Am 8. Mai 1945 endete die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten und damit der Zweite Weltkrieg in Europa durch die vollständige Kapitulation der deutschen Wehrmacht – die Jahrhundertzeugen Georg Stefan Troller und Wolf Biermann im Gespräch über Befreiung und neue Bedrohungen.
Wolf Biermann | Verehrter Monsieur Troller, jetzt sehen wir uns mit Andreas Öhler in der Normandie wieder in Ihrer reetgedeckten Sommerhütte, nachdem wir uns letztes Jahr in Paris begegnet sind. Gestern war ich am Juno Beach zwischen Bayeux und Caen, da, wo die Briten und die Kanadier am D-Day angelandet sind. Ich war dort, um mich zu bedanken dafür, dass sie dafür gesorgt haben, dass wir beide uns heute hier unterhalten können.
Georg Stefan Troller | Dann hat sich das alles ja doch gelohnt. Weisst du eigentlich, geschätzter Herr Biermann, dass du dich hier auf neuem französischem Naziterrain befindest?
Wolf Biermann | Nein. Ist das ein Witzchen, oder hat es leider Witz?
Georg Stefan Troller | Das beste Wahlergebnis hat in dieser Gegend Marine Le Pen erreicht.
Wolf Biermann | Du hältst hier also ganz alleine die Stellung als Posten im ewigen Freiheitskrieg.
Georg Stefan Troller | Tja. Ich denke immer, wenn mein Koch hier anrückt oder meine Krankenbetreuer, dass sie sich an mir rächen könnten. Der Koch scheint zumindest auf gutem Wege zu sein. Der ist wohl am gefährlichsten.
Wolf Biermann | Ihr Amis seid eben damals zu schnell gewesen auf eurem Vormarsch nach Deutschland. Sonst hättet ihr im Vorbeigehen die französischen Faschisten auch noch entnazifizieren können. Wenn Marine Le Pen doch noch an die Macht gelangt …
Georg Stefan Troller | Dann wäre es fatal, auf Donald Trump zu wetten.
Wolf Biermann | Euch GIs, meiner Sowjetischen Armee und den taffen Briten haben wir zu verdanken, dass das besetzte Europa und Nazideutschland befreit wurden. Ich wurde oft gefragt, ob ich den Alliierten dankbar bin, dass sie uns befreit haben. Ja, ich bin deren Nachgeborenen immer dankbar. Ganz egal, ob mit Trump oder Putin, Hillary Clinton oder sogar Stalin. Dankbarkeit ist ja kein Blankoscheck für politisches Einverständnis. Ich bin den Amerikanern noch tiefer dankbar, weil ich von Historikern weiss, dass ohne ihr Eingreifen es schon im Ersten Weltkrieg keinen Versailler Vertrag gegeben hätte. Die Kenner wissen, dass Hitler den Zweiten Weltkrieg gegen Stalin wohl gewonnen hätte. Der notwendige Kriegseintritt der USA 1942 hat die Not gewendet. Das heisst: die Amerikaner haben für mich in den nächsten 10 000 Jahren noch viel gut.
Georg Stefan Troller | Innenpolitisch ist auf die Franzosen jedenfalls kein Verlass. Das französische Volk besteht auf seiner Ideologie, auch wenn das Land kaputtgeht. Warum? Weil es interessant ist. Die Franzosen suchen immerfort die Aufregung, deshalb ihr Faible für Regierungsstürze und Generalstreiks. Auch das Urteil für Marine Le Pen, wegen Veruntreuung europäischer Gelder zu einem politischen Amt nicht zugelassen zu werden, passt in dieses Erregungsprofil. In der Französischen Revolution strickten die schaulustigen Frauen gemütlich, während die Köpfe auf der Guillotine rollten. Drunter macht es der Franzose oder die Französin nicht.
Wolf Biermann | Aber zurück zu dir, lieberGeorg. Wo bist du denn damals in Frankreich angelandet? Und vor allem wann?
