Daniel Cohn-Bendit und Michel Friedman im Gespräch.
Aufbau | Beide sind Sie in Paris geboren, staatenlos aufgewachsen und durch das Erleben von Staatenlosigkeit und Heimat oder dann Exil geprägt worden. Hannah Arendt war Exilantin, Flüchtling, Staatenlose und lebte später in Paris. Wie verbinden und prägen diese Lebensaspekte?
Daniel Cohn-Bendit | Für mich ist Paris mehr als nur ein Ort meiner Kindheit – es ist der Ort, an dem sich Identität und Geschichte überkreuzen. Als Kind jüdischer Holocaustüberlebender war Selbstbewusstsein kein Privileg, sondern Notwendigkeit. Anders als viele deutsche Juden, die im Schatten der Shoah und in vorsichtiger Unsichtbarkeit sozialisiert wurden, war mein Zugang zur Welt offener, fast trotzig. Emanzipation wurde zu einem existenziellen Auftrag: Ich habe von Anfang an gedacht, dass Duckermäusserung keine Option ist, dass man aufrecht gehen muss, auch mit biografischen Lasten.
Aufbau | Was heisst das konkret?
Daniel Cohn-Bendit | Hannah Arendt ist für mich gerade deshalb von so grosser Bedeutung – sie hat aus der Staatenlosigkeit einen intellektuellen Kraftakt gemacht. Identität war für sie nie ein Dogma, sondern immer ein Prozess, eine beständige Bewegung. Es war nie das Jüdische allein, sondern die Erfahrung von Flucht, Exil, gesellschaftlicher Marginalität. Das ist der Modus, in dem sie auch mich geprägt hat: zu hinterfragen bevor man gibt. Nicht zufrieden sein mit den Rollenzuschreibungen, sondern den eigenen Weg suchen. Das hat mich als politischer Mensch, als jemand, der sich beteiligt, zutiefst beeinflusst.
Michel Friedman | In Deutschland lebten viele Juden nach 1945 mit der Unsichtbarkeit, getragen von einer Angst, die das Politische oft unterdrückte. Die Sorge vor Repression, davor, zu viel aufzufallen oder zu politisch zu sein, war immer präsent. Erst mit der Zeit – besonders in den 1970ern, in Frankfurt, als verschiedene Generationen beim Protest gemeinsam auf die Strasse gingen – öffnete sich der Raum, sich plural zu zeigen und zivilgesellschaftlich teilzunehmen. Die Emanzipation war ein kollektiver Kraftakt, geboren aus der Notwendigkeit, die Angst zu überwinden. Arendt war hier ein Vorbild: Sie stand für mutige Autonomie, intellektuelle Brillanz und Kompromisslosigkeit. Ihre Haltung – niemals taktieren, immer das Risiko eingehen, die Wahrheit zu sagen – fehlt oft in der Gegenwart. Sie war kein Instrument einer Gemeinschaft, sondern ein Subjekt der Wahrheit und der Differenz.
Aufbau | Hannah Arendt distanzierte sich zeitlebens von festen Zuschreibungen. Wie sehen Sie die Verbindung zwischen jüdischer Herkunft, Fluchterfahrung und politischem Engagement?
Daniel Cohn-Bendit | Es gibt keine lineare Verbindung. Viele Juden engagierten sich bei Civil-Rights-Bewegungen in Amerika. War das der «jüdische Drang zur Gerechtigkeit»? Möglich, aber vor allem ist es die Erfahrung von Ausgrenzung, die Menschen sensibel macht für Unrecht. Bei Arendt war Flucht kein theoretisches Thema, sondern eine Lebensrealität. Aber sie war nie die «jüdische Denkerin», nie Sklavin ihrer Herkunft. Viel entscheidender war ihr Ringen mit dem Widerspruch: Antisemitismus begegnen und zugleich mit Heidegger lieben und denken – das war die Intensität und Widersprüchlichkeit ihres Daseins. Ihre Schriften zeigen: Identität ist nicht der Motor, sondern die Fähigkeit, aus Grenz- und Brucherfahrungen neue Gedanken zu schöpfen. Bei Eichmann in Jerusalem etwa war es nicht die Analyse der Täter, sondern der Mut, die Judenräte zu kritisieren, der zum eigentlichen Skandal wurde. Arendt riskierte Widerspruch, sie forderte unbedingte Kritikbereitschaft. Auch ich habe nie aus Antisemitismus mein politisches Motiv gemacht, sondern aus dem Bedürfnis, Unterschiedlichkeit zuzulassen und Widerstandsfähigkeit zu beweisen.
