Nach mühevollen Jahrzehnten haben Überlebende und Verbündete aus Politik und Gesellschaft im tschechischen Lety u Písku endlich eine Gedenkstätte für Sinti und Roma zuwege gebracht – Opfer des NS-Regimes im «Protektorat Böhmen und Mähren».
Die jungen Bäume auf der Hügelfläche oberhalb der Landstrasse 19 von Lety u Písku nach Tabor stammen von Karel Schwarzenberg, dem 2023 verstorbenen Aussenminister Tschechiens. Burg Orlik, seit 1717 der Sitz des alten Adelshauses, liegt wenige Kilometer nordöstlich des Geländes. Dort wachsen 80 Kilometer südwestlich von Prag die Schwarzenbergschen Bäume nun als lebendiger Teil von «Lety u Písku. Gedenkstätte für den Holocaust an den Roma und Sinti in Böhmen». Denn hier haben die deutschen Besatzer und tschechische Kollaborateure vom August 1940 an im «Zigeunerlager Lety» Sinti und Roma aus dem damaligen «Reichsprotektorat Böhmen und Mähren» inhaftiert und ab Dezember 1942 in ihren Tod nach Auschwitz deportiert. Der letzte «Transport» ging Mitte Mai 1943 ab. Von insgesamt 1308 internierten Sinti und Roma sind bereits in Lety mindestens 326 Menschen aufgrund der brutalen Bedingungen gestorben, darunter vor allem Kinder. Das Lager wurde im Herbst 1943 geschlossen und die Baracken abgerissen.
Die Bäume geben Auskunft über die Geschichte des KZ. Denn dieses geht auf eine tschechische Initiative zurück. Noch vor dem Einmarsch der Deutschen im März 1939 hatte die Prager Regierung zur Durchsetzung einer gesetzlichen Arbeitspflicht die Einrichtung von Lagern für «Arbeitsscheue» beschlossen. Nachdem ein schwerer Schneesturm im Dezember 1939 die Wälder der Schwarzenbergs verheert hatte, regte die Familie den Bau eines Lagers nahe ihres Besitzes an. Dort sollten Arbeitskräfte für die Beseitigung des Bruchholzes untergebracht werden. Daraus wurde unter deutscher Besatzung im Sommer 1940 ein «Arbeitsstraflager» in Lety, das zur zwangsweisen Unterbringung «notorischer Nichtstuer» und dann auch «umherziehender Zigeuner» diente. Damit schufen die Nazi-Besatzer Hand in Hand mit einer weiterhin tschechischen Bürokratie die Infrastruktur für den späteren Völkermord an den in Lety und im mährischen Hodonín u Kunštátu zusammen getriebenen Sinti und Roma. Diese Verflechtung stand einer historischen Aufarbeitung dieses Verbrechens lange im Wege. Doch dafür gab es weitere Gründe.
Gemeinschaftliches Unterfangen
So führt ein langer, gewundener Weg vom Kriegsende bis zu der Feier am 11. Mai. An diesem sonnigen Sonntag trafen Nachkommen der Opfer, Diplomaten aus Europa und den USA sowie Vertreter von Politik und Gesellschaft Tschechiens zusammen, um der Befreiung Europas vom Nazi-Terror vor 80 Jahren und der hier in Lety begangenen Verbrechen zu gedenken. Darunter waren Persönlichkeiten wie Gwendolyn Albert oder der inzwischen pensionierte Diplomat Antonín Hradílek. Dieser hat als Holocaust-Beauftragter der tschechischen Regierung ebenso zum Bau des Memorials beigetragen wie die aus den USA stammende Menschenrechtlerin. Denn das Projekt war ein ebenso langwieriges wie gemeinschaftliches Unterfangen.
