Fokus 06. Okt 2025

Demokratie im Stresstest

Der Bürgerrechtler Albert Fox Cahn über Zensur, Datenerfassung und autoritäre Tendenzen in den USA.

Aufbau | Sie sind Jurist mit einem Abschluss an der Harvard Law School und setzen sich als Gründer und Geschäftsführer des Surveillance Technology Oversight Project (S.T.O.P.) für das Recht auf Privatsphäre gegen die Überwachung durch Behörden und Unternehmen in den USA ein. Sie haben erwähnt, dass die Auseinandersetzung mit Hannah Arendt Sie dabei beeinflusst hat.
Albert Fox Cahn | Hannah Arendt und ihr Werk waren immer sehr wichtig für mich. Nicht als jüdischer New Yorker oder Mann mit Interesse für Philosophie, einfach nur als Mensch, der die Schrecken in unserer Welt zu verstehen sucht. Ich bin in meinem zweiten Studienjahr auf Arendts Schriften gestossen. Ihre Suche nach Antworten darauf, wie Menschen zur Verübung von Schreckenstaten kommen, war sehr hilfreich für meine Auseinandersetzung mit den Hintergründen von 9/11 und der Reaktion der Bush-Regierung darauf, also die Einschränkung von Bürgerrechten und die Invasionen in Afghanistan und im Irak im Namen eines «Krieges gegen den Terror». Arendts Arbeit hat eine zeitlose Bedeutung für jeden Menschen, der nach den Beweggründen von Menschen sucht, ihresgleichen Schaden zuzufügen.


Aufbau | Nun hat die Trump-Regierung, angefangen mit dem kurzlebigen Department of Government Efficiency (DOGE) unter Leitung von Elon Musk, bei der Verletzung von Bürgerrechten und der Privatsphäre um etliche Gänge höher geschaltet. Seit der Ermordung des christlich-nationalistischen Aktivisten Charlie Kirk am 10. September unternehmen Behörden und die MAGA-Bewegung ein Kesseltreiben gegen angebliche Staatsfeinde. Vize-Präsident JD Vance ruft die Bevölkerung dazu auf, Menschen, die Kirk kritisiert hatten, zu denunzieren. Gleichzeitig hat der Sender ABC den Late-Night-Moderator Jimmy Kimmel aufgrund von Äusserungen über Kirk vorübergehend suspendiert. Insgesamt scheinen Grundrechte und Freiheiten stärker unter Druck als kaum jemals in der amerikanischen Geschichte.
Albert Fox Cahn | Ich bin in New York mit Erzählungen von Nachbarn und Freunden der Familie aufgewachsen, die in der McCarthy-Ära der 1950er Jahre auf die «schwarze Liste» gesetzt wurden und ihre Jobs und Existenz verloren. Dieses dunkle Kapitel unserer Geschichte wirkt bis heute nach. Amerika erlebt erneut einen Test für die Widerstandsfähigkeit unserer Demokratie in einer offenen Gesellschaft. Als Bürgerrechtsaktivist muss ich ehrlich sagen, dass es offen bleibt, ob die amerikanische Demokratie diesen Moment überstehen wird. Die Tatsache, dass dieser schreckliche Akt politischer Gewalt gegen Charlie Kirk als Vorwand für eine breit angelegte Zensur genutzt wird, ist zutiefst beunruhigend. Dieses Vorgehen untergräbt Grundrechte unserer Demokratie. In einer robusten demokratischen Gesellschaft sollte es Ansichten geben dürfen, mit denen wir nicht einverstanden sind und die wir als verletzend empfinden. Und zwar ohne diese Art von Vergeltungsmassnahmen, die wir jetzt sehen.


Aufbau | Für uns ist es interessant zu wissen, welche Tools und Technologien eingesetzt werden – und auch wer die konkreten Akteure dabei sind.
Albert Fox Cahn | Bei Überwachung geht es stets um Technologie. Hier haben die immensen technischen Veränderungen die Art der von Behörden gesammelten Daten nicht grundlegend verändert. Aber der technische Fortschritt hat die Kosten drastisch gesenkt. Während der Bürgerrechtsära der 1960er Jahre haben FBI-Agenten Protagonisten wie Martin Luther King, Jr. beschattet. Sie verfolgten jedes seiner Telefongespräche. Sie «verwanzten» seine Zimmer mit Abhörmikrofonen. Sie sammelten all diese Daten. Aber das war unglaublich aufwendig an Personal und Zeit. Im Zeitalter von KI lässt sich Überwachung auf unzählige Aktivisten über Führungspersönlichkeiten hinaus erweitern. Genau das erleben wir jetzt.
Staatliche Stellen wie die Immigrationsbehörde «Immigration and Customs Enforcement» (ICE) und der Grenzschutz «Customs and Border Protection» setzen eine Vielzahl von Tools auch dazu ein, um die sozialen Medien von Studierenden und Immigranten, einschliesslich legaler Einwanderer und eingebürgerter Staatsbürger mit ständigem Wohnsitz, aggressiv zu überwachen und ihnen bei missliebigen Äusserungen mit Vergeltungsmassnahmen zu drohen.