Georg Stefan Troller | Ich kam über Casablanca in Südfrankreich an. Mein «shipping out» war ein Jahr später als das der Kameraden. Ich musste noch ein paar Monate länger im Camp in South Carolina sehnsüchtig auf meinen Kriegseinsatz gegen die goddamned Krauts warten. Dass mir ein ironischer Witz womöglich das Leben gerettet hat, nenne ich das typische Trollerglück.
Wolf Biermann | Bitte, erzähl uns Deine Geschichte in der grossen Geschichte!
Georg Stefan Troller | Kurz bevor wir für das «overseas», die Einschiffung nach Europa, ausgewählt wurden, wurden in meinem Team alle dienenden Deutschen und Italiener durchgecheckt nach Vorbehalten, sie in Europa kämpfen zu lassen. «You from Germany?», fragte mich der Sergeant. Ich antwortete ihm, dass ich aus Österreich stamme. Darauf er: «Dann musst du ja gut mit Hitler bekannt sein.» – «Nar klar, zur Hölle, das ist mein bester Buddy.» – Eine Woche später wurde meine gesamte Kompagnie nach Nordafrika eingeschifft, wo die Mehrzahl meiner Kameraden starben. Acht-Wochen-Rekruten gegen Rommels erfahrenes Afrikakorps. Das kam dabei raus. Ich blieb im Camp Croft zurück und wurde zu weiteren Monaten Küchendienst verdonnert.
Wolf Biermann | Musstest du, nach dem Kartoffelkrieg, auch gegen die Deutschen kämpfen?
Georg Stefan Troller | Im Frühjahr 1945 haben wir den Westwall durchbrochen. Danach ging es ziemlich schnell vorwärts. Die Menschen entlang unserer Vormarschroute hingen eilfertig weisse Fahnen aus ihren Fenstern. Sich an die neuen Sieger ranzuschmeissen, konnte gar nicht flugs genug gehen. Plötzlich hatte jeder irgendwo einen verwandten amerikanischen Auswanderer in der Familie. Alle schmückten sich mit einer jüdischen Grossmutter, die man im Ariernachweis selbstverständlich vertuscht hatte.
Wolf Biermann | Wie du ja weisst, habe ich mit meiner Mutter im Juli 1943 das Bombardement in Hamburg überlebt. Die britische Luftwaffe hatte mit ihrer «Operation Gomorrha» die Stadt zu 60 Prozent zerstört. Besonders schwer hat es unseren Stadtteil Hammerbrook getroffen. Da stand kein Stein mehr auf dem anderen. Ich schrieb das genauer auf in meiner Autobiografie «Warte nicht auf bessere Zeiten!»: Die Menschen verbrannten zu Tausenden in den von Bombenfeuern und Phosphorbränden erleuchteten Nächten. Kein Gesicht, keine Farbe, keinen Geruch, kein Geräusch, keine Situation habe ich aus dem Gedächtnis verloren. Die Erinnerung an dieses Inferno ist mir eingebrannt wie nichts sonst.
Georg Stefan Troller | Ich entsinne mich, du hast darüber ein Lied geschrieben.
Wolf Biermann |
«Und weil ich unter dem Gelben Stern
In Deutschland geboren bin
Drum nahmen wir die englischen Bomben
Wie Himmelsgeschenke hin.»
Ich war ja im allerbesten Sinne aufgehetzt von meiner Mutter gegen die Nazis. In dieser Bombennacht kämpfte sich meine Mutter mit mir wie einem kleinen Rucksack auf ihrem Rücken durch das Wasser im Südkanal raus aus dem Feuer. Dann lagerten wir an der anderen Seite auf der Böschung mit noch fünf, sechs, sieben anderen Davongekommenen. Ich sah, wie bunt die Stadt um uns herum brannte. Und meine Mutter erklärte mir, dass diese Bombenflugzeuge unsere Verbündeten seien. Sie redete in einer Sprache, die ein Kind verstehen kann: «Die bösen, bösen Nazis haben unseren lieben, lieben Papa totgemacht. Und die lieben, lieben Flugzeuge, die die Bomben jetzt schmeissen, die retten uns vor den bösen, bösen Menschen, die unsern lieben Papa totgemacht haben». Ein surrealistischer Interessenskonflikt: Du freust dich über die Bomben, die dir selber auf den Kopf fallen.
