Das Interview 30. Mai 2025

Jüdisches Leben wird sich ethisch verändern

Eine israelische Siedlerin manifestiert im Süden Israels für die Wiederbesiedlung des Gaza-Streifens durch Israel.

Peter Beinart nimmt anhand des Gazakriegs eine Bestandsaufnahme vor.


Aufbau | Lassen Sie uns ganz am Ende Ihres neuen Buches «Being Jewish After the Destruction of Gaza. A Reckoning» beginnen, wo Sie schreiben: «Unsere Transformation ist notwendig für die Welt. Wir Juden können helfen, die Welt zu befreien.» Das ist eine bemerkenswerte Aussage. Könnten Sie etwas dazu sagen?
Peter Beinart | Sicher. Wir befinden uns in einer Zeit wachsenden Autoritarismus und Ethnonationalismus. Menschen werden zunehmend pessimistisch und sehen Freiheiten und Gerechtigkeit in ihren Gesellschaften schwinden. Liberale Demokratien sind zunehmend bedroht und in eine Art Rezession geraten, die sich nun verschärft. Angesichts der zentralen Bedeutung, die Israel-Palästina aus verschiedenen Gründen in der Welt hat, wäre ein demokratischer Triumph dort für viele Menschen weltweit, die in ihren eigenen Ländern für Demokratie kämpfen, eine grosse Inspiration.


Aufbau | Zudem führen Sie die «Zerstörung von Gaza» durch die Netanyahu-Regierung auf eine «Überhöhung» und «Anbetung» des Staates Israel zurück. Dieser gerate zu einem «Moloch», dem Menschlichkeit und Gerechtigkeit geopfert werden. Wird damit die reiche, so komplexe jüdische Tradition auf Staatsanbetung reduziert?
Peter Beinart | Ja. Diese Tendenzen dominieren das Denken vieler Juden und nivellieren und reduzieren das Judentum grundlegend. Damit wird eine bedingungslose Unterstützung des Staates Israel zum wichtigsten Beleg dafür, jüdisch zu sein, «in gutem Ansehen als Jude zu stehen». Genau diese Tendenz sehe ich in den USA bei Christen, und zwar in ihrer Beziehung zu Trump und ihrer Vorstellung von Amerika: Ihr amerikanischer Nationalismus verdrängt das Gefühl einer universellen moralischen Verpflichtung. Aber diese Verpflichtung auf das Wohlergehen aller Menschen ist meiner Meinung nach so offensichtlich ein Grundelement des Christentums wie sie fundamental für das Judentum ist.


Aufbau | Ihr Buch belebt eine alte Diskussion um die Frage, wie das Denken und die Spiritualität des Judentums mit der Idee eines Nationalstaats in Einklang zu bringen sind. Der Politologe Benedict Anderson hat Nationen bekanntlich als «imaginierte Gemeinschaften» beschrieben. Obendrein ist die Idee des Nationalismus relativ jung und stammt aus dem 19. Jahrhundert.
Peter Beinart | Ich argumentiere in meinem Buch, dass das Judentum der Idee eines Staates gegenüber recht skeptisch ist und diesen als eine Art notwendiges Übel betrachtet, aber nicht als verehrungswürdig und etwas eindeutig Gutes. Staaten sind bestenfalls als ein notwendiges, aber auch sehr gefährliches Instrument zu verstehen. Meines Erachtens stehen viele Juden dem Nationalismus sehr misstrauisch gegenüber, weil sie befürchten, er könnte zu einer Art Götzendienst, einer Art Staatsanbetung werden. Diese Perspektive vertrete ich als Jude sowohl gegenüber Israel als auch gegenüber anderen Staaten.


Aufbau | Andererseits existiert der Staat. Und es ist schwer zu bestreiten, dass Israel als ein jüdischer Staat nach dem Zweiten Weltkrieg als Zufluchtsort wirklich notwendig war.
Peter Beinart | Selbstverständlich hat der jüdische Staat – oder dessen Vorläufer im britischen Palästina-Mandat bis 1947 – vor dem Nationalsozialismus aus Europa fliehenden Juden Zuflucht geboten. Dies war notwendig, da andere Länder Juden nicht einreisen liessen. Hätten die USA und andere Länder anders gehandelt, wäre dieser Zufluchtsort weniger notwendig gewesen. Aber die Gründung des jüdischen Staates führte unweigerlich zur Massenvertreibung von Palästinensern. Wir müssen diese beiden Realitäten also irgendwie gleichzeitig betrachten und verstehen.


Aufbau | Sie betonen aber auch die Gefahr, dass Juden überwiegend als Opfer definiert werden oder sich selbst als Opfer definieren?
Peter Beinart | Wir müssen diese Opferrolle problematisieren und diese Mentalität überwinden, um Gerechtigkeit schaffen zu können. Die Opferrolle hindert manche Menschen leider daran, die systematische Unterdrückung zu erkennen, gegen die wir kämpfen müssen.