Aufbau | Was wir heute erleben, hat also eine lange Vorgeschichte?
Albert Fox Cahn | Staatliche Bürokratien haben über Jahrzehnte eine ganze Infrastruktur an Überwachungsprogrammen aufgebaut. Hand in Hand dazu entwickelten Unternehmen einen «Überwachungskapitalismus». Darunter sind Anbieter mit den Kapazitäten zu verstehen, enorm invasive Dossiers über öffentliche Aussagen von Personen zu erstellen. Diese Firmen gehen Behörden zur Hand. Das geht so weit, die Inhaber von Social-Media-Konten aufzuspüren und zu identifizieren, die anonym sind oder nicht öffentlich identifiziert werden wollen. Ich befürchte auch, dass sich viele Leute aus Angst vor staatlichen Vergeltungsmassnahmen und Missbrauch selbst zensieren, insbesondere in den schwächsten Bevölkerungsgruppen wie Immigranten. Und das schon für so etwas Albernes wie einen Witz.


Aufbau | Was wissen wir über interne Abläufe? Welche Firmen sind da besonders wichtig? Da fällt stets der Name Palantir. Das 2003 von Peter Thiel gegründete Unternehmen hat bereits über längere Zeit für ICE gearbeitet und wurde im April mit der Schaffung eines «Immigration Lifecycle Operating System (Immigra-tionOS)» zur Überwachung von Immigranten beauftragt. Das Programm soll dieser Tage aktiviert werden.
Albert Fox Cahn | Palantir ist eines der bekanntesten Unternehmen in diesem Bereich und darauf spezialisiert, bereits bei Behörden und Unternehmen existierende Datenbanken zusammenzuführen und zu erschliessen. Also über verschiedene Plattformen hinweg. Das macht Palantir einzigartig. Aber wir wissen, dass eine Reihe von Tools speziell zur direkten Überwachung von Social-Media-Inhalten entwickelt worden sind. So wurde eine grosse Anzahl von Fake Accounts zur Verfolgung von Leuten geschaffen, die keine Informationen über sich selbst öffentlich machen wollten. Die Stadt Memphis, Tennessee, hat beispielsweise nach 2018 Fake Accounts verwendet, um Black-Lives-Matter-Demonstranten zu erfassen, in deren Foren einzudringen und so mehr über deren Zusammensetzung und Pläne zu erfahren. Diese Anwendungen sind in vielen Städten und Bundesstaaten gut dokumentiert.


Aufbau | Welche Unternehmen sind auf diesem Gebiet tätig?
Albert Fox Cahn | Dataminr ist dabei eine wichtige Firma, aber auch Cobwebs und Babel Street, Dragon1 und Voyager Analytics. Dutzende dieser Firmen liefern Portale an Polizeibehörden, mit denen Beamte bestimmte Personen oder Social-Media-Posts tracken, aber auch versuchen können, einen Gesamtüberblick über alle Posts zu einem bestimmten Thema zu erhalten. So sind Überprüfungen einer Vielzahl von Personen zu einem bestimmten Thema wie Jimmy Kimmel möglich – also, ob Individuen ihn verteidigen oder ablehnen. Es gibt nicht viel öffentliche Transparenz darüber, wie diese Firmen genau operieren und wie sie Daten für verschiedene Behörden aufbereiten. Aber wir wissen auch, dass Firmen wie Geopedia sehr aktiv bei der Sammlung von Standortdaten sind. Diese Informationen werden genutzt, um politische Proteste auf Social Media zu überwachen.


Aufbau | Erhält Palantir nun Zugriff auf sämtliche Daten bei US-Behörden, um eine zentrale Erfassung und Auswertung dieser Informationen aufzubauen?
Albert Fox Cahn | Nun, das ist seit längerem eine grosse Befürchtung von Bürgerrechtlern. Und Palantir dürfte dabei schon recht weit vorangeschritten sein. Aber uns fehlt eben auch ausreichende Transparenz darüber, welche Daten Palantir hat und wie diese verwendet werden. Potentiell ist das schon deshalb so gefährlich, weil ICE-Agenten in Grossstädten, aber auch landesweit gegen mutmassliche undokumentierte Migranten vorgehen und dabei auch Menschen mit Aufenthaltsgenehmigungen aufgreifen, die also unter gesetzlichem Schutz stehen. Obendrein verlangen Bundesgesetze seit der ersten Amtszeit von Trump von allen Visum- und Greencard-Inhabern die Angabe sämtlicher Social-Media-Konten. Das bedeutet, dass viele dieser Personen ihre Daten bereits an ICE weitergegeben haben, wo sie dann über Tools von Palantir zusammengeführt und analysiert werden können. Viele Neubürger wurden in der Vergangenheit gezwungen, diese Daten an Behörden auszuliefern. Ich befürchte daher, dass dies ein weiterer Weg ist, eine zweistufige Staatsbürgerschaft zu schaffen. Und damit gegen eines der Grundversprechen der amerikanischen Demokratie zu verstossen.


