Der jüdische Rancher Nik Jakobs hat eine Vision: jüdische Institutionen bewahren und fortführen. Und das im ländlichen Illinois.
Als Rancher mit einem Wirtschaftsstudium und vier Töchtern ist Nik Jakobs kein typischer Synagogenpräsident. Aber er leitet im ländlichen Sterling, Illinois, auch keine typische Synagoge. Die ist obendrein noch im Bau auf einem seiner Maisfelder und soll Überreste des fast 1000 Kilometer östlich in White Oak, Pennsylvania, gelegenen Tempels B’nai Israel aufnehmen. Dessen Gemeinde südöstlich von Pittsburgh ist verschwindend klein geworden und konnte ihren Tempel nicht mehr unterhalten. So macht sich Jakobs an einem warmen Maimorgen von seiner Ranch in den Westen Pennsylvanias auf, um zumindest die Kultgegenstände zu retten.
Grosser Schrein
Nun steht Jakobs in abgewetzten Stiefeln und einem staubigen schwarzen T-Shirt in der Synagoge und starrt auf den fünf Meter hohen Thoraschrein. Der 40-Jährige stellt fest: «Das war ihr Leben», lüftet seine Baseballkappe mit dem Logo der Jakobs Bros. Farm und wischt sich den Schweiss von der Stirn. «Sie haben hier ihre Bar Mizwa gefeiert, ihre Kinder und Enkelkinder haben hier ihre Bar Mizwa gefeiert. Sie haben hier mit ihren Lieben das Brot gebrochen, gemeinsam gefeiert und schwere Zeiten durchlebt. Dies ist der Ort, an dem all das geschah.»Jakobs legt seine Hand auf den Rand des Schreins als wollte er die Temperatur der Konstruktion messen. «Mir ist ganz flau im Magen. Ich weiss, ich tue etwas Gutes. Aber man ist trotzdem traurig, dass die Lade von hier weggeht. Es ist bittersüss.»
Jakobs nimmt Augenmass: «Oh, das ist ein grosser Schrein», steigt eine Leiter hinauf und begutachtet die einst von lokalen Handwerkern geschaffene, von der Zeit polierte Konstruktion. Einen Nagel nach dem anderen löst er den Aron ha-Kodesch aus der Verankerung, hält jeden Nagel einen Moment lang fest und lässt ihn auf den Teppich darunter fallen – ohne Klirren, sondern mit einem sanfter Aufprall, fast wie ein Ritual: «Wenn ich einen kleinen Teil dazu beitragen kann, die in diesem Gebäude geborgenen Erinnerungen und Gefühle nach Sterling zu bringen, ist das eine Ehre für mich.» Denn Jakobs baut in seiner Heimatstadt eine Synagoge und ein Museum – ein Heiligtum für seine Gemeinde am Ort und einen Zufluchtsort für jüdische Erinnerungen. Ein Ort, der nach Kuhweide und Hoffnung duftet. Er wirkt freudig und doch ernst, als er durch Temple B’nai Israel geht und den verbliebenen Gemeindemitgliedern lauscht. Die erzählen ihre Geschichten, als ob sie Erbstücke in gute Hände gäben. Hinter ihm agieren fünf Packer von «All Ways Moving» mit der Stille von Sargträgern bei Beerdigungen. Sie tragen die Vergangenheit in Stücken hinaus: die Bima, den Rabbinersessel, silberne Judaica. Buntglasfenster in Kisten. Jedes Objekt wird in den Lastwagen geladen, als würde es begraben.
