Herzens. Diese zwei Gedichte, «Israel, my Cousin» und «The Agora and the Burning Bush», sind das erste und das letzte Gedicht eines ganzen Zyklus, Israel unter dem Titel «Israel, my Cousin» gewidmet.
ISRAEL, MEIN COUSIN
Liebes Israel, Familienbande
sind vertrackt: Blut,
wo endet es? Freundschaft,
wo beginnt sie? Bunt durcheinander
gehn unsre Bande. Zwar keine Geschwister
mit gemeinsamen Eltern,
keine Freunde mit gemeinsamen
Vorlieben. Doch irgendetwas
deutet hin auf einen grösseren
Familienhintergrund.
Ein bestimmter Zug hier,
ein Erscheinungsbild dort;
unsre Gesten sind vertraut,
unsre Neigungen verknüpft mit
unserm alten gemeinsamen
Erbe, trotz unsteter,
sprunghafter Gene. Für mich
versteht sich dein Dasein von selbst.
Du siehst herab auf mich,
die Nicht-Israelin, als ein Relikt
aus vergangener Zeit. Ich hingegen
mache mir Sorgen um deine Zukunft.
Ich bin schon viel länger
dagewesen als du. Ja,
wir sind gleich alt, aber
wir leben ganz unterschiedlich,
mit anderer Kultur, Bildung und
– am wichtigsten – anderer Sprache.
Ich sehe dich in Übersetzung.
Du betrachtest mich nackt.
Keine Grosseltern für
gemeinsame Sommer, kichernde
Heimlichkeiten, Streiche, süsse Rituale
der Initiation, erste Liebe und
erster Liebeskummer. Wir sind uns
begegnet als Erwachsne.
Aber auch später im Leben
ist ein Cousin ein Cousin: Dein
Werdegang ist nie weit entfernt
von meinem inneren Auge. Ich bin
stolz auf deine Leistungen, doch
schockiert über deine Fehler;
deine muntre Ichbezogenheit.
Du interessierst dich kaum
für das Leben anderer – ausser
von denen, die entschieden
auf deiner Seite stehen. Du bist stolz
darauf, stark zu sein,
unverblümt, wenige Fragen
zu stellen und wenig Wert zu legen
auf nuancierte Antworten.
Das ist der Moment, in dem
beim Familiengespräch
eine verständnisinnige Tante
verkündet: «Ja, natürlich,
aber sieh doch auch
sein Familienleid und
seine schwierige Kindheit.
Du erwartest doch nicht, dass für ihn,
bei einer solchen Vergangenheit,
das Heranwachsen in einem
so gewalttätigen Umfeld
ohne schreckliche Folgen bleibt?
Hinter dem Draufgängertum liegt
Schmerz.» Ich nicke, frage mich aber:
Wie lang bleiben Entschuldigungen gültig?
Kannst du als starker Erwachsener
andre für alles verantwortlich machen?
Die Zeit ist reif: Du solltest
dich selbst im Spiegel betrachten.
Hast du wirklich dein Bestes
getan in deinem Umfeld,
für jene, die dir unterstehen?
Sie waren längst da,
drangen nicht ein in dein Land.
Gewiss, ein bisschen verstehen
kannst du deine Vorfahren,
die sich noch in andere
hineinversetzen konnten?
Was du erreicht hast,
macht dich zu Recht stolz –
doch übersieh nicht dein
grobes Verhalten, deine selbst-
zerstörerische Kälte. Mach
dir nichts vor: Du kommst rüber
als brillant, hoffnungsfroh, kreativ,
innovativ – und «resilient»
(dieses Allzweckwort). Aber
auch als arrogant, hart,
blind impulsiv. Gesehen hab ich
von Letzterem bislang zu viel,
von Ersterem zu wenig.
Ich fürchte den, der du geworden bist.
Belächle nicht meine fremden
Wörter. Du gehörst zur Familie.
Ich kann dich genauso wenig verleugnen,
wie ich mich selbst verleugnen kann.
Es gibt Bande, die man nicht
einfach zerschneiden kann. Du und ich,
ob wir es wollen oder nicht,
wir sind zwei Brennpunkte einer Ellipse.