Georg Stefan Troller | Aber kann ein Kind, dessen Welt gerade in Flammen aufgeht, diesen Widerspruch verstehen? Ich habe da so meine Zweifel.
Wolf Biermann | Wenn du es einem Sechsjährigen nicht erklären kannst, dann hast du es selber nicht kapiert – das soll Einstein gesagt haben. Ich bin ja kein Kinderpsychologe. Aber das erinnere ich genau: kein einziges Kind in diesem Inferno hat geweint, gejammert oder geschrien. Der Schrecken war zu gross. Klagen hatte keinen Sinn mehr, wäre nur Kräftevergeudung gewesen.
Georg Stefan Troller | Und wo wurdest du befreit?
Wolf Biermann | Zehntausende ausgebombte Hamburger, darunter meine Mutter Emma und ich, wurden nach Niederbayern evakuiert. Abgebrannt und ausgebrannt. Meine Oma Meume kam später auch dahin. Der Vorteil für mich: die Pläne zur «Endlösung der Judenfrage», auch solche «Halbjuden» wie mich zu ermorden, stockten in diesem Tohuwabohu.
Im April 1945 rollten plötzlich amerikanische Panzer und Militärwagen durch die Bahnhofstrasse in Deggendorf, der Kleinstadt, in der Emma und ich einquartiert waren. Ich fragte meine Mutter, warum der Stern auf den Militärfahrzeugen, den ich für den Sowjetstern hielt, nicht rot war, sondern weiss. Ich sehe es noch heute, wie in einem Filmchen, diesen Jeep mit zwei properen GIs, beide mit Stahlhelm. Der eine schwarze Kerl sass am Steuer, sein linkes Bein hing lässig aus der flachen Klapptür des Jeeps raus. Ich wusste damals nicht, dass der sein linkes Bein nicht zum Kuppeln brauchte, nur den rechten Fuss für Bremse und Gaspedal. Und dieser Soldat hatte eine halb gerauchte Zigarette lässig im Mund und schnippte sie dann verächtlich auf die Strasse. Und ich Judenbalg sah, wie zwei oder drei Heil-Hitler-Herrenmenschen sich auf diese Kippe stürzten. Wie Möwen sich streiten um einen Brotbissen.
Georg Stefan Troller | Wir jüdischen Emigranten waren, als wir als amerikanische Militärangehörige hier einrückten, in der kollektiven Erinnerung der Deutschen ausgelöscht. Unsere Flucht in die USA erschien den Deutschen und Österreichern letztlich unbegreiflich. Als wären wir nur rechtzeitig abgehauen, um unsere Millionen in Sicherheit zu bringen oder im Exil welche zu machen. Während die Zurückgebliebenen nun das ganze Schlamassel auszubaden hatten. – Und die Juden stehen schon wieder auf der Siegerseite.
Wolf Biermann | Hattest du, hatte dich ein Hass gegen die Deutschen?
Georg Stefan Troller | Auch in Zeiten des schlimmsten Antisemitismus hat man in der mir vertrauten Umgebung niemals zurückgehasst. Wir haben uns höchstens über sie lustig gemacht. Das konnte schon auch scharf und verletzend sein, klar. Ironie, Spott – immer gerne. Aber Hass ist nicht meine Sache.
Wie steht’s mit dir, lieber Freund Biermann? Hast du je gehasst? Und tust du es noch?
Wolf Biermann | Ich kann mir kaum vorstellen, dass es auch nur einen Menschen gibt, der nicht beide Gefühle in seiner Brust hat: Wer nicht hassen kann, kann auch nicht lieben.