Aufbau | Gleicher Schutz vor dem Gesetz.
Albert Fox Cahn | Genau. Wie in der Staatsbürgerschaftsklausel des 14. Zusatzartikels der Verfassung verankert.


Aufbau | Nicht jeder Mensch ist auf sozialen Medien aktiv. Aber fast alle nutzen E-Mail, haben eine Kreditkarte, schreiben SMS oder machen Telefonate. Werden diese Daten nicht auch schon längst durch Behörden wie die National Security Agency (NSA) oder den für Kreditkarten zuständigen Secret Service gesammelt?
Albert Fox Cahn | Ja. Wir hatten in den letzten Jahrzehnten ständig das Risiko, dass der massive, nach 9-11 im Namen der Bekämpfung des ausländischen Terrorismus aufgebaute Überwachungsapparat zu Massnahmen gegen inländische Opposition benutzt wird. Darüber hinaus stehen Strafverfolgungsbehörden viele weitere Werkzeuge zur Verfügung. Sie können beispielsweise unsere Handy-Standortdaten abrufen oder mithilfe von «Geofence»-Haftbefehlen unseren Standort über verschiedene Apps und Dienste auf unseren Handys verfolgen. Da gibt es ein scheinbar endloses Meer an Werkzeugen. Aber die Überwachung sozialer Medien wird in Zeiten zunehmender ideologischer Zensur so gefährlich, weil diese eben immer wichtiger als Plattformen für Menschen werden, ihre politischen Ansichten auszudrücken und die Gesellschaft zu beeinflussen.


Aufbau | Das hat nach der Jahrtausendwende mit dem Wahlkampf der Demokraten Howard Dean und dann von Barack Obama begonnen. Social Media wurden zu Schlüsselinstrumenten für politische Organisation und Basisarbeit. So greift deren Überwachung also wirklich an die Wurzeln moderner, politischer Arbeit?
Albert Fox Cahn | Die meisten Leute haben nicht zu befürchten, dass ihre Fernsehsendungen abgesetzt werden. Viele Menschen müssen sich jedoch Sorgen über staatliche Sanktionen aufgrund ihrer Social-Media-Beiträge machen. Natürlich erleben wir weiterhin grosse Massenmobilisierungen, bei denen Menschen auf die Strasse gehen und ihre Meinung öffentlich äussern. Wir wissen jedoch, dass eben diese Versammlungen extremer Überwachung ausgesetzt sind. Eingesetzt werden dabei verdeckte Ermittler, Drohnen und eine massive Erfassung auch von Daten zu Körpern, angefangen bei Gesichtserkennung nicht zuletzt durch eine zunehmende Zahl von Überwachungskameras im öffentlichen Raum. Dazu kommt die Bewegungserkennung – also die Identifizierung von Individuen anhand deren Gang – als eine neue Bedrohungen. Es gibt auch Tattoo-Erkennung und andere Methoden, die nach weiteren körperlichen Erkennungsmerkmalen oder einer bestimmten Kleidung suchen.


Aufbau | Also eine Erfassung und Identifizierung über Gesichtern hinaus. Es geht im Grunde um den gesamten Körper.
Albert Fox Cahn | Wir wissen von der Entwicklung von Technologien, um Menschen anhand ihrer Körpersprache und von Körperteilen automatisch zu identifizieren. Dazu zählt die Analyse von «Mikroexpressions», also der Mimik angefangen bei Augenzwinkern, die rechtlich überaus fragwürdig ist. Ein Grund dafür ist, dass sie tendenziell sehr voreingenommen ist und sich gegen neurodivergente Menschen richtet. Im Gegensatz dazu versucht die Gait-Detection-Software Menschen einfach anhand ihrer Bewegungsmuster zu überwachen.