Akzeptiere, dass du kein Kreis bist
mit dir selbst als einzigem Zentrum.
Du hat kein jüdisches
Monopol. Gemeinsam sind uns
die mittelbaren Narben des
Holocaust, aber ich lebe nicht
mit deinen viszeralen Pogrom-
Reflexen, dem Nachhall des alten
osteuropäischen oder arabischen
Hasses, dem Ingrimm deiner
fortwährenden Kriege, den
endlosen Fehden, den blutigen
Kämpfen um dasselbe Land,
deinem Überdruss am Déjà vu.
Ich bin zum Glück verschont
geblieben, wie ein innerer Baum-
ast im Sturm. Mir fehlen
dein Patriotismus, dein frisch
eingewurzelter Stolz, deine biblischen
(heiligen und tätlichen) Reflexe
und deine wiedergeborene Sprache –
ihre geschi
vielleicht zu beängstigend
für mich, weil ich hineingeraten könnte
in starre biblische Dekrete,
talmudische Labyrinthe und
die geheimnisvollen magischen
Korridore der Kabbala und
ihren geistigen Kaninchenbau.
Du bist nicht verantwortlich
für diese unerklärliche Furcht,
als ob ich nicht in der Lage wäre,
von rechts nach links zu lesen.
Ich erkenne uneingeschränkt meine
Ärgernis erregenden Grenzen an. Ich bin
ein überassimiliertes Wesen,
aber ich habe einen jüdischen Kern.
Mir ist zuwider jede Art von
lärmendem Stolz, von abgedroschenem
Männlichkeitskult, selbst in Regenbogenkluft.
Ich bin kein griechischer Chor,
von dir dirigiert. Sieh in mir
ein Gegengewicht,
vielleicht einen nützlichen Impuls.
Stereo klingt voller als Mono.
Wir sind das Volk, das
immer mit Gott gestritten hat.
Nur wenn wir miteinander
streiten, können wir weiter
existieren. Deshalb ertrag mich,
Israel, ich werde dich nicht anöden
mit der langen Geschichte unserer
Begegnungen. Cousins und Cousinen
gleichen sich nicht. Du bist kein fremdes
Land, das es zu entdecken gilt,
eher ein Hintergrundrauschen:
andauernd, tröstlich, irritierend,
verheissungsvoll und beängstigend.
Ich biete dir kleine Einblicke:
widersprüchlich, parteiisch,
emotional. Mein Part: das
Xylophon der kontrastierenden
Gefühle. Deiner: die blasse
Zuversichtlichkeit verborgener Furcht.
Unser gemeinsamer: die geteilte Angst.
22. Januar 2025
Übersetzung: Michael Mertes
DIE AGORA UND DER BRENNENDE DORNBUSCH
Ich fürchte, das alles
war einmal.
Bevor der Krieg unnötig
wieder losging – als Weg,
um weiterzukommen,
um der Abrechnung zu entgehen.
Meine Hoffnungen sind
auf Grund gelaufen. Unsere Wege,
lieber Cousin, könnten sich trennen.
Ich sag dies mit Trauer
und Angst: um uns beide.
Wir gehören zusammen. Ich
fühl deinen Schmerz. Ich möchte
dich umarmen bei deinen Strassen-
protesten. Ich steh auf deiner Seite,
bedrängte Minderheit.
Aber ich kann nicht länger mitlaufen
unter eurer Flagge. Nicht nach
dem, was getan wurde,
in eurem Namen (und meinem).
Wer wird der Chirurg sein?
Früher wär ich, als schwaches
diasporisches Überbleibsel,
das Opferlamm gewesen –
im Gegensatz
zu dir, dem strammen Baby.
Ich fürchte, diese Zeit ist vorbei.
Mir gehört die Stärke des Lebens
unter den Anderen, mit all seinen
Beulen. Dir die Schwäche
egozentrischen Stolzes. Geworden
bist du wie die Schlimmsten
von ihnen, wie unsere Feinde,
die du hinter dir lassen wolltest
und jetzt im Schmutz umarmst.
Vielleicht war diese Gefahr
schon immer da. Du wolltest
«normal» sein, nicht wahr?
