Karin Prien ist die erste jüdische Bundesministerin Deutschlands – was das für die CDU-Politikerin angesichts rechtspopulistischer Bedrohung oder Gefährdung jüdischen Lebens in Europa bedeutet.
Aufbau | Sie sind seit einem halben Jahr als Bildungsministerien in Deutschlands Regierung im Amt. Wie schwer fiel Ihnen der Umstieg von der Landes- auf die Bundesebene?
Karin Prien | Wenn ich mich entscheide, eine neue Aufgabe anzunehmen, beginne ich sie mit Lust und Zuversicht. Ich sehe es als grosse Chance, meine Erfahrungen aus acht Jahren als Landesministerin einzubringen. Aber natürlich ist vieles in Berlin doch anders und eine Nummer härter als auf Landesebene, auch medial anspruchsvoller. Insofern bin ich gut angekommen, aber es ist schon ein herausfordernder Job.
Aufbau | Sie nannten Ihr Ministerium einmal ein «Gesellschaftsressort»: Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend – da prasselt einiges auf Sie ein.
Karin Prien | Ich bin dankbar dafür, dass ich die Themen Familie, Kinder, Jugend und Bildung, von der Kita über die Schule bis zum lebenslangen Lernen, ganzheitlich denken kann, so wie es sein muss. Die grossen Herausforderungen in diesen Bereichen lassen sich nicht in einem einzigen Sektor lösen.
Daneben empfinde ich die gesellschaftspolitische Aufgabe als sehr wichtig, weil das politische System in Deutschland massiv unter Druck steht und der Vertrauensverlust in Institutionen, auch die politischen, leider zunimmt. So kommt einer verbindenden Gesellschaftspolitik grosse Bedeutung und Verantwortung zu. Als jemand, die ziemlich in der Mitte des politischen Spektrums steht, kann ich da wichtige Brücken bauen.
Aufbau | Sie sind vor allem als jüdische Ministerin bekannt. Wiegt diese Rolle manchmal schwer?
Karin Prien | Naja, ich habe sie mir nicht ausgesucht, sondern sie ergab sich. In Schleswig-Holstein war ich unmittelbar für die Religionsgemeinschaften und damit auch für die jüdischen Landesverbände zuständig. Auch die Zusammenarbeit mit dem Antisemitismusbeauftragten war in meinem Ministerium angesiedelt. Das Thema hat mich natürlich immer beschäftigt und spielte auch immer eine grosse Rolle. Irgendwann wurde ich mal gefragt: Sind Sie eine jüdische Ministerin? Ich sagte, ich sei zumindest auch eine jüdische Ministerin. So würde ich es immer noch beschreiben, wobei ich mich ungern darauf reduzieren lasse, Frau oder jüdisch zu sein, oder auf irgendein anderes Merkmal. Das widerspricht meinem universalistischen Menschenbild und auch meinem politischen Ansatz.
Aufbau | Was bedeutet diese Rolle in der aktuellen Situation?
Karin Prien | Jüdische Menschen in Deutschland und weltweit stehen massiv unter Druck, und Israel wird wegen seiner Aussenpolitik aus meiner Sicht zwar zu Recht kritisch beleuchtet, aber, verglichen mit anderen Staaten, sicherlich nicht immer gerecht. Also ist es gut, wenn da jemand sagt: ich verstehe vieles von dem, was jüdische Menschen in Deutschland oder auch Israel denken, und ich bin auch bereit, deren Positionen einzunehmen. Das ist etwas, was wir in Deutschland im Moment brauchen, angesichts einer gesellschaftlichen Debatte, die Jüdinnen und Juden und ihre Perspektiven fast gar nicht mehr sieht.
Aufbau | Ihre Koalition wird gerne als eine Art letzte Chance bezeichnet, um einen Wahlsieg der AfD 2029 zu verhindern.
Karin Prien | Der Populismus ist inzwischen tief in bürgerliche Milieus eingedrungen. Dafür gibt es natürlich Gründe, die durchaus darin liegen, wie die liberale Demokratie derzeit agiert und funktioniert. Das muss man ansprechen und darauf konkrete Antworten finden. Trotzdem sperre ich mich gegen dieses Gerede von der letzten Patrone. Ich halte unser politisches System in Deutschland für eines der stabilsten der Welt. Wir sollten uns nicht selber kleinreden. Aber wir sind auf dem Prüfstand, und dem müssen wir gerecht werden.
Aufbau | Die Rolle Ihrer Partei bezüglich der AfD ist ambivalent. Man sieht die Notwendigkeit einer Brandmauer, zugleich gibt es Gedankenspiele, diese einzureissen. Der Kanzler tat dies im Januar, kurz vor den Wahlen, bereits. Wie empfinden Sie das?