Aufbau | Seit der Fertigstellung Ihres Buches im letzten Herbst hat die Amtsübernahme von Donald Trump als US-Präsident dramatische Entwicklungen gebracht.
Peter Beinart | Trump nutzt diese Themen, um autoritäre Kontrolle über Institutionen zu erlangen. Dabei haben ihm die Demokraten durch sachlich nicht gerechtfertigte Antisemitismusvorwürfe gegen die pro-palästinensische Bewegung, beispielsweise an Universitäten, in die Hände gespielt. Trump ist ein Ethnonationalist und verbindet Israel eng mit seiner nationalistischen Vision Amerikas als ein Land mit klaren rechtlichen Hier-archien zwischen verschiedenen ethnischen und rassischen Gruppen.
Das heutige Israel unterdrückt Palästinenser und ist daher mit der Vision Trumps von einem autoritär geführten Amerika vereinbar. So sind amerikanische Juden für ihn Verbündete, wenn sie in dem Sinn «pro-Israel» sind, dass sie eine jüdische Dominanz dort befürworten. Und wenn Juden nicht ausreichend «pro-Israel» sind, dann definiert er sie eben als Nichtjuden. Aber damit steht er keineswegs allein. Die israelische Regierung und grosse jüdische Organisationen hierzulande sprechen israelkritischen Juden ebenfalls ihre jüdische Identität ab.


Aufbau | Im Zusammenhang mit den Campus-Protesten haben jüdische Spender und Organisationen bereits unter Joe Biden nach staatlichen Interventionen und Schutz für jüdische Studierende gerufen. Trump scheint in die Rolle eines «starken Beschützers» gerne zu übernehmen.
Peter Beinart | Ja. Und diese Leute hassen auch DIE (Diversity, Inclusion, Equity), also Bewegungen, die den strukturellen Rassismus und Sexismus in der amerikanischen Gesellschaft bekämpfen. Deshalb bringen sie diese Kräfte mit Antisemitismus in Verbindung. Und unter dem Deckmantel des Antisemitismus wird es dann leichter, diese ganze Bewegung für Gleichberechtigung und die Anerkennung von Minderheiten anzugreifen. Es gibt eben Leute, die aufgrund ihrer Unterstützung für Israel dafür sorgen wollen, dass Amerika Israel ähnlicher wird. Sie sind bereit, ein Projekt zur Schaffung weisser christlicher Vorherrschaft in den USA zu unterstützen, um die jüdische Vorherrschaft in Israel zu sichern. Und sie glauben, dass das gut für sie sein wird. Aber damit liegen sie falsch. Denn ich glaube, dass Trump-Anhänger den Antisemitismus sehr viel stärker schüren als dies Linke tun. Die Linke ist traditionell auf Gleichberechtigung ausgerichtet und die Rechte auf Hierarchisierung. Aber genau darauf bestehen jüdische Unterstützer von Trump im Hinblick auf Israel.


Aufbau | Gleichzeitig hat die Brutalität des Hamas-Terrors am 7. Oktober 2023 doch einen nachhaltigen Schock in Israel und unter Juden weltweit ausgelöst. Sie haben diese Grausamkeit mit der Gewalt von Sklaven gegen weisse Unterdrücker, etwa beim grossen Aufstand in Haiti 1804, verglichen.
Peter Beinart | Mir ging es aber darum, dies zu erklären, nicht zu rechtfertigen. Diese Gräueltaten geschahen nicht in einem luftleeren Raum. Am 7. Oktober 2023 ist nicht zuletzt das israelische System zum «Management» und der Kontrolle der Palästinenser im Gazastreifen zusammengebrochen. Der Diskurs in Israel dreht seither offen in Richtung einer Vertreibung der Palästinenser, zumindest aus Gaza. Gleichzeitig lehnen führende jüdische Politiker in Israel den Gedanken ab, Palästinensern die Staatsbürgerschaft in Israel oder einem zukünftigen eigenen Staat zu gewähren. Was dann? Das politische Establishment erkennt, wie schwierig es ist, Palästinenser zu managen, denen Grundrechte vorenthalten werden. Daher ist die Idee so verlockend, so viele Palästinenser wie möglich loszuwerden.


Aufbau | Das Buch trägt nicht nur den Titel «Being Jewish…», sondern argumentiert auch aus einer tiefen Kenntnis jüdischer Schriften und Traditionenheraus. Wen wollen Sie damit ansprechen?
Peter Beinart | Ich hoffe, ein breiteres Publikum zu erreichen, also Juden, die sich bislang weniger mit der Lage der Palästinenser unter israelischer Kontrolle auseinandergesetzt haben. Und ich spreche eine jüngere Generation amerikanischer Juden an, die ihr Leben auf Grundlage einer jüdischen Ethik führen wollen. Obendrein auch hoffentlich Nichtjuden, die meines Erachtens an der Diskussion über Israel und Palästina interessiert, aber von der Drohung mit Antisemitismusvorwürfen verunsichert sind. Jüdische Rechte und Sicherheit stehen dabei oft im Mittelpunkt.