Der beste Hamburger
Jakobs war an diesem Morgen mit einer Kühlbox voller gefrorenem Rindfleisch eingeflogen – seiner Art von Opfergabe. Er verteilt in Metzgerpapier gewickelte Fleischstücke und damit den Stolz des Mittleren Westens. Das ist mehr als nur ein Gastgeschenk und gleicht eher dem Schluss eines Bundes: «Das ist der beste Hamburger, den Sie je gegessen haben.» Jakobs lächelt und meint es doch ernst: «Das garantiere ich Ihnen.» Jemand bestellte Pizza bei «Luciano’s», dem Italiener am Ort. Debbie Iszauk, die Büroleiterin von Temple B’nai Israel, hat kalte Getränke mitgebracht. Sie hat sich bereits in den Ruhestand verabschiedet und beobachtet das Geschehen still und mit gemischten Gefühlen. Vielleicht sieht so ein endgültiger Abschluss aus: ein halb gegessenes Stück Pizza, das kalt wird, eine Hawdala-Gewürzdose neben einer Rolle Klebeband, Fremde, aus denen Fürsorger werden.
Die übrigen Mitglieder sehen zu und gaben Ratschläge. Dick Leffel, ein ehemaliger Gemeindepräsident, hilft Jakobs beim Ablösen der zwei Löwen von Juda von dem Schrein. Die hölzernen Tatzen wollen nur widerwillig von der Stelle weichen. Die Runde wirkt stolz, sie zeigen noch einmal Präsenz, als ihre Geschichte behutsam für eine lange Fahrt Richtung Westen verladen wird.
Ein neues Kapitel
Eine Synagoge in einer Kleinstadt in den Hügeln West-Pennsylvanias, die nach 113 Jahren ihre Türen schliesst: Das ist ein letztes Kapitel, wie es sich oft in Orten wie McKeesport oder auch White Oak abspielt, aber ansonsten kaum Wellen schlägt. In diesen Städten haben die Stahlwerke längst geschlossen, Läden stehen leer, und oft grenzt es an Wunder, dass Synagogen den Niedergang ihres Standorts so lange überstanden haben. Doch irgendwann schlägt auch für diese Gemeindeinstitutionen die letzte Stunde. Aber dann kam in White Oak doch alles anders. Als die Mitglieder von Temple B’nai Israel zum ersten Mal hörten, dass Jakobs Teile ihrer Synagoge mitnehmen wollte, wussten sie nicht, was sie von ihm halten sollten. Ein jüdischer Viehzüchter aus Illinois? Ein Mann mit ein paar tausend Rindern, der um ihren Thoraschrein bat? Das klang nach einem Schwindel oder einem Film der Coen-Brüder.
Zudem mutet die Erklärung für das unerwartete Erscheinen von Jakobs am Ort genauso merkwürdig an wie die niederländische Schreibweise seines Vor- und Nachnamens. Stand hinter diesem Nik Jakobs eine messianische Gemeinde, die mit den «Jews for Jesus» zu tun hatte? Dabei war das Jewish Community Legacy Project (https://jclproject.org/who-we-are/leadership/) auf die Notlage von Temple B’nai Israel aufmerksam geworden. Die gemeinnützige Organisation mit Sitz in Atlanta brachte die Synagoge und Jakobs zusammen und schickte ein Foto nach White Oak: die Momentaufnahme eines provisorischen Zufluchtsortes auf der Jakobs-Familienfarm. Ein Zelt auf einer Weide, mit im Wind flatternden Wänden, in Reihen aufgestellten Klappstühlen aus Plastik. Die Gemeindemitglieder in White Oak studierten die Aufnahme wie ein talmudisches Traktat. Sie rückten immer näher heran, kniffen die Augen zusammen. Und dann sah es jemand – in der oberen rechten Ecke, halb im Schatten unter einem Klapptisch: ein Gebetbuch, das vertraut schien. Ein Seufzer der Erleichterung.