Nicht mehr das Jahrtausend-
Opfer. Hallo, ihr Strassen mit
jüdischen Prostituierten, Fussball-
rowdies, Millionären und
Betrügern! Bis zu einem gewissen Punkt. Aber Kriegstreiber, faschistische
Ideologen, Siedler-Rassisten,
blutige Eroberer? Es gibt
Grenzen, auch in der Furcht.
Ach, unsere Wege trennen sich. Mir
gehört der diasporische Stammbaum
von Schmerz und Hoffnung, der Anspruch,
unsere ehrwürdigen jüdischen Traditionen
weiterzuführen, in einem humanistischen
Weinberg, wo man alle bedienen wird,
die Ersten wie die Letzten,
und wo man die Schreie
aller Opfer hören wird.
Aus diesem Grund muss ich jetzt
dein begehrtes jüdisches Markenzeichen zurückfordern, damit
du es nicht in den Bankrott treibst.
Du wurdest gezeugt mit
dem höchsten Gütesiegel
eines Kaufmanns: als Hoflieferant
Seiner Majestät des Königs –
als kleiner Klecks zunächst,
der nach der Tragödie
zur einzig gültigen Zukunft wurde.
Oder warst du nur eine unerlässliche
Krücke, dazu bestimmt,
eine weitere Parenthese zu werden
in der langen, verworrenen
Geschichte unseres Volkes?
Seine Stätte frommer Erinnerung?
Es schmerzt und ängstigt mich,
dies zu sagen, es überhaupt zu denken.
Ehre steht höher als
umständliche Ausreden.
Wir haben einen Abgrund erreicht.
Ich bleibe auf der Agora.
Du lebst, nolens volens,
neben dem brennenden Dornbusch
und denen, die ihn veruntreuen.
Ich habe Platz für deine Sicht
in einer Ecke meines offenen
Raums. Du hast keinen Platz
für mich in deinen Flammen. Selten
sind jene, die zwischen beiden Seiten
den Spagat schaffen. Irrelevant für
die Machthaber, die einen
Präzedenzfall setzen für die Clique
anmassender Autokraten,
tyrannischer Herrscher.
Die die Besten in deiner Mitte
zynisch ausgrenzen,
jene mit aussergewöhnlichem
Mut. Ich werde sie/euch willkommen
heissen, nicht mehr nur
als Cousins, sondern als Brüder
in meinem Heim, das vielleicht schwankt, aber doch auf Pfählen steht.
Was jene angeht, die den
rechten Weg zur Geisel machten:
sind nicht mehr Cousins,
sondern Gegenspieler. Nein, hier
geht’s nicht um noch eine Blutfehde.
Prinzipien und Werte stehen
auf dem Spiel. Deshalb, liebe Brüder
und Schwestern, lasst uns gemeinsam
die Agora bauen mit ihren
Säulengängen des Gesprächs,
ihren Stimmsteinen, bürgerschaftlichem Patriotismus, dem Ethos eines
ehrbaren Lebens. Griechische Haltung –
besser als das flammende Gelb
falscher metaphysischer Feuer.
Macht nicht aus der Thora
den japanischen Kriegsschrei
«Tora! Tora!». Erinnert euch
der talmudischen Schönheit von
Weisen, die miteinander sprechen durch
die Jahrhunderte in ruhiger Polyphonie.
Erinnert euch ans Manna, das wir
in der Wüste erhielten, und
haltet keine Nahrung zurück in
ausgedörrten bombardierten Ländern.
Kein Wunder am Sinai jetzt.
Die extreme Hitze der Wüste
endet in metaphysischer Asche
irgendwo, überall,
in Israels wandernder Seele.
***
Ich kann nur sprechen als
eine einstmals Fremde sowohl
auf der Agora wie auch am
brennenden Dornbusch: eine unsichtbare,
schweigende, unbedeutende Frau,
eine Art Stern am Südhimmel,
unterm Horizont, hell leuchtend
nur im utopischen Licht
philosophischen Glanzes.
Ein schwaches Licht vielleicht,
aber ein Licht.
Übersetzung: Michael Mertes