Aufbau | Doch gerade die Debatte von Arendts Eichmann-Buch zeigt, wie radikal Arendt zumindest aufgefasst wurde. Hauptkritik war damals ihre Betrachtung der Judenräte. Was bedeutet das für Ihre Vorstellung von intellektueller Redlichkeit und Freiheit?
Daniel Cohn-Bendit | Arendt hat ein Recht auf radikales Denken als Irrtum verteidigt, ein Recht auf Provokation. Ihr Denken war kompromisslos: Die Freiheit besteht darin, das Unaussprechliche öffentlich zu machen, auch wenn das unangenehm ist. Die Frage nach den Judenräten war der eigentliche Skandal, nicht die «Banalität des Bösen». Es ist die Leistung von intellektueller Redlichkeit, dass sie gegen Konsens und Harmonie Position bezogen hat. Ihre kritische Gegenüberstellung von nationalsozialistischem und sowjetischem Totalitarismus war in den 1960ern eine Provokation, besonders für die Linke. Sie wurde für ihre Anti-Totalitarismus-These unter anderem von Habermas angefeindet. Aber sie hat nie taktisch gedacht, sondern immer darauf bestanden, dass politische Verantwortung nur echte Kritik und Offenheit kennt. Diese Kompromisslosigkeit treibt mein eigenes Denken: Differenz aushalten, Widerspruch wagen, auch wenn es unbequem bleibt. Die Aufgabe ist, Wahrhaftigkeit zu wahren – auch um den Preis der eigenen Isolation.
Michel Friedman | Arendt hat mit ihrer Authentizität gezeigt, dass intellektuelle Freiheit keine Komfortzone ist. Sie stand für unbequemen Mut, für die Lust am Risiko und am Widerspruch. In einer Zeit, in der die Gesellschaft allzu oft auf Anpassung und Wohlgefallen setzt, bleibt ihr Vermächtnis Mahnung und Aufforderung. Sie hat die Differenz nicht nur zugelassen, sondern zur Kernkompetenz des Denkens gemacht.
Aufbau | Herr Cohn-Bendit, Sie haben Hannah Arendt persönlich getroffen. Welche Bedeutung hatten die Begegnungen für Ihre Haltung und Ihr eigenes politisches Engagement?
Daniel Cohn-Bendit | Die Begegnungen mit Arendt waren prägend. Mit 14, nach dem Tod meines Vaters, suchte sie meine Mutter – sie brachte Trost, aber auch so etwas wie intellektuelle Solidarität. Arendt hatte keine Angst vor Nähe, aber auch keine Scheu vor Distanz. Sie wollte, dass junge Menschen eigenständig blieben. Für mich wurde daraus die Lehre: Sag, was gesagt werden muss, auch gegen die eigene Gruppe, auch gegen den Mainstream. Habe keine Angst vor deiner Wahrheit, wie du sie verstehst.
Aufbau | Jahre später hat Sie dann noch ein Brief von Arendt erreicht. Wie kam es dazu?
Daniel Cohn-Bendit | Beim Auschwitzprozess von 1963, da war ich 18 Jahre alt, traf ich sie wieder und führte Gespräche über die Zumutungen der Gegenwart. Den berühmten Brief, den sie 1968 für mich bei Mary McCarthy hinterlegte, denn diese lebte in Paris, habe ich nie erhalten. Er zwanzig Jahr später las ich ihn in einer Biographie von Hannah Arendt. Es war eine Art Vermächtnis: Sie bot mir finanzielle Hilfe bei meinem Engagement an und schrieb: «Deine Eltern wären stolz auf dich.» Für mich war das ein unglaublich bewegender Moment. Ich hatte meine Eltern früh verloren, und Hannah Arendt kannte meine Familie gut. Dieser Satz war wie eine späte Umarmung, eine Verbindung zu meinen Wurzeln. Es war nicht nur eine Anerkennung meines politischen Engagements, sondern auch eine sehr persönliche Botschaft. In diesem Augenblick wurde mir klar, wie sehr denken und handeln zusammengehören – und wie stark Arendt mich nicht nur als Philosophin, sondern auch als Mensch geprägt hat.
Aufbau | Im politischen Alltag war Arendts Denken oft Massstab und Irritation zugleich – wie haben Sie, Herr Cohn-Bendit, ihre Prinzipien in der Parteipolitik bei den Grünen in Frankfurt oder dann im Europaparlament gelebt?