Doch nun steht Jakobs im Tempel B’nai Israel direkt hinter der Eingangstür und wundert sich, ob seine Töchter jemals etwas von der Heiligkeit dieser Stätte würden verspüren können, deren Gegenstände er gerade verpacken liess? «Ich werde viel von diesem Zeug mitnehmen», gibt er fast flüsternd kund: «Und versuchen, dieser Gemeinde Ehre zu erweisen.» Sein Blick wandert durch den Raum – neugierige Gesichter, skeptische, alle Jahrzehnte älter als er: «Welchen Rat sollten Sie mir unbedingt mit auf den Weg geben?» Gary Gaal, ein langjähriges Gemeindemitglied, antwortet sofort: «Servieren Sie nach dem Gottesdienst am Freitagabend ein Potluck-Dinner. Der gesellige Teil ist so wichtig. Jedes Mitglied soll etwas zum Essen mitbringen, wie bei uns. Bauen Sie eine Gemeinschaft auf – und Sie werden Erfolg haben.» Jakobs nickte. Ein Potluck. Heilig musste nicht unbedingt feierlich bedeuten. Es konnte nach Kugel riechen und nach Lachen klingen. Und so wurde nicht nur die Thora weitergegeben.
Vom Bauernhof zur Synagoge
Jakobs wuchs mit Viehfutter, der Heiligen Schrift und den Hoffnungen auf, die man als Enkel von Holocaustüberlebenden trägt, die etwas aus dem Nichts aufgebaut haben – und von einem dasselbe erwarten. In Sterling ist die Ranch der Familie Jakobs weniger ein Geschäft, als vielmehr eine Glaubensinstitution, gebaut auf Schweiss, Bodenständigkeit und der hartnäckigen Idee, dass man nicht nur Rinder züchtet, sondern auch ein Erbe bewahrt. Die Illinois Beef Association kürte Jakobs Bros. Farms einst zum besten Rinderzüchter des Staates. Anerkennung war schön. Doch Jakobs musste Zäune reparieren, Kälber füttern und hatte Wichtigeres im Sinn. Während die Ranch jedes Jahr grösser wurde, verfiel ein paar Ecken weiter die Synagoge am Ort. 1910 gegründet, war Temple Sholom einst das pulsierende Herz des jüdischen Lebens in Sterling, einer Stadt mit 14.500 Einwohnern weit im Westen von Chicago. Die jüdische Gemeinde zählte einst über 100 Mitglieder, darunter ein Apotheker, der Geschäftsführer des Kaufhauses Kline’s und der Besitzer einer lokalen McDonald’s-Filiale.
Die Gemeinde ist auf eine eingeschworene Gruppe von 40 Mitgliedern geschrumpft, die meisten gehören der weiteren Familie von Jakobs an, der dort seine Bar Mizwa gefeiert hat. Später wurde er zum Gabbai und ruft seither andere Mitglieder zum Lesen der Thora auf. Doch zum hundertsten Jubiläum 2010 hing das Dach durch, die Bänke waren leer und das Gebäude verfiel. In diesem Frühjahr wurde Temple Sholom für eine niedrige Summe an eine Kirche verkauft, die bereits mit den Reparaturen beschäftigt ist: «Wir gaben das Anwesen weiter», erklärt Jakobs: «Sie betrachten es als ein Geschenk Gottes.»
Klappstühle unter Zeltplanen
Seine Gemeinde zog derweil in ein Zelt auf der Ranch der Jakobs um. Dort, inmitten von Mistgeruch und Muhen, nahm eine neue Form des Judentums Gestalt an. Nicht orthodox, nicht konservativ, nicht reformiert. Jakobs scherzt: «Reconservadox». Wichtiger als die Ausrichtung war ihm eine grundsätzliche Frage, die er als Synagogenpräsident entschlossen und hoffnungsvoll angehen wollte: Wie baut man eine dauerhafte Gemeinde auf? Hier kam ihm zustatten, dass er nicht immer der Typ in Stiefeln und Carhartt-Jacke gewesen ist, der Klappstühle unter Zeltplanen aufstellt. Vor der Ranch, vor dem Zelt, lebte er in Chicago – in einer Welt aus Eckbüros und Telefonkonferenzen.
