Ein Augenschein im Osten des Neuengland-Staats Connecticut zum christlich-jüdischen Verhältnis.
Thanksgiving, gefolgt von Chanukka und Weihnachten, war in Amerika schon lange Anlass für interreligiöse Aktivitäten. Insbesondere das auf die Ursprünge der britischen Kolonien in Neuengland zurückgehende Erntedankfest steht im Mittelpunkt interreligiöser Gottesdienste. Angesichts des starken Anstiegs antisemitischer Vorfälle seit dem Hamas-Anschlag vom 7. Oktober 2023 und Israels Gegenangriff wuchs in mir jedoch eine Sorge um das Fortbestehen und die Atmosphäre an diesen christlich-jüdischen Veranstaltungen bei uns im Osten von Connecticut.
Motivierter Hass
Gleichzeitig haben die Herausforderungen in Folge des 7. Oktober Spuren hinterlassen. Antisemitismus ist ein tief verwurzeltes Vorurteil und wird in religiös, rassistisch, ethnisch und nun auch politisch motiviertem Hass deutlich und wirksam. Obwohl die päpstliche Erklärung Nostra Aetate vor 60 Jahren seither zu einer Eindämmung religiös motivierten Hasses im Westen und insbesondere in katholischen Gemeinden weltweit geführt hat, zwingt uns der Aufstieg des islamischen Fundamentalismus zur Einsicht, dass religiös motivierter Antisemitismus nach wie vor ein ernstes Problem darstellt.
Und während der rassistisch motivierte Antisemitismus der NS-Zeit im Wesentlichen überwunden ist, hat der ethnisch und politisch motivierte Judenhass eine neue Dynamik entwickelt, die sich auf Israel konzentriert. Wer also aktuelle antisemitische Vergehen analysieren will, sollte den modernen Staat Israel als neues Motiv für Antisemiten berücksichtigen. Dennoch wirkt der Geist interreligiöser Programme vor Thanksgiving nach der durch Covid bedingten Pause in grossen und kleinen Gemeinden ungebrochen. Ich habe das persönlich bei drei Veranstaltungen in unserer Region erlebt. Dabei wurden die Herausforderungen und Kontroversen um Israel nicht einmal erwähnt. Und die Höflichkeit jüdischen Teilnehmern gegenüber war insbesondere seitens der christlichen Geistlichen bewunderns- und bemerkenswert. Tatsächlich war dies vielleicht etwas übertrieben. Alle drei Veranstaltungen fanden in Synagogen statt, und kein einziger christlicher Geistlicher hat dabei Jesus in seinen Gebeten erwähnt.
Dankgebete
Der grösste interreligiöse Dankgottesdienst unter dem Motto «Eine Feier der Dankbarkeit, der Gemeinschaft und des Glaubens» fand am Sonntag, dem 23. November, in der Gemeinde Beth Shalom Rodfe Zedek in Chester, Connecticut, statt. Beteiligt waren unter anderem die All Saints’ Episcopal Church in Ivoryton, die Deep River Baptist Church und die Deep River Congregational Church, die First Baptist Church in Essex sowie die First Congregational Churches in Essex, Haddam, Old Saybrook und Westbrook, die Grace Episcopal Church und die St. Paul Lutheran Church in Old Saybrook, die St. John’s Episcopal Church in Essex, die Trinity Lutheran Church in Centerbrook, die United Church in Chester und die Winthrop Baptist Church in Deep River. Über 200 Menschen nahmen an dem Gottesdienst teil. Sie wurden von Rabbinerin Marci Bellows begrüsst, und das abschliessende Dankgebet, verfasst von Rabbinerin Naomi Levy, wurde von Pfarrer W. Alan Froggatt vorgetragen. Das Schlusslied «Ose Schalom» wurde von Elana Jagoda angeführt. Neben modernen Texten und Gedichten lasen christliche Geistliche aus traditionellen Quellen, Jesaja und Maimonides. Abgesehen von Aufrufen zu Dankbarkeit, Brüderlichkeit und Frieden wurden die Krise im Nahen Osten oder die tiefe politische Spaltung in Amerika nicht direkt angesprochen.