Aufbau | Wie Sie schreiben, nimmt der Antisemitismus tatsächlich zu. Rechte Fanatiker haben Morde wie das Massaker an der Tree-of-Life-Synagoge in Pittsburgh 2018 verübt. Aber hat der Gaza-Krieg in den Köpfen der meisten Menschen nicht weitgehend zu einer Identifizierung von Juden mit Israel geführt? Vor allem im Hinblick auf die Gleichsetzung von Kritik oder einer Ablehnung Israels und des Zionismus mit Judenhass?
Peter Beinart | Seltsamerweise pochen die israelische Regierung, aber auch amerikanische und andere jüdische Diaspora-Organisationen auf dieses Argument. Aber gleichzeitig sind und waren auch in den USA Juden bei Protesten gegen den Krieg sehr, sehr stark vertreten, wahrscheinlich sogar überrepräsentiert. Laut Umfragen werden vor allem Jüngere in der jüdischen Gemeinschaft immer kritischer gegenüber der israelischen Politik. Ein beträchtlicher Teil der Gemeinschaft steht der Idee eines jüdischen Staates skeptisch gegenüber oder ist zumindest überzeugt, dass er schreckliche Dinge anrichtet. Von daher gibt es also Bemühungen, dem gegenzusteuern und einen Konsens darüber zu stiften, dass Juden in der Diaspora mit Israel gleichzusetzen sind und auf einer Linie liegen. Aber demographische Daten sagen uns, dass dieser Konsens in den USA insbesondere bei jüngeren Jahrgängen immer mehr an Boden verliert.


Aufbau | Damit stehen Sie vor zwei Aufgaben. Einerseits die Zerstörung Gazas zu stoppen und für Frieden dort einzutreten, und andererseits die autokratische Tendenz in den USA zu stoppen, die Juden und Israel als Werkzeug benutzt.
Peter Beinart | Diese beiden Dinge hängen zusammen. Israel ist ein sehr wichtiger Teil einer globalen Allianz autoritärer, ethnonationalistischer Staaten. Deshalb halte ich die Idee amerikanischer Juden und anderer hier für töricht, sie könnten gegen den Ethnonationalismus Trumps kämpfen und gleichzeitig den ethnischen Nationalismus in Israel unterstützen. Denn entweder unterstützt man das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz oder nicht. Und wenn man erst einmal Ausnahmen macht, würden viele andere diese in ihren Ländern auch gerne anwenden.


Aufbau | Aber woher kommt eigentlich dieses enge Verhältnis zwischen den USA und Israel? Mit einer «jüdischen Lobby» hierzulande allein ist dies doch kaum erklärbar.
Peter Beinart | Es geht sicherlich nicht nur dar-um. In der republikanischen Partei gibt es aus den genannten Gründen viel ideologische Sympathie für Israel. Darüber hinaus haben die israelische und die amerikanische Geschichte viel gemeinsam. Beide repräsentieren die Vision eines gelobten Landes, das an einer feindlichen Grenze errichtet wurde. Daher unterstützen jene, die am stärksten am amerikanischen Gründungsmythos festhalten, Israel am meisten. Wer jedoch dem heutigen Israel gegenüber am kritischsten ist, der hat meist auch eine skeptischere Sicht auf die USA selbst und deren Gründung durch einen Völkermord an ihrer einheimischen Population. Organisationen wie AIPAC richten ihre Anstrengungen eher auf die Demokraten, um dort einen Meinungsumschwung gegen das heutige Israel zu verhindern. Denn die Linksliberalen sind politisch eher auf Gleichgerechtigkeit orientiert. Zumindest bei führenden Politikern der Demokraten konnten die Organisationen bisher weitgehend verhindern, dass dieser Meinungsumschwung unter Jüngeren auf die Partei durchschlägt.


Aufbau | Was halten Sie von dem seit den 1970er Jahren zirkulierenden Argument, Israel sei eine Art «Flugzeugträger der USA» in Nahost und blockiere dort das Aufkommen einer dominanten, von Washington nicht kontrollierbaren Regionalmacht?
Peter Beinart | Noam Chomsky hat stets argumentiert, dass Israel den aussenpolitischen Interessen Amerikas dient. Ich bin mir da nicht so sicher und glaube nicht, dass die Unterstützung der Besiedlung des Westjordanlandes nationalen Interessen der USA dient, da dies grosse Feindseligkeit gegenüber unserem Land hervorruft. Auch die Unterstützung Israels bei der Zerstörung des Gazastreifens weckt immense Feindseligkeit, möglicherweise sogar aktive Gewalt gegen Amerika, und bringt obendrein die mit den USA verbündeten Regionalregierungen unter Druck. Bisher ist noch keine dieser Regierungen gefallen. Aber dies könnte durchaus geschehen. In etlichen Staaten sind Bevölkerungen sehr über ihre Regierungen empört, weil diese anscheinend zu wenig gegen das Vorgehen Israels in Gaza unternehmen.