Georg Stefan Troller | Ich wollte mit meinen Filmen immer verstehen lernen, warum Menschen hassen. Tötungsfantasien hatte ich nie.
Wolf Biermann | Ich schon. Immer mal wieder. Ich wünsche meinen Todfeinden das Schlechteste, den Tod, alle Qualen der Welt. Für mich ist der Hass, wie die Liebe, Ausdruck für ein leidenschaftliches Verhältnis zur Welt. Keine Krankheit, sondern die natürliche Amplitude eines lebendigen Menschenherzens im Rippenkäfig.
Georg Stefan Troller | Kannst du mir den einen konkreten Fall nennen?
Wolf Biermann | Mein Vater hing als politischer Häftling in Hamburg ein halbes Jahr in Ketten an der Wand, bevor er später nach Auschwitz deportiert und ermordet wurde. Der Beamte, der ihn gefoltert hatte, sass nach dem Krieg wieder als Beamter im Büro und regelt den Hamburger Stadtstaat. Das wurde mir von meiner Mutter erzählt. Und du kannst dir an einem Finger ausrechnen, wie emotional ich geladen war in Bezug auf Hamburgs Nach-Nazi-Gesellschaft. Auch deshalb entschied ich, in die DDR überzusiedeln. Nicht mehr im Land der Täter zu leben war für mich eine zweite, wenn auch illusionäre Befreiung.
Georg Stefan Troller | Ich dagegen habe auch die deutschen Kriegsgefangenen nicht gehasst. Für mich waren das arme Hunde. Einmal haben wir ein paar Dutzend «graue Mäuse», eine Gruppe von Telegrafinnen gefangen genommen. Alles bildhübsche Mädchen. Und wir brachten sie in einer Scheune mit Stroh unter. Es war Weihnachten und sie sangen «Stille Nacht, heilige Nacht». Ich war auf ihrer Seite, fühlte mich ihnen zugehörig. Ich konnte mich mit ihnen identifizieren. Deswegen ist es mir unmöglich, diese blöde Frage, «Herr Troller, wo ist denn nun eigentlich ihre Heimat?», zu beantworten.
Wolf Biermann | «Herr Biermann, wo gehören Sie hin?» – Solange ich wenigstens bei mir bin, denke ich über solche Frage nicht nach. Nur darauf kommt es an, ob man bei sich selber ist. Das ist die Ur-Heimat des Menschen, sogar in der Einzelzelle.
Georg Stefan Troller | Interessant, lieber Herr Biermann. Ich verspürte zeitlebens den tiefen Wunsch, ein anderer zu sein, mich in anderen Menschen meiner eigenen Existenz zu versichern.
Wolf Biermann | Kein Ei kann sich das Nest aussuchen, in dem es ausgebrütet wird. Das gilt für das Zeitalter, in das man hineingeboren wird. Das gilt für das Land, in das man reingeboren wird. Aber auch für die soziale und die politische Gruppe, in die man hineinwächst. Wenn mein Vater ein SS-Obersturmbannführer gewesen wäre, wäre ich ein anderer Mensch geworden. Denn dann hätte ich meinen geliebten Vater mir aus dem Herz reissen müssen.
Georg Stefan Troller | Aber dein Vater wurde von den Nazis ermordet.
Wolf Biermann | Mein Vater hatte das grauenhafte Privileg, von den Nazis ermordet zu werden. Und zwar im doppelten Sinne, denn er hatte das tragische Glück, dass er nicht von seinen eigenen Genossen in der Sowjetunion liquidiert wurde, so wie die allermeisten Kommunisten, die es schafften, sich in die Sowjetunion zu retten. Von zehn Kommunisten, die aus Hitler-Deutschland in die Sowjetunion flohen, wurden acht dort ermordet. Und etliche, die überlebten, haben nur überlebt, weil sie ihre Genossen verraten haben an Stalins Menschfressermaschine. Denke an Walter Ulbricht oder Herbert Wehner. In diesem zynischen Sinne bin ich ein Glückskind, weil ich einen Vater habe, der von seinen wirklichen Feinden ermordet wurde und nicht von seinen falschen Genossen. Auch aus diesem Grund kann Heimat für mich kein Ort sein.