Gemeinsamkeiten der Weltreligionen
Am Montag, dem 24. November, hat die Beth Jacob Synagoge in Norwich ein weiteres ökumenisches Thanksgiving-Programm ausgerichtet. Es gab einen traditionellen Lunch mit Truthahn, gefolgt von Ansprachen dreier Geistlicher: Rabbiner Ken Alter vertrat Ahavath Achim in Colchester, ursprünglich eine Gemeinde von jüdischen Bauern, die sich Ende des 19. Jahrhunderts dank der Spenden von Baron de Hirsch zur Umsiedlung der vor Pogromen in Russland geflohenen Juden auf Höfen im Osten Connecticuts niederliessen. Dadurch konnten dort später auch Juden eine neue Heimat finden, die den Holocaust überlebt hatten und nach Amerika kamen. Ihm schlossen sich Pfarrerin Dianne Daniels von der Unitarian Universalist Congregation in Norwich und Pfarrer Clayton Lord von der Central Baptist Church in Westerly, Rhode Island, an. Rabbiner Alter hob die Betonung von Dankbarkeit als Gemeinsamkeit aller Weltreligionen hervor und erklärte, dass im Judentum nach dem Kommen des Messias das einzige Opfer im Tempel das Dankopfer sein wird.
Pfarrerin Daniels sprach über Dankbarkeit als eine bewusste Entscheidung und wies darauf hin, dass Juden ihr Morgengebet mit den Worten «Mode Ani» (ich bin dankbar) beginnen. Dankbarkeit sei in allen Religionen ein Gebot und das Danksagen erinnere uns daran, dass wir nicht allein sind. Pfarrer Lord brachte seine tiefe Liebe und seinen Respekt für das Judentum zum Ausdruck und erklärte, dass das Judentum die Wurzel des Christentums sei. Er zitierte David, der in Psalm 100 zur Freude in unserer Dankbarkeit aufruft, und die Ermahnung des Apostel Paulus, uns im Danken zu freuen.
Güte und Fürsorge
Das Beth-Jacob-Programm war dem Andenken an das Gemeindemitglied Joel Etra gewidmet, der auch am Ort etwa bei den Pfadfindern oder dem Rotary Club vielfach engagiert war. Seine Witwe Roz Etra erinnerte sich daran, wie sehr die bei dem Gottesdienst anwesenden Geistlichen von Joels Güte und Fürsorge für das Wohl anderer berührt waren. Dann sprach ihnen die Witwe Dank für ihre Unterstützung während seiner Krankheit und nach seinem Tod aus.
Die dritte Veranstaltung fand am Dienstag, dem 25. November, in Danielson statt. Sie markierte das 70-jährige Jubiläum eines gemeinsamen Erntedank-Gottesdienstes der Federated Church of Christ und des Tempels Beth Israel. Beth Israel wurde von Holocaustüberlebenden gegründet und erbaut, die sich auf Bauernhöfen in der Region niedergelassen hatten. Ältere Gemeindemitglieder berichteten bewegt, «die gesamte nichtjüdische Gemeinschaft» habe den Bau der Synagoge mit finanzieller und materielle Unterstützung ermöglicht. Hilfe kam von Mitgliedern der Federated Church, aber auch von einem Dutzend anderer Kirchen, der Handelskammer, Geschäften und Familien am Ort.
Wertschätzung
Dieser Gottesdienst war insofern einzigartig, als er eindeutig von der Gemeinde getragen wurde und sowohl die lokalen Behörden als auch die Kirchen einbezog. Anlässlich des 70. Jahrestages wurden Erklärungen der Gemeinden verlesen. Die Gemeinde Killingly erklärte, dass der Tempel Beth Israel «1950 von Holocaustüberlebenden und Einwandererfamilien erbaut wurde, die sich hier ein neues Leben aufbauten und das bürgerliche und kulturelle Gefüge unserer Gemeinde mitgestalteten… [Wir] rufen alle Einwohner auf, am 70. jährlichen interreligiösen Dankgottesdienst teilzunehmen – um das Vermächtnis derer zu ehren, die ein ‹Haus der Hoffnung› errichteten, und um unser gemeinsames Engagement für Mitgefühl, Verständnis und Zusammenhalt in der Gemeinde zu bekräftigen.»