Daniel Cohn-Bendit | Die Partei ist oft ein Feld des Kompromisses, der taktischen Rücksichtnahme. Doch Arendt lehrte mich, Dissens und Widerspruch auszuhalten. Als Politiker war ich oft gezwungen, eigene Positionen gegen den Zeitgeist, gegen die Mehrheit, selbst gegen die Partei zu vertreten. Die multikulturelle Integration, die europäische Idee, Migration und Minderheitenpolitik, der Bosnien-Krieg waren Felder, in denen ich nach Arendts Vorbild gehandelt habe sowohl in der Gesellschaft als auch in der Partei: Immer wieder den offenen Streit wagen, den Preis der Differenz bezahlen, nie Harmonie zum Ziel machen. Meine Rolle als «Grüner» und Europäer war von der Überzeugung geprägt, dass Minderheiten zur Mehrheit sprechen müssen, dass Wahrheit wichtiger ist als Parteidisziplin. Die Streitkultur, die ich gelebt habe, ist Arendts Erbe. Der Mut zur Kontroverse, auch das Zulassen von Fehlern und Korrekturen, war immer die eigentliche Botschaft für mich.
Aufbau | Die Ambiguität, die Arendt zelebrierte, ist gerade angesichts Israels Politik und des Nahostkonflikts zentral. Wie deuten Sie, Herr Cohn-Bendit, Arendts Haltung in Bezug auf Zionismus, Palästina und aktuelle Konfliktlagen?
Daniel Cohn-Bendit | Arendt war nie dogmatisch-zionistisch oder pauschal anti-zionistisch. Sie half während der Shoah in Paris jüdischen Flüchtlingen nach Palästina, brachte praktische Solidarität auf, war aber stets kritisch gegenüber der politischen Entwicklung des Staates Israel. Im berühmten Text von 1947 problematisierte sie die Flüchtlingsfrage und zeigte auf, wie die jüdische und arabische Existenz komplex verwoben sind. Auch heute würde sie kein einfaches Urteil fällen. Nach dem 7. Oktober etwa würde sie vermutlich auf das Gefühl des Alleinseins der Juden hinweisen, aber immer differenzieren – zwischen Gesellschaft, Staat und Regierung. Ihre Haltung wäre: Nicht unbedingt Loyalität, sondern Menschenrechte waren ihre Grundsätze und sind der Prüfstein. Ein Jahr später hätte sie wahrscheinlich ihre Stimme gegen die Unmenschlichkeit der israelische Gaza-Offensive erhoben. Der Verlust der Demokratie in Israel wäre für sie – wie für viele von uns – eine existenzielle Katastrophe.
Aufbau | Was wäre Arendts Maxime des Handelns?
Daniel Cohn-Bendit | Sie würde die Verhältnisse immer neu durchdenken, nicht endgültig bewerten. Das ist ein wichtiger Massstab für meine eigene Kritik an israelischer Politik: Ich sehe mich verpflichtet, auch als jüdischer Mensch, alles anzusprechen – die Stärken wie die Rechtsbrüche. Die Idee der Staatsräson ist mir suspekt, weil sie Debatte unterbindet. Arendt würde nie das Kritisieren als mangelnde Solidarität deuten.
Michel Friedman | Der Verlust der Demokratie in Israel wäre für mich die schwerste denkbare Irritation. Jeder Staat muss an Freiheit und Würde gemessen werden, das gilt auch für Israel. Identität darf kein Schild sein, hinter dem alles gerechtfertigt wird.
Aufbau | Jüdische Identität, Antisemitismus und kollektive Zuschreibungen sorgen für Brüche und Belastungen. Wie zeigt Arendt einen Weg im Umgang mit diesen Konflikten?
Daniel Cohn-Bendit | Arendt steht für den Mut, Kollektivschuld zu zerlegen, analytisch auseinanderzunehmen und Bringschuld nicht zu akzeptieren. Das Jüdische bei ihr ist nie zwingend, sondern immer diskursiv. Antisemitismus ist eine Zumutung, die man benennen muss, aber die Kritik an Israel darf nie als Tabu gelten. Die heutige Debatte um jüdische Identität und Israel verfehlt oft gerade den arendtschen Prinzipienkern: Sezieren, analysieren, differenzieren statt moralisieren. Ich will aussprechen, was ist, auch wenn es weh tut, weil das die eigentliche Integrität von Gemeinschaft und Gesellschaft schützt. Arendt hat nie nach Harmonie gestrebt, sondern immer auf Konflikt als Generator von Wahrheit gesetzt.
Michel Friedman | Für Arendt zählt das «Recht, Rechte zu haben». Das ist ein universales Versprechen, keine nationale oder religiöse Besitzstandsgarantie. Die Bringschuld, sich vom Staat Israel zu distanzieren, bevor man politischen Raum betritt, ist eine neuzeitliche Pathologie. Es braucht Klarheit, Mut, analytische Genauigkeit – und die Bereitschaft, sich nicht auf Kollektive festlegen zu lassen.