Karin Prien | Die Situation im Januar fand ich sehr belastend. Sie können mir glauben, dass ich im Hintergrund vieles versucht habe, um dieses Vorgehen zu verhindern. Es war aber klar, dass das eine einmalige Sache sein würde. Wir waren in einer Wahlkampfsituation, in der wir auf diese furchtbaren Anschläge reagieren mussten, bei denen sogar Kinder ermordet wurden. Trotzdem hielt ich diesen Weg für falsch. Diese Analyse wird inzwischen auch in meiner Partei und ihrer Spitze mehrheitlich geteilt. Solche Experimente zahlen sich nicht aus, wir haben mit der Aufweichung der Brandmauer überhaupt nichts zu gewinnen! Beispiele aus anderen europäischen Ländern zeigen, dass eine Annäherung an Rechtspopulisten am Ende nur diesen dient.
Aufbau | Trotzdem hört man bisweilen von Überlegungen innerhalb der Union zum Umgang mit der AfD.
Karin Prien | Ich gehöre zur absoluten Führungsspitze dieser Partei und kann Ihnen sagen: wir haben diese Überlegung nicht. Gerade im Oktober hatten wir eine intensive Tagung dazu. Ich werde von Journalisten oft angesprochen, es gäbe da Leute, die einen anderen Umgang wollten. Ich kenne sie nicht. Natürlich gibt es auch bei uns Leute an irgendwelchen Stammtischen, die darüber räsonieren, das will ich nicht bestreiten. Aber in der Führungsspitze der Union wird das nicht als Alternative oder als Option diskutiert.
Aufbau | Was sagt es aus, wenn jüdische Menschen in Europa rechtspopulistische Parteien als diejenigen sehen, die für ihre Interessen und Sicherheit einstehen?
Karin Prien | Es sagt zumindest aus, dass sie sich von anderen Parteien aufgrund ihrer Haltung zum israelisch-palästinensischen Konflikt, aber auch zu palästinensischen Demonstrationen und der grassierenden Judenfeindlichkeit auch aus dem linken und migrantischen Milieu nicht mehr hinreichend gesehen und gehört fühlen. Das ist ein schwieriges Thema. Ich führe diese Gespräche immer wieder. Es heisst dann: warum lasst ihr Demonstrationen zu, in denen ‹From the River to the Sea› geschrien wird, dass die Terrororganisation Hamas auf deutschen Strassen die Ereignisse des 7. Oktober leugnet oder irgendwelche Gruppen für die Ausrufung des Kalifats brüllen? Dass sich jüdische Studierende an Hochschulen nicht mehr sicher genug fühlen, oder ein Teil der Kulturszene, etwa in Deutschland, stark in Richtung BDS tendiert und sich nicht nur mit Palästina solidarisch erklärt, sondern mit der Hamas? Dass das jüdische Menschen politisch verzweifeln lässt, ist nachvollziehbar.
Aufbau | Fühlen Sie sich in dieser Situation bedroht?
Karin Prien | Ich werde natürlich im Netz immer wieder massiv angegriffen, und auch politisch, als ich sagte, dass ‹From the River to the Sea› kein harmloser Satz ist. Aber bisher Gott sei Dank nicht körperlich, oder so, dass ich mich in irgendeiner Weise fürchten würde. Ich bin ja auch in einer privilegierten Situation, weil mich im Zweifelsfall immer auch Kollegen begleiten, die dann ein Auge auf mich werfen, wenn es schwierige Veranstaltungen werden.
Aufbau | Sind diese Online-Angriffe antisemitisch?
Karin Prien | Ja. Ich wurde vor einigen Wochen in einem Interview gefragt, ob ich unter einem AfD-Bundeskanzler Deutschland verlassen würde. Nach langem Überlegen sagte ich, das wäre wahrscheinlich spätestens der Punkt, an dem ich das ernsthaft in Betracht ziehen würde. Daraufhin bekam ich so viel Häme, auch von AfD-Abgeordneten und Anhängern, in der Art: ‹geh doch endlich, wir sind froh, wenn du weg bist!›, ‹was interessiert mich, ob du dich fürchtest?›, oder: ‹nur wegen deiner Grosseltern!› Von radikaler palästinensischer und linker Seite wird mir wiederum vorgeworfen, ich sei israelfreundlich und unterstützte den Genozid.
Aufbau | Kann man sagen, dass die Rechte den Kampf gegen Antisemitismus gekapert hat?