Ein Finanzstudium an der University of Illinois hatte Jakobs zu Fusionen und Übernahmen, aber auch zur Sanierung von Unternehmen geführt – Tabellenkalkulationen, Strategiepapiere, kaputte Systeme, die nach Reparatur schreien: «Ich habe keine Angst vor Problemen, von denen ich nicht weiss, wie ich sie lösen soll», so Jakobs. «Das habe ich als Unternehmensberater gelernt.» Aber bei diesem Projekt ging es nicht um Margen oder Markt-timing. Es war grösser. Unübersichtlicher. Heiliger.
Alle vier seiner Grosseltern haben die Nazis überlebt. Von ihnen lebt nur noch Edith – 94 und so fit wie eh und je. Sie hatte sich fast drei Jahre lang mit einem Dutzend anderer in einem Raum in Holland versteckt, der kaum so gross wie ein Schuppen war. Keine Fenster. Kein Licht. Kein Ausgehen. Ihre Geschichte klingt wie die von Anne Frank, weil sie es fast war. Ein Geschäftspartner ihres Vaters bot den Verfolgten einen einzigen Innenraum mit einem Tisch und zwei Stühlen in der Mitte. Abseits, hinter einem Sichtschutz, befand sich ein Eimer als Badezimmer. Heuhaufen, auf denen die Kinder schlafen konnten. Edith vertrieb sich die Zeit mit Sticken. Eine ihrer Kreationen – eine zarte weisse Tischdecke – ist erhalten geblieben. Heute werden damit die Thorarollen während des Gottesdienstes im Zelt auf der Jakobs-Ranch abgedeckt.
Als der Krieg endete und Edith mit 13 Jahren endlich wieder ins Sonnenlicht trat, konnte sie kaum noch laufen. Ihre Beine brauchten Physiotherapie. Ihre Stimme erlangte nie wieder ihre volle Kraft – gedämpft durch jahrelanges Flüstern. Als Jakobs den Lastwagen belädt, die Kisten öffnet und die Hand auf den Rand des Schreins legt, stellt er sich Edith vor und wie sie ihr Leben im Versteck beschrieben hat – wie still es sein musste, wie dunkel. Und an Tagen wie diesem, mit Thorarollen und Gegenständen jüdischen Lebens in Luftpolsterfolie unterwegs, ist es unmöglich, nicht an sie zu denken. Was Jakobs tut, ist nicht nur für seine Kinder. Es ist auch für Edith. Er konnte ihre Geschichte nicht umschreiben. Aber er konnte etwas zu ihren Ehren errichten – etwas, das in der Erinnerung verwurzelt, aber für die Ewigkeit gebaut ist.
Eine Synagoge nimmt Gestalt an
Die Familienranch ist abgelegen. Sie wurde nicht für Fussgänger oder Laufkunden ausgelegt. Also suchte Jakobs anderswo nach einem festen Standort für eine neue Synagoge. Im Norden der Stadt steht eine lutherische Kirche. Ein Mitglied der Gemeinde, selbst Landwirt, bot ihm etwa zwei Hektar Land zum Verkauf an, auf dem früher Mais angebaut worden war. Direkt neben dem christlichen Gotteshaus. Auf der einen Seite der Kirchturm. Bald soll eine Synagoge daneben erstehen. Der Name der Kirche – Neues Leben – mutet wie ein Zeichen an. Diesen Herbst will Jakobs den Spatenstich für ein 280 Quadratmeter grosses Gebäude mit einer Synagoge und einem Museum unternehmen, einem Museum über seine Familie, über den Holocaust, über die geschlossenen Synagogen der amerikanischen Kleinstädte. Das Museum soll die Fragmente bergen, die er zu retten vermochte. Und das sind viele.
Temple B’nai Israel war nicht der einzige Ort, der seine Geschichte hergeben musste. Gegründet 1891, hat Beth Israel in Washington, Pennsylvania, ihr Gebäude im letzten Jahr veräussert. Die Gemeinde hörte von Jakobs merkwürdiger Suche und schickte, was sie konnte. Unter den Gegenständen: ein Dutzend Zementtafeln, schwer und kunstvoll, jede trug den Namen eines Stammes Israels. Ein Maurer wurde beauftragt, sie Stück für Stück von der Wand zu stemmen.
