Editorial 30. Mai 2025

Der Krieg, Juden und Israel

Der barbarische Angriff der Hamas-Terroristen auf Israel am 7. Oktober 2023 hat eine überwältigende Reaktion Israels ausgelöst, die seit dem März eine neue Intensität erreicht. Damit werden gerade in der jüdischen Diaspora Debatten nicht allein über die Kriegsführung der IDF und die von der Netanyahu-Regierung beabsichtigte Entvölkerung des verheerten Küstenstreifens dringender. In den Vordergrund rücken auch grundsätzlichere – und damit vertraute – Fragen wie die Haltung der jüdischen Tradition zu einem Staat. Diese Themen stehen im Mittelpunkt der vorliegenden Ausgabe.

Den Auftakt gibt Peter Beinart, der als Publizist in den USA seit seinem umstrittenen Bestseller «The Crisis of Zionism» von 2012 zu dem vermutlich bekanntesten Kritiker der Politik Israels gegenüber den Palästinensern und zugleich des amerikanisch-jüdischen «Establishments» geworden ist. Beinart hat diese Kritik in seinem neuen Buch «Being Jewish After the Destruction of Gaza. A Reckoning» zugespitzt und diskutiert seine Thesen mit unserem US-Korrespondenten Andreas Mink. Beinart sieht eine «grundlegende Reduktion des Judentums» durch die «Erhebung des Staates zu einem Götzen» und damit eine in den USA auch bei Trump-treuen Christen wachsende Tendenz: «Nationalismus verdrängt das Gefühl einer universellen moralischen Verpflichtung. Aber diese Verpflichtung auf das Wohlergehen aller Menschen ist so offensichtlich ein Grundelement des Christentums wie sie fundamental für das Judentum ist.»

Hier setzt ein Essay des in Israel lebenden Soziologen Natan Sznaider zu dem «Unterschied zwischen dem Jüdischen und dem Israelischen» an. Denn «jüdisches Denken in der Diaspora braucht sich nicht mit Fragen der militärischen Gewaltausübung auseinanderzusetzen» – im Gegensatz zum jüdischen Staat. Dieser habe «selbstverständlich das Recht, sich zu verteidigen – aber nicht das Recht, Kriegsverbrechen zu begehen». Von der Warte eines ehemaligen Talmud-Studenten lotet der Zürcher Psychologe Daniel Strassberg im engeren Sinne religiöse Aspekte dieser Spannung aus und fragt: «Wie steht der Talmud zum heutigen Nationalstaat?» Näher an Beinart fordert der aus der Limmatstadt stammende und in Israel lebende Wirtschaftshistoriker José Brunner die «Sprecher der jüdischen Diaspora» auf, klarzustellen, «dass Israel nicht mehr vorgeben kann, seine Kriegsverbrechen im Namen aller Juden zu begehen».

Von Wien aus geht der Schriftsteller Doron Rabinovici derweil auf die Auswirkung des Gazakriegs auf die Diaspora ein, während Antony Lerman in London in diesem Zusammenhang auch historische Hintergründe für das Verhältnis des britischen Judentums zum Zionismus und Israel aufzeigt. Eher persönlich sind Beiträge der in New Jersey lebenden Autorin Lisa Winkler und der Politologin Diana Pinto. Winkler schildert aus eigener Erfahrung die Sogkraft Israels als Hochburg der Orthodoxie gerade auf amerikanisch-jüdische Familien. Pinto greift zur Poesie als literarischer Form, um die «Pein in meiner Seele und meinem Herz» über die «seit dem 7. Oktober unerträglich polemisch gewordenen jüdischen Debatten um Israel» zu artikulieren. Und Israels Erfolgsschriftsteller Dror Mishani blickt durch eine Kurzgeschichte auf die aktuelle Fragestellung, die er exklusiv für aufbau geschrieben hat.

Bei der Situation in den USA bleiben Monica Strauss und Sharon Brous. Die prominente Rabbinerin aus Los Angeles hat in ihrer Purim-Predigt die «Instrumentalisierung» von Antisemitismus an amerikanischen Universitäten durch die Trump-Regierung angeprangert. Wir drucken den Text hier als wichtiges Zeitdokument ab. Strauss ist gerade als noch im Krieg geborene Tochter von Nazi-Flüchtlingen zutiefst über die Bekämpfung von Judenhass als Vorwand für die Errichtung einer autoritären Herrschaft beunruhigt. Aus Anlass des 150. Geburtstags von Thomas Mann publizieren wir seinen Text über «Briefe an Refugees» in der Rubrik «Aus dem Archiv».

Redaktion