Aufbau | Aber zentral ist doch die Unterstützung Washingtons. Als Netanyahu im Februar Trump besucht hat, sprach er davon, dass der «Löwe von Judah wieder brüllt». Aber die militärischen Erfolge gegen die Hisbollah und Iran wären ohne amerikanische Waffen ebenso undenkbar gewesen wie die weitgehende Zerstörung Gazas.
Peter Beinart | Absolut. Ohne die bedingungslose militärische und diplomatische Unterstützung der USA müsste Israel sein Verhalten ändern.


Aufbau | Ist dies also eines ihrer weiteren Ziele: zumindest die öffentliche Meinung in den USA zu beeinflussen? Sie sind seit der Publikation Ihres Buchs noch aktiver in der Öffentlichkeit präsent. Haben Sie das Gefühl, etwas zu bewirken?
Peter Beinart | Meines Erachtens findet ein Wandel statt. Man sieht es in den Meinungsumfragen. Ich sehe es vor Ort, wenn ich Vorträge halte. Allein die Anzahl der Besucher, das grosse Interesse von Menschen. Ich erlebe einen grundlegenden Wandel unter jungen amerikanischen Juden. Ich glaube nicht, dass dies an mir liegt, sondern an tiefergehenden kulturellen Entwicklungen und einer Haltungsänderung gegenüber dem Handeln Israels. Aber ich bin dankbar, ein Teil davon sein zu können. Denn ich glaube, diese Bewegung könnte die amerikanische Politik verändern. Und ich denke auch, dass die Auseinandersetzung über die Gleichberechtigung der Palästinenser das jüdische Leben in den USA ethisch verändern und wiederbeleben könnte. Und das wäre wirklich sehr wertvoll.


Aufbau | Sie schreiben über Ihre Herkunft aus Südafrika und die Überwindung des Apartheid-Regimes durch Gleichberechtigung und Aussöhnung zwischen Weissen und Schwarzen und betrachten dies als ein mögliches Modell für eine Lösung des Konflikts und eine Versöhnung zwischen Israeli und Palästinensern. Viele Anti-Apartheid-Aktivisten waren Juden. Dies galt für die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre in den USA. Wie hat Ihr Hintergrund in Südafrika Ihre intellektuelle Entwicklung und Ihre Perspektiven beeinflusst?
Peter Beinart | Dass ich einen Teil meiner Kindheit im Südafrika der Apartheid-Ära verbracht habe, war schon lehrreich für mich. Dort waren viele Weisse wirklich überzeugt, dass nur eine systematische Unterdrückung der Schwarzen ihre eigene Sicherheit gewährleisten konnte. Diese Ideen begegnen mir in der Debatte über Israel wieder: Nur Dominanz über die Palästinenser kann unsere Sicherheit garantieren. Aber ich habe damals auch gesehen, dass Juden in diesen Kämpfen um Gleichberechtigung unterschiedliche Rollen spielen. Juden waren in der Anti-Apartheid-Bewegung ebenso stark überrepräsentiert wie sie jetzt in der Bewegung für die Freiheit der Palästinenser sind. Aber es gab auch prominente Juden wie Percy Yutar, der als Generalstaatsanwalt von Transvaal 1963/64 im Rivonia-Prozess Nelson Mandela und andere ANC-Aktivisten angeklagt und lebenslange Haftstrafen für sie erwirkt hat. Alle weissen Angeklagten waren Juden und der Staatsanwalt war ein Jude. Sie standen also auf entgegengesetzten Seiten.
In den amerikanischen Südstaaten gab es während der Bürgerrechtsära Juden, welche die Rassentrennung ablehnten, aber auch solche, die sie unterstützten oder tolerierten. Als Joshua Heschel 1965 nach Alabama flog, um mit Martin Luther King Jr. in Selma zu marschieren, empfing ihn eine Delegation südstaatlicher Rabbiner, die ihn zur Abreise aufforderte.
Und wie bei anderen Völkern oder Gemeinschaften stehen auch Juden heute in dem Ringen um die Freiheit der Palästinenser eben auf entgegengesetzten Seiten.

Andreas Mink ist US-Korrespondent der JM Jüdische Medien AG und lebt in Connecticut.

Andreas Mink