Georg Stefan Troller | Die Sehnsucht nach Heimat deckt sich für mich mit der Sehnsucht nach der Kindheit. Dort liegen Ort und Moment, wo man zum ersten Mal erfährt, dass die Dinge einen Namen haben. Und wenn man sie beim Namen nennt, ist ihr Schrecken gebannt.
Wolf Biermann | Eine beneidenswerte Kinder-Idylle. Die Zeiger meiner Lebensuhr haben sich im Feuer der Hamburger Bombennacht 1943 festgebrannt und blieben stehen. Ich bin ein «gebranntes Kind, das neugierselig nach dem Feuer sucht» , wie ich in meiner Ballade schrieb.
Georg Stefan Troller | In meiner gut behüteten Wiener Welt hat man sich in der Kindheit vor so gut wie allem gefürchtet. Eine quietschende Schranktür war das Höllentor. Aber sobald man erfuhr, dass der Schrank in Wien «Kasten» heisst, dann war ja die Angst genommen vor dem Ding.
Wolf Biermann | Wie Heine dichtete: «Nur Narren fürchten nichts.»
Georg Stefan Troller | Wenn du etwas beim Namen nennen kannst, wird es ein Teil von dir. Das Wort wird Bestandteil deiner Ausdrucksmöglichkeiten. Und das ist Heimat. Mit dieser Form von Heimat kann ich mich identifizieren. Das ist etwas ganz anderes, als wenn die Leute immer mutmassen, Österreich, Amerika oder jetzt Frankreich sei meine Heimat geworden. Heimat lässt sich nicht transferieren.
Wolf Biermann | Das weiss ich nicht, und das stimmt wohl. Ich sehnte mich in der DDR, in Ostberlin, niemals nach dem Westen, aber immer nach Hamburg. Und nicht nach Hamburg, sondern nach dem Hafen. Nach den Fäulnisgerüchen im Fleet in Hammerbrook, wo ich als Kind wohnte und wo die Schuten fuhren.
Georg Stefan Troller | Wusstest du, dass der Schauspieler Hans Albers eine Schallplatte besass, nur mit Geräuschen vom Hamburger Hafen? Die hörte er, als er nach dem Krieg am Starnberger See wohnte, immerzu ab. Für ihn war Heimat Kindheit und umgekehrt.
Wolf Biermann | Jeder zweite Schriftsteller, dem diese Frage gestellt wird, besonders wenn er ins Ausland getrieben wurde wie in der Nazizeit etwa Bertolt Brecht oder Thomas Mann oder Lion Feuchtwanger, die professionellen Wortemacher sagen gern. «Meine Heimat ist die deutsche Sprache.» Du kennst das ja. Aber das ist auch nicht gültig für mich. Die Sprache kann auch eine Chimäre sein.
Georg Stefan Troller | Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich meine Sehnsucht nach Zugehörigkeit ergriffen hat, als ich wieder den deutschen Sprachraum betrat. Dieses innere Gefühl, dass man eigentlich zu diesem Sprachraum gehört, dass man Teil dieser Kultur ist. Aber kann man einer Sprache angehören, ohne dem Volk anzugehören, das diese Sprache spricht?
Wolf Biermann | Man kann in jeder Sprache eine Kanaille sein oder auch ein tapferer Kämpfer für die Freiheit. Sogar in jedem Schweigen. Übrigens: Ich habe in einem Dokumentarfilm zu deinem 100. Geburtstag eine für mich bewegende Szene gesehen. Da besuchst du mit der Filmemacherin eure alte Wohnung in Wien, die ihr mit der Emigration verlassen habt. Die Wohnungsinhaberin lässt dich in die Wohnung, da steht der alte Bibliotheksschrank der Familie noch im Wohnzimmer …
Georg Stefan Troller | Es ist schon eigentümlich, dass man auf einmal mit den Büchern konfrontiert wird, die man zur Bar Mizwa bekommen hat vor 90 Jahren. Aber ich wollte mich nicht hinstellen und einen Skandal machen.