Die Gedenkfeier für den letzten «Transport» von Lety nach Auschwitz vor 82 Jahren fand einige hundert Meter neben dem neuen Memorial an einer von Eichen überschatteten Lichtung statt. Hier hatten Forscher ein Massengrab der Opfer im Lager entdeckt. An diese erinnern ein grosses, schlichtes Holzkreuz und das 1995 auf Anregung des damaligen Staatspräsidenten Vaclav Havel geschaffene Denkmal des Bildhauers Zdeněk Hůla. Das Monument aus einem aufgespaltenen Basaltblock ruft die Zerstörung und Versprengung der Sinti und Roma ins Bewusstsein. Hier stand an diesem Nachmittag Jana Kokyová, als Vorsitzende des «Komitees für die Entschädigung des Roma-Holocaust» (VPORH) Gastgeberin der Veranstaltung. Ihre Vorfahren gehörten nach Stationen in Lety, Auschwitz, Buchenwald und anderen Lagern zu den wenigen Überlebenden des Nazi-Genozids an ihrem Volk. Ganz in Schwarz gekleidet, schüttelte Kokyová die Hände einer langen Reihe von Gästen, die am Gedenkstein Kränze niederlegten und sich vor den Opfern verbeugten. Mit dabei war der tschechische Oberrabbiner Karol Sidon.
Offene Ressentiments
In ihrer Rede nannte Kokyová die Stätte anschliessend ein «Symbol des Leidens, der Schmerzen, der Ungerechtigkeit und unmenschlichen Taten an einer Gruppe von Menschen, denen schlicht aufgrund ihrer Herkunft Würde und Rechte genommen worden sind». Sie verurteilte Politiker, die heute erneut «all unsere Probleme vor die Füsse der Roma, von Migranten oder Ukrainern legen», sah aber auch einen Schimmer von Hoffnung – einen Erfolg von Beharrlichkeit gegen Widerstände und Hürden. Die erscheinen im Nachhinein als geradezu obszön. Denn zwischen den Bäumen Schwarzenbergs ragen die Ruinen von zwei grossen Schweineställen aus Backstein, die das sozialistische Regime in Tschechien um 1970 auf dem vormaligen Lagergelände bauen liess. Daher galt es für den Bau des Memorials nicht allein weiterhin vorhandene Ressentiments gegen «Zigeuner» zu überwinden.
Dazu kam, dass die Wachen Tschechen gewesen waren: In der Nachkriegszeit ein Tabu-Thema, das nie juristisch aufgearbeitet wurde. Das erklärte beim Gespräch an der Feier Radovan Krhovský, Direktor der Gedenkstätte für das Lager im mährischen Hodonín u Kunštátu, wo Sinti und Roma aus dieser Region interniert und dann nach Auschwitz deportiert worden waren. Krhovský betonte jedoch, lokale Widerstände seien auch pragmatischer motiviert gewesen: «Bei uns gab es am vormaligen Lagergelände einen Teich und nach 1945 nutzte die Regierung die Baracken als Ferienlager – dort sprachen Experten zumindest in den ersten Nachkriegsjahren auch über das KZ und die Vernichtung der Sinti und Roma.» Aber erst als der Staat ein öffentliches Freibad am Ort errichtete, unterstützten Einwohner nach dem Ende der sozialistischen Ära das Memorial. In Lety sei es dagegen primär um die Arbeitsplätze in der Schweinemast gegangen, die rund 20 Ställe umfasste, so Krhovský.
Eigentlich begann das Ringen um eine Gedenkstätte in Lety schon in der frühen Nachkriegszeit. Überlebende und Rückkehrende aus den Vernichtungslagern forderten den Bau eines Mahnmals an diesem Ort. Ab 1970 begann der Historiker Ctibor Nečas mit Publikationen über die Verfolgung von Roma und Sinti unter dem Protektorat. Er arbeitete bald mit Überlebenden zusammen. 1981 publizierte der 2017 verstorbene Nečas als Professor an der Masaryk-Universität in Brno (Brünn) eine grundlegende Studie, die 1999 unter dem Titel «The Holocaust of Czech Roma» auf Englisch erschienen ist. Anlass dazu war die Konferenz «Fenomén Holocaust», die das Büro von Präsident Vaclav Havel zuvor ausgerichtet hatte. Und dort hatte sich der junge Mitarbeiter Tomáš Jelínek besonders dafür eingesetzt, dass die Verfolgung von Sinti und Roma auf die Tagesordnung kam. Später Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Prag, hatte Jelínek seit längerer Zeit gute Kontakte zu Roma-Aktivisten entwickelt und diese zu offiziellen und Gedenkfeiern jüdischer Organisationen eingeladen.