Aufbau | An Überwachungstechnik und der Entschlossenheit zu deren extensiven Anwendung besteht in den USA also kein Mangel. Wohin könnte das noch führen?
Albert Fox Cahn | Theoretisch stehen Behörden bereits endlose Möglichkeiten zur Verfügung, all die Daten, die wir in unsere verschiedenen Geräte, bei Technologieunternehmen, soziale Medien und in das Finanzsystem einspeisen, als Instrumente für eine staatliche Überwachung einzusetzen. Dies könnte zur Umsetzung von Prioritäten dieses Präsidenten wie der Abschaffung einer geschlechtergerechten Gesundheitsversorgung und des Zugangs zu Abtreibungen dienen, aber auch Menschen ohne Aufenthaltspapiere oder Demonstranten und ideologische Gegner treffen. Wir haben ein System mit so viel Macht und so wenig Kontrolle geschaffen. Und nun erleben wir eine Präsidentschaft und eine Regierung, die bereit sind, die Schwächen und die geballte Macht dieser Techniken und Bürokratien als Waffe einzusetzen.


Aufbau | Das klingt sehr erschreckend.
Albert Fox Cahn | Ich weiss, dass Kollegen bei Bürgerrechtsorganisationen persönliche Vergeltungsmassnahmen befürchten und über eine Auswanderung nachdenken. Gleichzeitig glaube ich aber auch, dass wir Trump und sein Kabinett nicht als einheitlicher und disziplinierter darstellen sollten, als sie es tatsächlich sind. In dieser Regierung dürften sehr wohl Leute am Werk sein, die eine Zentralisierung der Datenerfassung betreiben und die verschiedenen Behörden zur Verfügung stehenden Datenbanken in Waffen verwandeln wollen. Aber insgesamt wirkt dieses Geschehen immer noch eher willkürlich. Verschiedene Behörden sammeln Daten über verschiedene Leute mit unterschiedlichen Absichten und manchmal mit gegensätzlichen Zielen. Zum Glück sind wir noch nicht an einem Punkt angelangt, an dem die Regierung sämtliche Instrumente ihres Arsenals kohärent gegen ihre «Feinde» einsetzt. Diese Regierung bleibt weitaus effektiver darin, Narrative zu gestalten und Empörung zu schüren, als tatsächlich Politik umzusetzen.


Aufbau | Aber was halten Sie in diesem Zusammenhang von den Vergleichen zwischen der Instrumentalisierung der Ermordung von Charlie Kirk zu der Art und Weise, mit der die Nazis den bis heute ungeklärten Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 ausgenutzt haben, um ihre Diktatur zu errichten? Diese Vergleiche haben derzeit Konjunktur.
Albert Fox Cahn | Ich war jüngst in Berlin, habe den Reichstag besichtigt und darüber nachgedacht, wie Demokratien untergehen können. Dass Autokraten Verbrechen wie die Ermordung von Charlie Kirk als Legitimation zum Vorgehen gegen Andersdenkende nutzen, hat eine lange Geschichte. Aber da müssen wir nicht ins Ausland schauen, um solche Beispiele zu finden. Wir haben in der amerikanischen Geschichte so viele Beispiele dafür gesehen. Ob es nun die enorme Zahl der Menschen ist, die aufgrund der Gesetze gegen «Spionage und Aufruhr» am Ende des Ersten Weltkriegs inhaftiert wurden, oder eben die Opfer des McCarthyismus während des Kalten Krieges.
Die Idee eines lebendigen Austausches von Ideen, der wirklich alle Formen von Dissens schützt, ist eine der Grundlagen der amerikanischen Demokratie, wird aber in der Praxis oft nicht verwirklicht. Dennoch halte ich die Annahme für verfrüht, dass die Dinge wirklich in diese Richtung laufen werden. Schliesslich geht der Präsident meines Erachtens bei der Instrumentalisierung der Kirk-Ermordung ziemlich plump vor. Ein klügerer Despot hätte geschmeidiger agiert und Bürger nicht derart gegen sich aufgebracht.


Aufbau | Die Entlassung von Jimmy Kimmel durch ABC hat grosse Empörung ausgelöst – und wurde von dem Sender Tage später zurückgenommen.
Albert Fox Cahn | Trump geht eben sehr grobschlächtig vor. Die Folgen des Reichstagsbrandes waren nicht deshalb so katastrophal für die deutsche Demokratie, weil er den Nazis einen Vorwand für die «Gleichschaltung» von Behörden und Gesellschaft lieferte – sondern deshalb, weil das Regime dabei eine starke Unterstützung der Bevölkerung genoss. Und ich glaube einfach nicht, dass es der amerikanischen Öffentlichkeit gefällt, wenn Komiker angegriffen werden.Das Surveillance Technology Oversight Project (S.T.O.P.) im Internet: https://www.stopspying.org/Andreas Mink ist US-Korrespondent der JM Jüdische Medien AG und lebt in Connecticut. Er war 1997–2004 Redaktor und zuletzt geschäftsführender Chefredaktor beim «Aufbau» in Manhattan.

Andreas Mink