Wolf Biermann | Gab dir das nicht einen Stich ins Herz, als du deinen alten Bücherschrank im Salon der Schweinehunde wiedersahst?
Georg Stefan Troller | Ich war halt schon alt. Und es bedeutete mir nicht mehr viel. Einige Jahrzehnte vorher wäre mir das Wiedersehen mit der Kindheit als erschütternder Moment vorgekommen. Aber jetzt war es mir eigentlich wurscht. Ich will diese alten Bücher nicht mehr haben, nicht mehr sehen. Es war abgetan. Aber dieser Augenblick entbehrte nicht einer gewissen grotesken Komik.
Wolf Biermann | Das glaube ich sofort. Hätte Israel jemals Heimat für dich werden können?
Georg Stefan Troller | Ich war mal als Filmemacher für eine Reportage in Israel. Es war schon sehr interessant. Aber es war kein Land, mit dem ich mich identifizieren konnte. Eigentlich hätte man das als Jude ja müssen. Aber ich habe nie das Gefühl gehabt, dass dort jemals meine Heimat sein könnte. Nur mit dem Humor konnte ich etwas anfangen. Er glich dem Wienerischen.
Wolf Biermann | Sag mal, diese Frau in München, die eine Zeitlang ein Verhältnis zu einem österreichischen Emigranten aus den USA pflegte, der als Befreier nach München kam … der hiess Troller. Kennst du den?
Georg Stefan Troller | Für mich war sie die schönste Frau der Welt.
Wolf Biermann | Wie sah sie aus? War sie gross oder klein?
Georg Stefan Troller | Sie war gross und war stattlich, sie war sportlich und sie war eine Intellektuelle. Sie studierte an der Uni und hat später einen Schweizer Diplomaten geheiratet, der schon zwei Kinder hatte. Dieser Diplomat hat sich in ein griechisches Hirtenmädchen verliebt, meine Freundin verlassen und diese Griechin geheiratet.
Wolf Biermann | Das ist das Mysterium höherer Ungerechtigkeit. Und wie hast du die Verlassene gefunden?
Georg Stefan Troller | Ich war bei der amerikanischen Besatzung tätig. Und damals gab es Postzensur. Sie kam in mein Büro und sagte: «Ich habe hier einen Brief an meinen Vater. Mein Vater ist geschieden und lebt in den USA und möchte nicht, dass ein Zensor diesen Brief liest. Darf ich Sie bitten, diesen Brief unzensiert weiterzuschicken?» – Sie war schön und ich habe es versprochen. Am gleichen Abend setzte ich mich in unseren Jeep und fuhr zu ihrer Adresse in Bogenhausen. Sie machte mir die Tür auf und ich wusste: Sie ist es.
Wolf Biermann | Und sie wusste es auch?
Georg Stefan Troller | Offenbar. Na ja, es dauerte dann ein Jahr. Und dieses Jahr war ein glückliches Jahr für mich. Ich ging dann 1946 zum Studium nach Kalifornien zurück, da stand ich noch mit ihr in Korrespondenz. Und sie schrieb: «Du musst unbedingt bei meinem Vater wohnen in Beverly Hills.» Feine Adresse. Ich ging da hin, stellte mich vor, und er lud mich ein, dort zu übernachten. In der Nacht klingelte das Telefon und ich hob den Hörer ab. Der Anruf war natürlich nicht für mich, sondern für ihn. Und ich sagte zum Anrufer «I´m sorry, I can´t help you.» Er war überzeugt, dass ich ihn ausspioniere, und das Telefon abgehoben hätte, um das Gespräch abzuhören. Darauf hat er mit seiner Tochter korrespondiert und ihr gesagt, dass er keine Juden möge. Darauf schrieb sie zurück, er solle sich keine Sorgen machen, sie würde nie einen Juden heiraten.