So sieht Jakobs die Zukunft seines Neubaus: Schulbusse fahren vor, Achtklässler steigen aus – noch ohne zu wissen, welche Geschichte sie im Inneren erwartet: Leihstücke aus dem Illinois Holocaust Museum in Skokie. Seine Cousine Hannah, die gerade ihr Kunstgeschichtstudium an einer Universität in Paris abgeschlossen hat, hilft bei der Gestaltung des Raumes. Er stellt sich seine älteste Tochter Taylor vor, wie sie 2027 zu ihrer Bat Mizwa an der Bima steht und aus einer Thora liest, die ihr Vater aus den Hügeln West-Pennsylvanias gerettet hat.
Das letzte Amen
Temple B’nai Israel wurde 1912 in McKeesport, Pennsylvania, gegründet – zwei Jahre nach der Eröffnung von Temple Sholom in Sterling – und von ungarischen Juden erbaut, die dem Ruf der amerikanischen Stahlindustrie gefolgt waren. Damals loderten die Hüttenwerke heiss, Züge dampften durch die Hügel und Geld floss wie eine Flut. Der Tempel erhob sich Stein für Stein, ein Bollwerk gegen Exil und Auslöschung. Er überdauerte. McKeesport dagegen nicht. Ein Gang durch die Strassen fühlt sich an wie eine Reise in die Vergangenheit. Der Ort ist eine Geisterstadt mit vernagelten Fenstern und verrosteten Güterwagen. Hier war einst das Hauptquartier von G.C.Murphy, dem Billigladenimperium. Heute ist McKeesport eine Ruine mit einer Postleitzahl.
Um dem Niedergang zu entrinnen, zog die Gemeinde im Jahr 2000 von McKeesport ins benachbarte White Oak. Eine Zeit lang ging die Hoffnung auf ein Weitermachen auf. Gottesdienste wurden fortgesetzt. Feiertage wurden begangen. Die Kaffeemaschine wurde wieder in Schuss gebracht, Challa wurde geschnitten, Rituale abgehalten. Doch in diesem Frühjahr brachen die Stützen ein. Die Gemeinde konnte ihren Betrieb nicht mehr aufrechterhalten. Und so versammelten sich die Mitglieder an einem Samstag im April in ihrem Heiligtum – nicht, um es zu retten, sondern um sich zu verabschieden.
Ehemalige Mitglieder flogen aus Arizona, Georgia und Costa Rica ein. Insgesamt etwa 150. So viele, dass ihnen die Gebetbücher ausgingen. Die meisten waren älter. Menschen, die einst durch diese Flure gerannt waren, in der Sonntagsschule gescholten und unter der Chuppa geküsst worden waren. Rabbiner Danny Schiff stand ein letztes Mal an der Bima. Er war eigens dafür aus Israel eingeflogen. Aus einem neuen Leben. Aus der Zukunft: «Ich bin unendlich demütig», sagte er und liess seinen Blick über die Bänke schweifen: «Denken Sie daran, wer einst neben Ihnen sass. Denken Sie an all die aussergewöhnlichen Menschen, die sich alle so eifrig und hingebungsvoll für diese Gemeinde eingesetzt haben.» Schiff war 1993 zum Temple B’nai Israel gekommen und denkt zurück. Damals war die Lage bereits unsicher, ja orientierungslos. Synagogenpräsident Bernie Goodman wollte Schiff nichts vormachen: «Sie werden uns alle begraben. Dann machen Sie das Licht aus.» Der Rabbiner hielt inne und liess die Last der Erinnerung sacken. «Bernie hatte in vielem recht. Aber darin lag er falsch.»
