Der berühmteste Jude der Welt ist einer und doch keiner. Zwischen Mythos, Ideologie und Historie ist Jehoshua von Natareth kaum mehr greifbar. Die blutige Geschichte zwischen Christen und Juden in der Folge der Kreuzigung Christi, Kreuzzüge, Inquisition, christlichen Judenhass bis hin zum Nationalsozialismus verdeckt den jüdischen Blick auf den jüdischen Rabbi und Wanderprediger Jesus sowie auf das Christentum. 60 Jahre nach der bahnbrechenden Erklärung Nostra aetate aus dem Jahre 1965 durch die katholische Kirche ist der christlich konnotierte Judenhass oder zugleich der christliche philosemitische Übergriff auf Juden von allen christlichen Richtungen noch längst nicht vom Tisch. Doch der Massenmord an Juden im Namen Christi ist es weitgehend. Vor Weihnachten richtet die aktuelle Ausgabe den Blick auf den Juden Jesus, den Menschen und jüdischen Denker bzw. Reformer. Von den Juden historisch als Ketzer und falscher Messias verunglimpft und von Christen als Sohn Gottes inszenierte Ikone.
Das Titelbild zeigt «Die Kreuzigung, 1944» von Marc Chagall. Chagall hat Jesus früh als jüdischen Rabbi in seinem Werk integriert und einen dialektischen Blick auf den jüdischen Wanderrabbi thematisiert.
Mit Amy-Jill Levine und Susannah Heschel nähern sich zwei der renommiertesten jüdischen Forscherinnen den Urtexten und Liturgien von Jesus aus einer jüdischen Perspektive und ordnen den Blick auf ihn ein.
Susannah Heschel zeichnet in ihrem grossen Essay nach, wie jüdische Gelehrte seit der Antike immer wieder mit der Gestalt Jesu rangen, ihn verspotteten, neu interpretierten oder als jüdischen Bruder zurückeroberten. Sie beschreibt die ambivalente Faszination für Inkarnation, Trinität und Heilsmythen, die das Judentum zwar zurückweist, die jedoch in rabbinischer Literatur, Kabbala und mystischen Traditionen einen Widerhall finden. Heschel zeigt, wie die Figur Jesus’ für jüdische Denker und Künstler zu einem Spiegel jüdischer Existenz wurde und gegenwärtige politische Bewegungen, ob religiös oder säkular, unbewusst Elemente des Christusmythos reproduzieren, etwa in der moralischen Aufladung der Gaza-Debatte. Ihre Analyse verbindet historische Tiefenschärfe mit einer dezidierten Gegenwartsdiagnose.
Amy-Jill Levine, eine der weltweit bedeutendsten jüdischen Neutestamentlerinnen, zeigt in ihrem Beitrag, wie tief die gegenseitigen Missverständnisse zwischen jüdischer und christlicher Lektüre der Evangelien verankert sind – und wie notwendig ein Blick auf Jesus innerhalb seiner jüdischen Lebenswelt des ersten Jahrhunderts ist. Levine argumentiert gegen sowohl apologetische als auch polemische Verzerrungen und tritt für ein jüdisches Verständnis Jesus’ ein, das den historischen Kontext ernst nimmt und damit neue Räume für den jüdisch-christlichen Dialog öffnet.
Emile Schrijver wiederum legt die tiefen Schichten der jüdischen Auseinandersetzung mit dem Christentum offen – von Maimonides’ scharfer Ablehnung christlicher Heilsansprüche über mittelalterliche Predigten voller Polemik bis zur Judenmission des 19. Jahrhunderts. Er zeigt, wie jüdische Gelehrte sich, oft aus Zwang, manchmal aus intellektueller Notwendigkeit, intensiv mit der christlichen Christologie beschäftigten. Besonders eindrücklich sind seine Beispiele aus der «Iggeret Teman», aus schwedischen Predigten des 15. Jahrhunderts und aus hebräischen Bibelübersetzungen des 19. Jahrhunderts, die das asymmetrische Verhältnis beider Religionen deutlich machen. Schrijver gelangt zur Schlussfolgerung: Ein Judentum kann ohne das Christentum existieren – das Christentum jedoch nicht ohne das Judentum.
Asaf Elia-Shalev beleuchtet die Rolle der «Jews for Jesus» und die neuen, oft problematischen Formen missionarischer Bewegungen; weitere Essays widmen sich historischen, theologischen und künstlerischen Jesusbildern, die das europäische Denken bis heute prägen.
Editorial
11. Dez 2025
Rabbi Jehoshua vs. Jesus
Redaktion