Karin Prien | Den Eindruck kann man manchmal bekommen. Gekapert würde ich noch nicht sagen, aber es scheint manchmal, dass das Verhältnis zu Israel zu einem Kulturkampfthema wird, bei dem es nur noch Gut und Böse, nur noch Schwarz und Weiss gibt. Man ist für Israel oder dagegen. Es gibt keine Differenzierung mehr zwischen dem, was die israelische Regierung oder Armee tut, was in der Zivilgesellschaft in Israel passiert und dem, was Jüdinnen und Juden weltweit denken, wie sie handeln, welche Musik oder Literatur sie machen. Es gibt nur noch Juden und Zionisten auf der bösen Seite, die alles verkörpern, was Linksextremisten furchtbar finden. Auf der anderen Seite stehen die, die sagen: absolute Solidarität mit allem, was die israelische Regierung tut, verbunden mit einem anti-islamischen Reflex. Eigentlich versteckt sich dahinter auch eine starke Muslim- und Islamfeindlichkeit, die man mit besonderer Israel- und Judenfreundlichkeit begründet. Höchst suspekt, die eine Minderheit gegen die andere auszuspielen.
Aufbau | 2021 gab es in Deutschland ein Festjahr zum Thema 1700 Jahre jüdisches Leben. Wie sehen Sie dieses jüdische Leben heute in Deutschland, in Europa?
Karin Prien | Jüdisches Leben ist in Europa massiv in Bedrängnis. Dabei ist die Situation in den einzelnen Ländern durchaus differenziert zu betrachten. In Deutschland würde ich immer noch sagen, dass die Politik der demokratischen Mitte zu Israel steht und sehr engagiert ist beim Schutz jüdischen Lebens. Mir ist das manchmal zu sehr an Antisemitismus orientiert. Ich würde mir wünschen, dass jüdisches Leben ganz selbstverständlich ein viel stärkerer Teil des politischen und gesellschaftlichen Lebens ist. Grundsätzlich ist die Lage in Deutschland aber einigermassen stabil. In den Niederlanden, wo ich neulich war, scheint mir die Situation durchaus ernster zu sein, von Belgien und Spanien will ich gar nicht reden. Und in Frankreich, wo es ja eine grosse jüdische Gemeinde gibt, steht diese massiv unter Druck. Im Grunde kann man sagen, jüdisches Leben ist im Moment weltweit gefährdet. Es ist eine Situation, die ich noch vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten hätte.
Aufbau | Sie erwähnten ja schon die Hassreaktionen auf Ihre Gedanken zu einer möglichen Auswanderung aus Deutschland. Gab es eigentlich auch andere?
Karin Prien | Ja, durchaus. Man muss ja ehrlicherweise sagen: es ging in dem Interview um eine nachdenkliche, herantastende Antwort auf eine Frage. Ich bin nicht einfach an die Öffentlichkeit gegangen und habe gesagt: wenn jetzt nicht dies oder jenes passiert, dann gehe ich. Viele, die mich danach ansprachen, waren schockiert, dass ich mich so drastisch geäussert habe, weil ich ja eher als zuversichtlich und gemässigt gelte in meinen Äusserungen. Andere sagten, es war genau richtig. Neben hämischen und negativen Reaktionen bekam ich eben auch viel Zustimmung und Verständnis.
Aufbau | Was bedeutet Ihnen das?
Karin Prien | Ich muss immer wieder darum werben, denn wenn ich in meine Familie schaue, spielt, wie in allen jüdischen Familien, die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt immer eine Rolle. Die muss man sich ja immer stellen: wie anders wäre das Leben für unsere Familie verlaufen, wenn wir andere Entscheidungen getroffen hätten? Bis hin zu der Frage, was macht man eigentlich mit seinen Kindern? Schickt man die irgendwann weg, wenn man selber bleibt? Das ist eingebrannt in die Gedankenwelt – auch in meine.
Aufbau | Ihre Eltern haben Sie einst davor gewarnt, sich in der Öffentlichkeit als jüdisch zu erkennen zu geben. Dachten Sie jemals, dass sie vielleicht recht hatten?
Karin Prien | Meine Mutter hatte zumindest Recht damit, dass der Antisemitismus nicht weg ist, und dass Antisemiten potenziell auch bereit sind, Juden wieder wegen ihres Jüdischseins zu diskriminieren oder zu verfolgen. Trotzdem stehe ich zu meiner Entscheidung, das öffentlich zu machen, weil ich dadurch einen Beitrag dazu leisten kann, dass man sich mit diesen Fragen offen, mit offenem Visier auseinandersetzt. Wer mir gegenüber antisemitische Äusserungen macht, muss bereit sein, sich mit mir zu beschäftigen. Ich kann natürlich jüdische Positionen auch ganz anders in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen. Und das sehe ich auch als meine Aufgabe. Sicherlich nicht als die einzige, aber als einen Teil davon. In den letzten Wochen und Monaten denke ich viel an meine Grosseltern auf väterlicher Seite und das, was sie erlebt haben. An die Gespräche mit ihnen über ihre Flucht, ihr Exil, ihr Wiederankommen in Deutschland. Auch über die Gedankenwelt meiner Eltern denke ich viel nach. Man wird von seiner eigenen Familiengeschichte und Identität eingeholt, und bei meinen Söhnen setzt sich das weiter fort.
Tobias Müller ist aufbau-Autor und lebt in Amsterdam.