Denn eine Zeit lang wuchs die Gemeinde. Zu den Gottesdiensten an den hohen Feiertagen kamen 400 Besucher. Die Bänke waren überfüllt. Kinder raschelten in den hinteren Reihen. Die Gebete mussten in den Gemeindesaal übertragen werden. Aus dem Überleben war eine Wiedergeburt geworden. Dann liess der Schwung nach und die Leute sagten Schiff: «Wenn du weg bist, ist es vorbei.» Er ging 2009. Die düsteren Vorhersagen kehrten zurück. Doch an diesem Morgen im April stand er wieder auf der Kanzel vor seiner Gemeinde und schaute in die Augen von Menschen, die der Zeit und allen Widrigkeiten getrotzt hatten. Schiff sprach Worte, die vielleicht die wichtigsten dieses Tages waren: «Das Erstaunliche ist nicht, dass wir diesen Tag erreicht haben. Das Erstaunliche ist, wie gut wir es geschafft haben, diese Gemeinde so lange lebendig, dynamisch und vital zu halten.» Er fügte hinzu: «Das war das Wunder. Nicht Dauerhaftigkeit – sondern Beharrlichkeit.»
Wenn die Bundeslade weiterzieht
Die Haftara für diesen letzten Gottesdienst kam aus dem Buch Samuel, Kapitel 7. Eine Geschichte über ein Heiligtum. Eine Geschichte über den Abschied. Die Art von Zufall, die sich eher wie Absicht anfühlt. Schiff liess sich in den Moment fallen. Er erzählte ihnen von der Bundeslade – wie sie die Israeliten durch die Wüste begleitete. Wie sie nicht in einem Palast oder einer heiligen Stadt zur Ruhe kam, sondern im Haus eines Mannes namens Aminadav. Kein Prophet. Kein König. Nur ein Mann mit viel Platz – und Ehrfurcht: «Zwei Jahrzehnte lang», sagte Schiff, «war sein Haus der Mittelpunkt der jüdischen Welt.» Und dann – einfach so – war es das nicht mehr: «Eines Tages kamen sie, um den Thoraschrein abzuholen. Um ihn nach Jerusalem zu bringen.»
Dann stellte er die Frage, an die niemand sonst gedacht hatte: «Aber wie fühlte sich Aminadav? Wie fühlte sich seine Familie?» Schiff setzt nach: «Stell dir vor: Du bist nicht mehr der Ort. Nicht mehr der Name, den die Leute nennen, wenn sie fragen: ‹Wohin gehen wir zum Beten?›» Der Raum war still. Niemand rührte sich. «Und doch», sagte Schiff: «sicherlich waren sie stolz. Weil die Bundeslade bei ihnen gewesen war. Weil sie den Schrein aufbewahrt hatten. Weil sie wichtig gewesen waren.» Er hielt inne und holte Luft: «Unsere stolze Geschichte wird weitergehen. Dieser Ort hat uns verändert. Vermittelt es euren Kindern. Vermittelt es euren Enkeln. Wisst, dass eine Synagoge dieses Kalibers Leben verändert. Und selbst wenn sich die Türen schliessen, wird die Wirkung nie nachlassen.» Dann war es soweit.
Steve Klein, ein langjähriges Gemeindemitglied, stand langsam auf und nahm die Thora in die Arme. Er ging die letzte Prozession durch den Altarraum. Gläubige streckten die Hände aus – ihre Fingerspitzen berührten den Samtbezug, ihre Lippen drückten sanft gegen die Fransen. Und als die letzte Hand losliess, wurde die Thora zurück in die Bundeslade gelegt – nicht um zu bleiben, sondern um zu warten. Bald würde sie weitergegeben werden.