Wolf Biermann | Und wie bist du an den Brief gekommen?
Georg Stefan Troller | Durch einen Kameraden von der Army. Wir haben uns alle nach dem Krieg einen Job gesucht, ich ging zum Bayerischen Rundfunk und er zur Zensurbehörde. Damals mussten ja Briefe offen abgegeben werden, damit die Zensur sie lesen kann. Und er hat diesen Brief meiner Freundin an ihren Vater gelesen und hat ihn mir zugeschickt.
Wolf Biermann | Weisst du, was aus ihr geworden ist?
Georg Stefan Troller | Ich habe sie wiedergesehen. Sie hatte eine entzückende Mutter, die ich sehr mochte. Und als die Mutter starb, schrieb sie mir, ob ich nicht zum Begräbnis kommen könnte. Ich war damals schon in Paris. Ich ging zum Begräbnis. Und dort sagte sie zu mir: «Weisst du, warum ich dich damals nicht geheiratet habe?» Ich sagte: «Nein. Warum?», und sie antwortete: «Weil du doch eigentlich in meine Mutter verliebt warst.» Was ja gar nicht stimmte.
Wolf Biermann | War das deine grösste Liebe?
Georg Stefan Troller | So in etwa. Erste Liebe hat immer etwas Beispielgebendes.
Wolf Biermann | Was haben denn deine Eltern gesagt, dass du eine bayrische Schickse zur Frau hattest? Hatten sie erwartet, dass du eine Jüdin heiratest?
Georg Stefan Troller | Eigentlich nicht. Ich habe in meinem ganzen Leben nie eine jüdische Freundin gehabt.
Wolf Biermann | Warum nicht?
Georg Stefan Troller | Wer will schon mit sich selbst verheiratet sein? Was anderes: Du schimpfst dich ja als einen Brechtianer. Hast du ihn jemals persönlich getroffen?
Wolf Biermann | Ich habe ihn knapp verpasst. Die grosse Helene Weigel hat mich erst ein halbes Jahr nach seinem Tod als kleinen Regieassistenten ins Berliner Ensemble aufgenommen. Und du?
Georg Stefan Troller | Ich habe ihn gelegentlich bei Veranstaltungen unter Exilanten in New York gesehen, aber nie mit ihm gesprochen. Aber in Paris gab es nach dem Krieg internationale Theaterfestspiele. Und dazu wurde aus Ostberlin Bertolt Brecht eingeladen, und der kam mit zwei Stücken. Ich arbeitete damals für die Stimme Amerikas, also für die Propaganda. Und ich wurde dahin geschickt, um das Stück auszupfeifen. Ich ging hin, das Stück gefiel mir so gut, dass ich gleichzeitig gepfiffen und geklatscht habe.
Wolf Biermann | Hast du jemals bereut, den USA den Rücken gekehrt zu haben?
Georg Stefan Troller | Ich hatte schon einen Collegeabschluss in Amerika. Bekam einen Heimatwahn. Und wollte nach Wien zurück. Dort blieb ich ungefähr sechs Wochen. Dann bekam ich das amerikanische Fulbright-Stipendium. 150 Dollar im Monat, ein Vermögen damals. Aber das war für Paris ausgestellt. Und so kam ich nach Paris.
Wolf Biermann | Apropos Stipendien. Kriegst du eigentlich eine Soldatenrente?
Georg Stefan Troller | Ja. Und die ändert sich jeden Monat, weil der Dollarkurs immer so schwankt. Manchmal ist es ein Vermögen und manchmal gar nichts. Aber einer der vielen erstaunlichen Momente meines Lebens war vor zweieinhalb Jahren. Da kam eine österreichische Dame auf mich zu und fragte mich, ob ich nicht wieder einen österreichischen Pass haben möchte. Ich sagte: «Wenn es sein muss.» Und ich bekam meinen österreichischen Pass. Ich bin jetzt Doppelstaatler.