Überlebende Roma und deren Nachkommen hatten den Zusammenbruch des sozialistischen Regimes 1991 zur Gründung des «Museum of Romani Culture» in Brno genutzt. Daran war das eingangs erwähnte, von Čeněk Růžička geleitete «Komitee für die Entschädigung des Roma-Holocaust» beteiligt. Der 1946 geborene Sohn von Überlebenden wurden zur zentralen Figur auf Seite der Opfer und ihrer Nachkommen im Ringen um eine Gedenkstätte in Lety. Die Aktivisten gingen nach der Prager Holocaust-Konferenz vor Gericht und erstatteten Strafanzeige gegen Unbekannt wegen des Völkermordes unter dem «Protektorat». Daraufhin machten tschechische Behörden den letzten noch lebenden Aufseher in Lety ausfindig. Dieser verstarb jedoch während der Ermittlungen. So wurde das Verfahren ergebnislos eingestellt.
Völkermord an den Roma
Aber immerhin war das Thema endgültig in der tschechischen Öffentlichkeit angekommen. Das VPORH nahm zusammen mit Helferinnen und Helfern wie Gwendolyn Albert eine rege Tätigkeit mit Forschungen, Seminaren und öffentlichen Veranstaltungen für die Anliegen der Roma auf – darunter auch ein jährlicher Gedenkanlass im Dunstkreis der Schweinemast in Lety. Zusammen mit Druck aus dem Ausland wurde die Prager Regierung dadurch zur Bildung einer Untersuchungskommission über den Völkermord an den Roma bewegt.
Obwohl die tschechische Politik allmählich Sympathien für die Einrichtung eines Mahnmals entwickelte, lag das Thema bei der Regierung dennoch lange auf Eis – bis zu einem Eklat im September 2016. Damals erklärte der damalige Finanzminister und spätere Premier Andrej Babiš bei einem Besuch im nordböhmischen Varnsdorf, das Lager in Lety sei keineswegs ein KZ gewesen. Dort seien lediglich «Arbeitsscheue» gelandet. Varnsdorf ist Heimat einer grossen Romagemeinde, und Babiš hatte Spannungen zwischen Roma und anderen Bürgern dort zum Anlass für seine Äusserungen genommen. Daraufhin setzte ein solcher Proteststurm ein, das Babiš und der damalige Premier Bohuslav Sobotka 2017 den Forderungen nach dem Ankauf des ehemaligen Lagergeländes und dem Bau eines Mahnmals nachgaben. Prag brachte 18 Millionen Euro für den Erwerb auf und liess die Gebäude der Schweinefarm bis 2022 weitgehend abreissen.
Praktische Aufarbeitung
Offen blieben die Finanzierung und Führung einer Gedenkstätte. Hier kam Antonín Hradílek ins Spiel. Er war an der tschechischen Botschaft in Washington um die Jahrtausendwende bei den internationalen Verhandlungen über NS-Zwangsarbeit beteiligt gewesen. Die Verfolgung der Sinti und Roma im «Protektorat» war ihm selbstverständlich bekannt. Anfang 2016 wurde Hradílek «Sonderbotschafter für den Holocaust», damit Vertreter Prags an der «International Holocaust Remembrance Alliance» (IHRA) und auch zuständig für «die Bekämpfung von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit» inklusive der Ressentiments gegenüber Sinti und Roma. Der Dissident und studierte Krebsmediziner hatte lange in Kanada gelebt und war nach 1991 in das diplomatische Korps eingetreten. Er hielt eine gründliche Aufarbeitung der Nazi-Ära, aber auch der tschechischen Geschichte unter dem Nachkriegssozialismus für notwendig: Nur eine offene Diskussion und Forschung zur eigenen Geschichte könne Grundlage einer neuen, demokratischen Gesellschaft im Lande sein. So war Hradílek 2016 entschlossen, sein neues Amt nicht zuletzt für eine praktische Aufarbeitung der tschechischen Vergangenheit zu nutzen: «Die Schweine in Lety mussten weg!»
Dafür wurden tschechische Diplomaten wie Hradílek in Berlin fündig, aber auch in Norwegen. Die Bundesrepublik steuerte 100 000 Euro für eine Ausstellung bei. Eine Million Euro für die Gestaltung des Mahnmals kamen aus den Zahlungen Norwegens an die EU für die Partizipation im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Oslo finanziert das Anliegen nicht allein mit, sondern hat Roma und andere Beteiligte aus Tschechien zur Besichtigung des Mahnmals auf der Insel Utoya eingeladen, dem Schauplatz des 2011 von dem Rechtsradikalen Anders Behring Breivik angerichteten Massakers mit 69 Todesopfern. Dazu kamen Mittel von der IHRA für die Entwicklung eines Ausstellungskonzepts. So konnte 2019 endlich ein internationaler Architekturwettbewerb für die Gedenkstätte beginnen, die vom «Museum of Romani Culture» betrieben wird. Das Museum verwaltet unter Leitung von Jana Horváthová zudem die bereits existierende Gedenkstätte für das NS-«Zigeunerlager II» in Hodonín u Kunštátu.