Die Gemeinde Brooklyn erklärte: «Die Federated Church of Christ und der Trägerverein von Temple Beth Israel tragen die Fackel weiter und bemühen sich, das Licht für die Welt heller leuchten zu lassen, damit die Schatten der Intoleranz vertrieben werden und alle in Harmonie und Frieden leben können… [Wir erkennen diese Erklärung] als dauerhaften Beweis der hohen Wertschätzung an, die ihnen entgegengebracht wird.»
Der Gottesdienst begann mit einem interreligiösen Chor, der das jiddische Lied «Ikh und di Velt» (Ich und die Welt) sang. Die Liturgie schloss mit dem Ausspruch Meister Eckharts (1260–1328): «Wenn das einzige Gebet, das du in deinem ganzen Leben sprichst, ‹Danke› ist, genügt das.» Alan Turner, ein Mitglied von Beth Israel, sprach über seinen Umzug in den Nordosten Connecticuts, eine konservative Region, in der es immer wieder zur Diskriminierung von Minderheiten und antisemitischen Vorfällen kommt.
Hakenkreuz auf Ziegel
Und doch hätten ihn die Reaktionen der Gemeinde auf diese Vorfälle beruhigt: «Bevor ich hierherzog, hörte ich viele Beschreibungen der Gegend, die nicht gerade vorteilhaft waren. Ich wurde insbesondere vor Antisemitismus im Nordosten Connecticuts gewarnt. Es dauerte nicht lange, bis ich feststellte, dass das teilweise stimmte – dann aber auch wieder nicht. So wurde an der Putnam-Synagoge ein Hakenkreuz auf weisse Ziegel gesprüht.» Turner sprach zudem über eine Kundgebung des rassistischen Ku Klux Klan an der Putnam High School und die zerbrochenen Fenster der Synagoge in Danielson: «Ich hätte über die Einschusslöcher mitten im Davidstern in den Fenstern sprechen können.»
Aber dabei würden ganz wesentliche Fakten ausgelassen: «Es war die Mutter des Jungen, der die Hakenkreuze gesprüht hatte, die ihn anzeigte. Es war die Gemeinde, die sich gegen die KKK-Demonstration aussprach und nach mir sah, während ich in der Synagoge Wache hielt. Es wird nicht über die Gründung des ‹Interreligiösen Rates› aus dem damaligen ‹Interkirchlichen Rat› in Putnam oder dessen Stärkung durch die Umwandlung in einen ‹Interreligiösen Rat› berichtet.» Es war Turner auch wichtig daran zu erinnern, wie Bürgerinnen und Bürger von Danielson zusammenkamen und gelbe Laken mit Picassos Friedenstaube aufhängten, nachdem die Synagogen-Fenster eingeschlagen worden waren: «Oder wie Gemeindemitglieder beim Aufräumen halfen und dafür sorgten, dass wir in Sicherheit waren, damit wir unsere Gottesdienste zu de Hohen Feiertagen pünktlich abhalten konnten.»
Leuchtfeuer der Güte
Die Grosszügigkeit der Bevölkerung von Danielson bei der Unterstützung des Synagogenbaus spreche ebenfalls gegen die Kritiker, die Hass und Diskriminierung in den Vordergrund stellten: «Ich bin dankbar, über 50 Jahre in dieser Gegend gelebt und meine Kinder hier grossgezogen zu haben. Ich habe die tiefe Freundschaft der gesamten Gemeinde erfahren dürfen.»
An diesem Gottesdienst nahmen Laien besonders zahlreich teil. Zum 70. Jahrestag erwies sich die Feier als Leuchtfeuer der Güte, das durch die guten Seelen hindurchstrahlte, die einander im Kampf gegen Hass und im Streben nach dem Guten beistanden. So besteht für mich kein Zweifel: Der universelle Geist der Dankbarkeit ist in Connecticut gesund und munter.
Jerome Fischer war über Jahrzehnte Geschäftsführer des Dachverbandes Jewish Federation of Eastern Connecticut und ist an der Produktion von Dokumentarfilmen etwa über jüdische Bauern der Region («Harvesting Stones») oder die aus Hannover stammende Holocaustüberlebende Henny Simon («Henny, the Movie») engagiert.