Editorial 06. Okt 2025

Hannah Arendt denken

«Als Schreiberin so stark und standfest wie ein Mann» – so hat «Aufbau»-Chefredaktor Manfred George im Herbst 1941 die damals 35-jährige Hannah Arendt charakterisiert. Der Satz würde heute einen Skandal provozieren, aber seinerzeit war die Philosophin als politische Kolumnistin beim «Aufbau» eine Ausnahme in der gesamten Medienlandschaft ihrer neuen Heimat Amerika. Ein halbes Jahrhundert nach ihrem Tod bleibt Arendt nicht allein im Gespräch – angesichts der Bedrohung freier Gesellschaften und offener Debatten gewinnt die Auseinandersetzung mit ihrem Werk, aber auch ihrer Vita als Jüdin, Denkerin und Exilantin neue Dringlichkeit.

So ist die vorliegende Ausgabe Arendt gewidmet. Wie das Gespräch von Chefredaktor Yves Kugelmann mit Daniel Cohn-Bendit und Michel Friedman zeigt, hat Arendt auch als Person eine bleibende Wirkung hinterlassen. Cohn-Bendits Eltern zählten zu ihrem Freundeskreis und er diskutiert hier auch Arendts Vermächtnis und Haltung zu Israel. Mit Roger Berkowitz entwickelt ein bekennender «Arendtianer» über die Begriffe «Kosmopolitismus» und «Tribalismus» ein für ihr Denken massgebliches Spannungsfeld. Berkowitz ist als Direktor des Hannah Arendt Center am Bard College ein namhafter Experte für die Philosophin und Politologin. Dass Arendts geistiges Vermächtnis jungen Generationen beim Umgang mit einer «harschen Welt» hilft, diskutiert Eve Campbell, die bei Berkowitz studiert hat. Ihre bleibende Inspiration für Literaten ist Thema der Kulturwissenschaftlerin Monica Strauss, während der Datenschützer Albert Fox Cahn im Gespräch mit aufbau-Redaktor Andreas Mink das Engagement Arendts für bürgerliche Freiheiten fortführt.

Yves Kugelmann hat zudem mit dem Historiker Thomas Meyer gesprochen, der 2023 «Hannah Arendt: Die Biografie» vorgelegt hat. Dass der Titel zum Bestseller wurde, liegt nicht allein an exzellenten Rezensionen, sondern ist ein Indiz für den Rang seiner Protagonistin als «globale Ikone». Arendt ist laut Meyer «eben nicht nur Philosophin, sondern auch eine Figur, deren dramatische Biografie die Brüche und Katastrophen des 20. Jahrhunderts widerspiegelt.» Diese Vita wird nicht zuletzt in Arendts zahlreichen, leidenschaftlich gepflegten Briefwechseln greifbar, die Katja Behling darstellt. Andreas Mink und Gabriel Heim tauchen in zwei Kapitel ihrer Biografie ein – die bereits erwähnten Jahre Arendts als «Aufbau»-Kolumnistin und ihr anschliessendes Wirken als Geschäftsführerin der Jewish Cultural Reconstruction (JCR) 1949–52. Die während des Kriegs in New York gegründete Organisation agierte in der amerikanischen Besatzungszone als Treuhänderin der vom NS-Regime geraubten jüdischen Kulturgüter.

Bei ihrem «opus magnum über die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» setzen sich Lutz Fiedler und Elisabeth Gallas mit der «Spannung zwischen Anspruch und Geltungsbereich der Menschenrechte auseinander». Insgesamt wird in dieser Ausgabe eine Vielseitigkeit von praktischer Arbeit für die Erhaltung jüdischer Kultur bis hin zu grundlegenden theoretischen Werken mit bleibender Wirkung wie den «Origins of Totalitarianism» evident. Diese Spannbreite hat Raphael Gross als Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum 2020 mit der Ausstellung «Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert» ausgelotet. Der Historiker greift hier unter dem Aspekt ihrer Urteilskraft auf die Vita und das Erbe der einstigen Philosophiestudentin mit Wurzeln in Königsberg zu.

Redaktion