Referenz an das Leiden
Der erste Preis des Wettbewerbs ging an einen Entwurf des Prager Architekturbüros Ateliér Terra Florida und der slowakischen Firma Ateliér Světlík. Offiziell eröffnet wurde die Gedenkstätte vor einem Jahr. Beim Augenschein im Mai fiel zunächst die lange, etwa vier Meter hohe Betonmauer am unteren Ende der Anlage auf, durch die ein rechteckiger Eingang den Blick auf die eigentliche Gedenkstätte freigibt. Wenige Schritte hinter der schroffen Mauer steht eine Bronzebüste von Čeněk Růžička auf einem Sockel – eine Referenz an das Leiden der hier internierten Sinti und Roma, aber auch an die Beharrlichkeit ihrer Nachkommen. Der Aktivist ist 2022 verstorben und hat die Eröffnung des Memorials im April 2024 nicht mehr erlebt. Aber bei dem Gedächtnisanlass gingen alte Weggefährten und jüngere Verwandte zielstrebig auf sein Denkmal zu, legten die Arme um Růžičkas Schultern oder streichelten sein Haupt. Rechts davon steht ein kleines Museum, das bei Ausgrabungsarbeiten gesicherte Habseligkeiten der Opfer, Dokumente und Bilder ihrer Existenz in Tschechien sowie interaktiv abrufbare Aussagen von Zeitzeugen und Nachkommen der Opfer bietet.
Kreis der Erinnerung
Den Hang hinauf ragen die Ruinen zweier Schweineställe, die allmählich von den Schwarzenbergschen Bäumen umwachsen und überragt werden sollen. Der Adelige hat damit den Anteil seines Hauses an der Geschichte des Orts festgehalten. Frei von Baumbewuchs soll der «Kreis der Erinnerung» am oberen Ende des Geländes bleiben. Als Teil eines «Pfades der Erinnerung» durch das Memorial hinüber zum Monument für das Massengrab (https://letypamatnik.cz/en/outdoor-permanent-exhibition/) umgibt ein Plattenweg eine Wiese mit Wildblumen, den Standort der 1943 abgerissenen Lagerbaracken. In die Platten eingelassen sind schmale Metallstreifen, die Namen der Internierten und ihre Geburts- und Todesdaten tragen. Es bleibt Besuchern überlassen, diese und die gesamte Anlage auf sich wirken zu lassen. Selbst wer es stossend findet, dass die Namen der Opfer «mit Füssen getreten» werden könnten, macht aus Geschichte eine lebendige Erinnerung. In diesem Sinn wirkt das Memorial gerade durch die Schlichtheit und Stille des Orts ausserordentlich gelungen.
Bemerkenswert bleibt letztlich die Rolle der Bundesrepublik. Berlin hat 2016 «humanitäre Zahlungen» von 2500 Euro an überlebende Sinti und später bescheidene Beiträge für das Memorial geleistet. An dem Anlass legte ein Vertreter der deutschen Botschaft in Prag einen Kranz nieder. Im Gegensatz zum Vertreter der USA, die an diesem Ort ausser ihrer Rolle als Befreier Europas 1945 keine erkennbare Rolle gespielt haben, hielt der Diplomat aus Berlin jedoch keine Rede. So stand hier die Auseinandersetzung der tschechischen Gesellschaft mit ihrer Geschichte im Vordergrund. Die deutsche Rolle kann darüber nicht vergessen werden. Aber wie Radovan Krhovský an diesem Nachmittag bemerkte, läuft in Tschechien ohnehin eine Aufarbeitung mit der eigenen Historie, die etwa die vormals von Deutschen besiedelten Grenzregionen umfasst: Dort haben die Flucht und Vertreibung der «Volksdeutschen» bei Kriegsende ein Wissensdefizit hinterlassen, das erst allmählich durch Hobbyhistoriker und Akademiker gefüllt wird.
Andreas Mink ist US-Korrespondent der JM Jüdische Medien AG und lebt in Connecticut.