Aufbau | Viele, auch Sie beide, erleben Arendt als zutiefst widersprüchliche Figur. Wie gehen Sie mit diesen Brüchen, auch in konkreten politischen Fragen wie Totalitarismus, Kommunismus oder Israel, um?
Daniel Cohn-Bendit | Genau darin liegt ihre Aktualität. Sie hat sich nicht geschämt, Widersprüche zu leben, zu bekennen. Ihre Vergleiche von sowjetischem und nationalsozialistischem Totalitarismus haben ihr selbst vor allem im linken Milieu heftige Opposition eingebracht. Aber sie hat nicht zurückgerudert, sondern argumentiert, warum für sie Freiheit und Demokratie gegen jede Form von Totalitarismus verteidigt werden muss. Das unterscheidet Arendt auch von manchen, die aus Taktik Positionen wechseln. Sie bleibt bei der Analyse, auch wenn sie damit gegen den Mainstream schwimmt, auch gegen die eigenen Freunde.
Michel Friedman | Widerspruch ist keine Schwäche, sondern Stärke. Gerade in der heutigen Zeit, in der vieles glattgebügelt wird, braucht es diese Bereitschaft zum intellectual dissent. Arendt schreibt nicht für die Ewigkeit, sondern für die Gegenwart. Sie erkennt, dass Veränderung zum Leben und zum Denken gehört. Sie hat verstanden, dass Analyse, nicht Taktik, den politischen Diskurs voranbringt. Das ist eine ihrer wichtigsten Lehren, die weit über Israel oder den Totalitarismus hinausgeht.
Aufbau | Was heisst das, wenn wir mit Arendt auf die Demokratiekrise weltweit zu blicken versuchen, also auf autoritäre Versuchungen, Illiberalismus und völkischen Populismus? Wie hätte sie auf die heutige Lage reagiert?
Daniel Cohn-Bendit | Arendt war geübt darin, Demokratie als tägliche Verpflichtung, nie als Geschenk zu begreifen. Die globale Erosion parlamentarischer Handlungsfähigkeiten, der Aufstieg autoritärer Bewegungen – von Ungarn bis Israel, von Deutschland, Frankreich, Italien bis zu den USA – wären für sie Kernprobleme. Die Erosion der Demokratie und das Wiedererstarken imperialistischer Staaten wie Russland und China würde sie hervorheben. Sie würde kritisieren, dass Ideologien und Religionen missbraucht werden, um Grundrechte auszuhebeln, und hätte davor gewarnt, Demokratie als formale Mehrheitsmechanik zu sehr zu diffamieren. Staatsräson oder Parteiräson, das sind für Arendt keine Werte, sondern Ideologeme, die die wahre Debatte verhindern. Die Linke hat in Europa zu lange die autoritären Implikationen in Befreiungsbewegungen wie Kuba, Algerien, Vietnam und jetzt Palästina übersehen, während sie im Westen die Kraft des demokratischen Denkens übersahen. Die Normalisierung jüdischer Politik – mit einer rechtsextremen Regierung in Israel – zeigt, dass alle Gesellschaften den gleichen Gefahren ausgesetzt sind. Ein autoritäres Israel ist mehr als eine identitäre Irritation – für Juden weltweit und für die universelle Bedeutung von Demokratie.
Michel Friedman | Demokratie ist Massstab, nicht Narrativ. Arendt würde sagen: Widerspruch ist das Lebenselixier, nicht Harmonie. Debatte, Differenz und produktiver Streit sind die Felder, in denen Demokratie lebendig bleibt.
Aufbau | Welche Konsequenz – philosophisch und politisch – leiten Sie aus Arendts Leben und Werk ab? Was bleibt für das gesellschaftliche Projekt, die politische Praxis?
Daniel Cohn-Bendit | Es bleibt: Widerspruch auszuhalten, Unsicherheiten zuzulassen, Denkprozesse offen und plural zu halten. Arendt fordert uns auf, Sachverhalte zu sezieren, Konflikte zu tolerieren und Wahrheiten niemals zu institutionalisieren. Die grösste Lehre ist, dass Protest, Emanzipation, Minderheiteninteresse nicht aus Gruppensolidarität entstehen, sondern durch den Mut, die eigene Position im Streit zu behaupten. Die Debatte um Minderheiten, Migration, Pluralität ist ein fortwährender Prozess. Die Gesellschaft ist nie statisch – Wandel ist die einzige Konstante. Arendts offenes Denken ist für mich ein Auftrag, nie anzukommen, sondern immer unterwegs zu bleiben.
Michel Friedman: Arendt bleibt radikale Werkzeugmacherin für Demokratie, kritische Gesellschaftsanalyse und den Schutz der Freiheit. Ihr Mut zur Wahrheit und Differenz bleibt Massstab und Inspiration.