Wolf Biermann | Ich bin in gewisser Hinsicht auch Doppelstaatler. Ich bin nämlich kein deutscher Dichter, sondern ein deutsch-deutscher Dichter. Und das ist eine produktive Konstellation. Man schaut mit zwei Augen. Ich habe in beiden Systemen wirklich gelebt. Und nicht bloss mal als Tourist in die DDR reingeschnuppert.
Georg Stefan Troller | Ich habe eigentlich immer gewünscht, dass jemand aus der alten Heimat zu dem aus dem Exil Heimgekehrten sagt: «Wir haben dich vermisst.» Und: «Gut, dass du wieder da bist. Du hast uns gefehlt. Wir brauchen dich.» Erst spät in meinem Leben wurden diese Sätze im Zusammenhang irgendeiner Ehrung ausgesprochen. Aber da hatte ich es dann nicht mehr gebraucht. Am Sieg gegen die Nazis so aktiv beteiligt gewesen zu sein weckte auch in mir ein gewisses Triumphgefühl. Aber gleichzeitig zählte ich mich auch irgendwie zu diesen Leuten, denen wir die Demokratie und die Freiheit brachten. Ausgerechnet das Volk, das mich als Jude gedemütigt hat, hat später auch meine Empathie für seine Niederlage geweckt. Das ist doch ziemlich eigentümlich.
Wolf Biermann | Wenn ich nach dem Krieg in Hamburg gesungen habe: «Wir sind die junge Garde des Proletariats», dann wusste ich genau: Ich bin diese junge Garde. Ich muss jetzt meinen Vater rächen, ich muss nebenbei noch die Menschheit retten und endlich den Kommunismus aufbauen.
Georg Stefan Troller | Hast du nie mit deiner jüdischen Identität gehadert?
Wolf Biermann | Es überlebte keiner in meiner Familie, der noch einen Juden aus mir hätte machen können. Die wurden ja alle umgebracht. Trotzdem wusste ich immer, dass ich ein Jude bin. Und unter den Kommunisten hatten die Juden eher ein genervtes Verhältnis zur Frage des Jüdischseins. Der Romancier Jurek Becker war mein Komplize. Als ich mal mit ihm darüber reden wollte, dass wir doch Juden seien, blaffte er mich an: «Ich bin kein Jude, ich bin Kommunist.»
Georg Stefan Troller | Ich gehe langsam aus der Welt. Aber trotzdem wühlt mich das Tagesgeschäft immer noch auf. Ich war dabei, als Frankreich befreit wurde, als Deutschland befreit wurde, und jetzt entsteht ein Europa, das die Demokratie mit Füssen tritt. Gibt es Grund, resigniert zu sein?
Wolf Biermann | Auch ich habe solche Ängste immer, aber die Angst hat selten mich.
Ich kenne – so wie du – auch die eine grosse Liebe im Leben. Sie begann 1983 und dauert etwas länger, bis heute: meine Frau Pamela. Die Liebe zu einem Menschen ist die Grundvoraussetzung dafür, dass man die Menschheit überhaupt aushält. Heinrich Heine erfand im Gedicht «Enfant perdu» zu dem damaligen Modewort «Die Freiheitskriege gegen Napoleon» den sensationellen Singular: «Freiheitskrieg der Menschheit». Dieser Krieg tobt schon seit der Steinzeit, wurde immer wieder blutig verloren, trotz alledem neu gewagt und wird hoffentlich in unserer Epoche wieder gewonnen.
Andreas Öhler, geboren 1958, hat nach Jahren als Dokumentarfilmer für Arte und 3Sat zunächst als Literaturchef beim «Rheinischen Merkur» und dann als Autor und Redakteur bei der «ZEIT»-Beilage «Christ und Welt» gearbeitet. Er schreibt heute für verschiedene Zeitschriften Kolumnen und Essays und macht Interviews – allen voran für die «ZEIT» und für das Schweizer Magazin «bref».