Sie kamen, sie beteten, sie assen
Nach dem letzten Gottesdienst versammelten sie sich im Gemeindesaal: Bagels. Räucherlachs. Dicker Frischkäseaufstrich. Schüsseln mit Thunfisch- und Eiersalat, seit Jahrzehnten auf die gleiche Weise zubereitet, vielleicht von denselben Händen. Lisa Feldman Brill, 78, war aus Atlanta zu der Gemeinde geflogen, wo sie als Girl Scout ihre «Brownie»-Schärpe getragen hatte. Wo sie Jugendveranstaltungen organisiert hatte. Wo sie Bat Mizwa geworden war. Zum Mittagessen eilte sie von Tisch zu Tisch – ihr war nach Feiern zumute, nicht nach Trübsal. Sie trug zwei Anhänger um den Hals: einen goldenen Davidstern und eine Schleife für die Geiseln der Hamas. Sie berührte beide, wie manche Menschen ihre Mesusot berühren: gedankenlos, aber mit Gefühl: «Es ist bittersüss. Aber ich bin froh, dass die Gemeinde so lange durchgehalten hat. Es gibt eine Seele, einen Ruach, der uns verbindet.» Und dann kam die letzte Aufgabe.
Am nächsten Tag erschienen Gemeindemitglieder mit Tritthockern, Plastiktüten und Schraubenziehern. Sie montierten Jahrzeit-Plaketten ab, Name für Name. Sie verpackten sie und nahmen sie mit nach Hause. Das Gebäude – einst ein Ort der Freude und Trauer, der Namensgebungen und Trauergebete – sollte sich verändern. Es wurde an ein Catering-Unternehmen verkauft, das es als Bankettsaal nutzen will. Bald würde der Raum von Gläsern klingen, nicht von Kiddusch. Statt des letzten Segens würden hier erste Tänze stattfinden. Hochzeiten, Musik, Gelächter. Schliesslich war hier ein Ort heiliger Feiern. Nun sollten die Räume wieder Zeugen werden, aber für ganz andere Feste.
Der Weg nach vorn
Die späte Nachmittagssonne sank der Nacht entgegen und Nik Jakobs stand, wo Geschichte und Horizont sich trafen. Stiefel im Kies. Staub auf seiner Jeans. Er sah zu, wie die letzten Stücke eines jahrhundertealten Heiligtums verpackt und abtransportiert wurden. Hinter ihm bauten die Möbelpacker wie Profis das Set ab: die Lade, die Bima, Buntglasfenster, die wie heilige Reliquien in Kisten verpackt und als Fracht getarnt waren. Einige Dinge blieben übrig. Die nicht abgeholten Jahrzeit-Plaketten würden bald auf dem Friedhof begraben werden, wo die Gründer der Synagoge bereits warteten.
Ein paar Gemeindemitglieder verweilten auf dem Parkplatz, sprachen stille Segnungen und schüttelten einander fest die Hände. Für eine sterbende Synagoge im Rust Belt war das nicht nur das Beste, was sie sich erhoffen konnten. Es war mehr, als sie sich je hätten vorstellen können. Jakobs nickte, bedankte sich und checkte sein Handy. Auf dem Bildschirm: seine vier Töchter. Ihre Gesichter glühten unter seinem Daumen. Drinnen war das Sanktuarium leer. Nur noch ein Raum.
Er drehte sich um für einen letzten Blick. Namen. Geschichten. Eine heilige Vergangenheit. Jakobs dachte an die Worte eines Gemeindemitglieds, Jonathan Beck – damals, als die Luft noch nach verblichenen Gebetbüchern roch und die Vergangenheit noch nicht weggepackt war: «Wir sind ein Rädchen in der jüdischen Diaspora», hatte Beck gesagt. «Das Judentum hat weder Anfang noch Ende. Es ist wie ein Rad. Es dreht sich.» Jakobs trat in die Abenddämmerung. In seinen Gedanken: ein Maisfeld in Sterling. Eine Bodenplatte aus Beton. Der Geruch von Vieh. Das Murmeln von Gebeten, das wieder aufstieg. Wenn er die Synagoge baute, würde eine neue Gemeinde entstehen.
Benyamin Cohen ist Senior Editor beim «Forward», Autor der Bücher «My Jesus Year» und «The Einstein Effect» und hat für die «New York Times» und die «Washington Post» geschrieben. Er lebt mit seiner Frau, drei Hunden, einer Katze und einer Hühnerschar in West Virginia, wo sie als die «Co-Hens» bekannt sind. Dieser Beitrag ist im «Forward» erschienen.